Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
Ein Raunen ging durch die Menge, da es den Brüdern schwerfiel sich vorzustellen, wie eine Frau zu solch einem Kraftakt fähig sein konnte.
„Da hat ihr doch bestimmt Orlow geholfen“, rief einer der Männer in die aufkommende Unruhe hinein. Die Stimmung schlug prompt in Gelächter um, als ob dem jungen Mann ein besonders guter Witz gelungen war.
„Ruhe!“, rief Abram Dyck von der Kanzel in dem Versuch, die allgemeine Ordnung wiederherzustellen. „Solche haltlosen Äußerungen haben hier nichts zu suchen! Bruder Heinrich, bitte erzähl weiter.“
„Sie sagte mir“, fuhr Heinrich erklärend fort, „dass sie vor Angst zitterte und Gott innerlich um Hilfe bat.“
Heinrich wusste den gerade aufbrandenden Tumult um seine Frau nicht einzuordnen. Was sollte diese Bemerkung über Juri Orlow? Er versuchte sich zu konzentrieren.
„Als sie die Gabel sah, griff sie ohne zu überlegen danach und rammte sie dem Mann in den Bauch. Dann lief sie zurück ins Haus. Wir trauten uns zunächst nicht hinauszugehen, aus Angst, dass der Machnowzi doch nur verletzt war. Nach etwa einer Stunde ging ich dann allein zur Scheune und sah ihn dort in seinem Blut liegen. Ein scheußlicher Anblick. Trotzdem musste ich denken, dass es ihm recht geschah.“
Wieder ging ein Raunen durch die Versammlung und sofort bereute Heinrich seine unbedachte Äußerung.
„Bruder Heinrich“, unterbrach der Pastor die wieder aufkommende Unruhe mit lauter Stimme. „Mord ist eine schwere Sünde. Aber von allen unseren Sünden können wir reingewaschen werden, wenn wir diese nur aufrichtig bekennen und bereuen. Mir scheint aber, dass du die Taten deiner Frau nicht wirklich bereust, oder?“
Heinrich erkannte, dass von seiner nächsten Antwort die Zukunft seiner Familie abhing. Auch wenn er nie wieder einen glaubwürdigen Einwand gegen den Selbstschutz vorbringen konnte, war er Gott dennoch dankbar, dass Maria die Kraft und den Mut fand, diesen Mann zu töten. Wie konnte es falsch sein, sich einer drohenden Schändung zu widersetzen? Aber hier ging es nicht um die Frage, ob ihr Handeln vielleicht aus Notwehr geschah und dadurch gerechtfertigt werden könnte. Es ging einzig und allein darum, dass Maria gegen Gottes Gebot verstoßen hatte.
Genauso hätte auch Heinrich noch vor wenigen Tagen argumentiert. Hielt Jesus es für nötig, das Kreuz vor Augen, sich mit Gewalt zu wehren?, so die Frage, die man von Kindesbeinen an mit einem klaren Nein beantwortete. Doch diese Antwort fiel so viel leichter, wenn es nicht um die eigene Frau ging. Es brodelte in seinem Inneren und Heinrich wusste, dass schon sein Zögern ihm ernste Probleme bereiten könnte. Er beeilte sich zu sagen, was ihm hier und jetzt zutiefst widerstrebte.
In dem Moment erhob sich Johann Heidebrecht, der frühere Pastor ihrer Gemeinde, und kam Heinrich zuvor. Aufgrund seiner Verdienste und seines fortgeschrittenen Alters genoss er immer noch großes Ansehen unter den Mennoniten. Das Reden bereitete ihm mittlerweile Mühe; dadurch erhielt das Wenige, das er noch sagte, ein besonderes Gewicht.
„Sie hat nichts Unrechtes getan“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Sie hat sich gegenüber einem Verbrecher zur Wehr gesetzt. Die Familie darf dafür nicht bestraft werden.“
Bruder Heidebrecht nahm wieder Platz und alle Anwesenden spürten, dass der erwartete Verlauf der Versammlung damit auf den Kopf gestellt wurde. Niemand wagte es, seine Erklärung öffentlich infrage zu stellen.
Auch Abram Dyck fehlten die Worte. War das nun die endgültige Legitimation des Selbstschutzes? Wie sollte er jetzt noch glaubhaft gegen jegliche Form der Gewaltanwendung predigen? Wie sollte er die jungen Männer davon abhalten, zu den Waffen zu greifen, wenn sie hier einen Präzedenzfall schufen? Wie konnte Bruder Heidebrecht ihm derart in den Rücken fallen?
Heinrich hingegen konnte sein Glück kaum fassen. War es das wirklich schon gewesen, oder brachte noch jemand den Mut auf, diesen gewichtigen Worten zu widersprechen? Er wartete einen kurzen Moment und kehrte dann zurück zu seinem Platz. Als er sich gerade setzen wollte, richtete Abram noch einmal das Wort an ihn.
„Bruder Heinrich, es liegt uns allen fern, Bruder Heidebrecht zu widersprechen, auch wenn wir seine Worte vielleicht noch nicht in aller Tiefe verstehen. Es bleibt aber noch die Frage zu klären, wie wir mit den Machnowzi fortan umgehen wollen. Sicher wird der Tod ihres Kameraden nicht lange unbemerkt bleiben und sie werden kommen, um seinen Tod zu sühnen. Dürfen wir davon ausgehen, dass du ihnen gegenüber die Verantwortung für den Tod dieses Mannes übernimmst?“
Was blieb Heinrich anderes übrig, als die Frage nickend zu bejahen.
„So sei es“, fuhr der Pastor fort und beendete damit die Versammlung. Er hoffte, dass zumindest die Aussicht auf persönliche Rechenschaft die Männer davon abhalten würde, weitere Dummheiten zu begehen.
Munition
Osterwick 1920
Willi keuchte, als er sich die Böschung hinaufmühte. Er war den ganzen Weg ohne Pause gerannt, um möglichst noch vor