Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
zurück unter den Waggon. Aus dem Schatten heraus beobachtete er die beiden Reiter, die sich schnell aus östlicher Richtung näherten. Die Männer hielten direkt auf die Lok zu, stiegen ab und kletterten auf den Führerstand. Sie grölten abfällig, als sie die Leichen der beiden Lokführer mit einem dumpfen Geräusch neben die Gleise fallen ließen. Offenbar machen es sich die beiden da vorne gemütlich, dachte Maxim. Erleichtert stellte er fest, dass sie nicht nach eventuellen Überlebenden suchten.
„Die Blonde hätte ich gerne mitgenommen. Viel zu schade, sie einfach zu erschießen.“
„Du kannst sie dir ja jetzt noch holen“, erwiderte der andere und lachte lauthals über seinen eigenen Witz. Sein Lachen ging über in einen gurgelnden Hustenanfall, den er mit einem kräftigen Schluck aus seiner Flasche linderte.
Maxim lag unter dem Zug, angewidert von dem Gespräch, das er sich anhören musste. Vielleicht würde er ja einen Hinweis auf die Herkunft der beiden bekommen. Er hätte gern gewusst, wer für den Tod der Reisenden verantwortlich war, auch wenn er mit dieser Information vermutlich nichts anfangen konnte. Doch die beiden Männer taten ihm nicht den Gefallen. Sie versuchten sich vielmehr mit möglichst detaillierten Beschreibungen ihrer vergangenen Schandtaten zu übertreffen. Es dauerte nicht lange, bis sie sich nur noch lallend miteinander unterhielten. Kurz darauf drangen Schnarchgeräusche aus dem Führerstand der Lok. Maxim überlegte, ob er nicht einfach mit ihren beiden Pferden davonreiten könnte.
Er zuckte erschrocken zusammen, als der Verletzte neben ihm flüsterte: „Warte, bis sie eingeschlafen sind. Dann geh hoch und erledige sie.“ Er reichte ihm einen Revolver. Maxim wunderte sich über die klaren Anweisungen, die er von dem bereits Totgeglaubten erhielt.
„Aber … ich dachte, du bist längst tot“, stotterte er.
„Das werde ich ganz gewiss auch sein, wenn du mich hier unten liegen lässt.“
Maxim nahm den Revolver und kroch mit wackligen Knien unter dem Waggon hervor. Obwohl das laute Schnarchen signalisierte, dass die Männer tief und fest schliefen, fürchtete er dennoch, entdeckt zu werden. Die beiden Banditen bemerkten nicht, wie Maxim das Führerhaus betrat, die Waffe direkt auf ihre Köpfe richtete. Er krümmte seinen Finger um den Abzug. Es erinnerte ihn an den kalten Stahl des Maschinengewehrs, das sie in dem Wäldchen bei Osterwick entdeckt hatten. Doch diesmal drückte er nicht ab. Es war etwas völlig anderes, ob man auf eine leere Straße oder den Kopf eines Menschen zielte. Er war noch nicht bereit, das Leben eines Menschen auszulöschen, ganz gleich, wie abscheulich dieser auch sein mochte.
Maxim kroch wieder zurück unter den Waggon, gab dem Mann seine Waffe zurück.
„Was ist los?“
„Ich kann es nicht. Aber die zwei schlafen so tief, dass sie nicht merken, wenn wir mit ihren Pferden abhauen“, entgegnete Maxim.
„Und wie soll ich auf das Pferd kommen, ohne dass einer von ihnen wach wird?“
„Das müssen wir riskieren. Und falls sie doch wach werden, können wir sie immer noch erschießen.“
Sie krochen unter dem Waggon hervor, gingen leise an dem Führerhaus vorbei auf die abseits grasenden Pferde zu. Maxim musste den Mann stützen. Es war viel schwerer als gedacht, ihn auf das Pferd zu bekommen. Das Tier merkte anhand ihrer ungeschickten Bewegungen, dass etwas nicht stimmte. Es fing an zu schnauben und zu wiehern. Maxim rechnete jeden Moment damit, dass die Banditen aufwachten. Wenn er ihnen doch wenigstens die Waffen abgenommen hätte! Doch nichts rührte sich.
Schließlich schafften sie es, den verletzten Mann auf ein Pferd zu hieven. Maxim sprang auf das andere Tier. Mit einem beherzten Tritt in die Flanke preschten sie beide davon. Die ganze Anspannung fiel in diesem Moment von Maxim ab. Er lachte seit Monaten zum ersten Mal wieder.
Sie ließen die Pferde laufen, bis der Zug in der Dunkelheit hinter ihnen verschwand.
Onkel Josha
Sewastopol 1921
Von einer Anhöhe aus konnte er das flache Küstenland weit überblicken – bis hin zum Horizont, wo das Meer im Licht der Abendsonne glitzerte. Schon seit dem Morgen begleitete ihn das Kreischen der Möwen und die Luft schmeckte deutlich salziger als zuvor. Alles Anzeichen, dass es nicht mehr weit sein konnte. Nun lag sie vor ihm. Die Krim. Viel schöner, als er es sich anhand der Erzählungen seiner Mutter ausgemalt hatte. Er bedauerte, dass sie nicht schon viel früher hierher zu Onkel Josha gezogen waren. Noch bevor das ganze Unglück über sie hereingebrochen war.
Josha Beljajew, der Bruder seiner Mutter, lebte in Sewastopol. Er hatte selbst keine Familie und kam deshalb einmal im Jahr zu Besuch, worauf sich Maxim und seine Schwestern immer ganz besonders freuten. Er erinnerte sich gern an die Zeiten, in denen sie mit ihrem Onkel stundenlang herumtollten.
Für einen kurzen Moment vergaß Maxim sogar die Schwermut, die ihn seit seiner Abreise aus Osterwick begleitete. Seine Schwestern fehlten ihm, ebenso wie sein Vater und seine Mutter. Manchmal vermisste er sogar die Bergens, obwohl seine Erinnerungen von dem Gedanken getrübt wurden, dass sein Vater vielleicht noch leben könnte, hätte Willi in seiner Sturheit nicht die Munition versteckt. Wenn Heinrich die Verantwortung für die Tat seiner Frau übernommen hätte … Die Machnowzi hätten bestimmt nicht wahllos in die Menge geschossen. In seine Traurigkeit mischte sich Wut. Wut auf die Tschekisten, die seine Schwestern und seine Mutter mitgenommen hatten, Wut auf die Machnowzi, die seinen Vater getötet hatten, und Wut auf die Deutschen, die zu feige waren, für ihre Taten Verantwortung zu übernehmen. Er ahnte, dass diese Wut ihn den Rest seines Lebens begleiten würde.
Maxim verließ die Schienenstränge kurz vor Cherson. Sein verletzter Begleiter bedankte sich kurz, dann trennten sich ihre Wege. Der Mann würde in Cherson ärztliche Hilfe finden, doch Maxim verspürte keinen Drang, sich ihm anzuschließen. Die Warnungen, nicht weiter in Richtung der Krim zu reiten, schlug er in den Wind. Vielleicht zu Unrecht, dachte er nun angesichts der Menschen, die sich zu Hunderten, vielleicht sogar zu Tausenden in Richtung der engen Passage drängten, die das Festland mit der Halbinsel verband. Manche ließen ihre voll bepackten Wagen von einem mageren Ochsen ziehen, doch die meisten trugen ihr Hab und Gut auf den Schultern oder zogen die hölzernen Karren von Hand. Sie flohen aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee, hofften, irgendwo auf der Halbinsel Schutz zu finden.
Auf der Krim befand sich das Hauptquartier von General Wrangel. Hierhin hatte sich der verbliebene Rest der Weißen Armee zurückgezogen, um sich auf die letzte Schlacht vorzubereiten. Die Menschen hofften, dass es General Wrangel doch noch gelingen würde, das Vorrücken der Roten Armee aufzuhalten. Nicht dass sie unbedingt mit ihm sympathisierten, doch in seinem Schutz glaubten sie wenigstens den heutigen Tag noch zu überleben. Maxim überlegte kurz, ob er sich wirklich mitten hinein in diesen Schmelztiegel begeben sollte, doch in Wirklichkeit blieb ihm längst schon keine andere Wahl mehr. Der Ring zog sich immer dichter zusammen. Sollte er hier in freiem Gelände der Roten Armee in die Hände fallen, wäre sein Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Er klappte die Lederbörse zusammen, die er aus dem Zug mitgenommen und seitdem etliche Male inspiziert hatte. Das Geld konnte er gut gebrauchen, doch noch wertvoller erschienen ihm die Papiere, die den Toten als Roman Alexej Andrejew auswiesen. Ein Reporter aus Kiew auf dem Weg zu einer Pressekonferenz mit General Wrangel, die er aber nie erreichen sollte. Roman Andrejew lag tot in einem Zug, mitten in der südukrainischen Steppe, und Maxim ahnte, dass ihm die Papiere des Toten noch wertvolle Dienste leisten konnten.
Er erhob sich, knöpfte den Kragen seines Mantels zu und nahm die Zügel des Pferdes in die Hand. Er ging den Hang hinab, um sich in den Strom der Menschen einzureihen, der immer dichter wurde, je näher sie der sumpfigen Passage kamen.
Fünf Tage später erreichte Maxim Sewastopol. Er konnte sich mittels seiner neuen Papiere als Kiewer Journalist ausweisen und mühelos die Verteidigungslinien der Weißen Armee passieren. Niemand zog seine gefälschte Identität in Zweifel, was ihn verwunderte, hatte er doch mit wesentlich größeren Schwierigkeiten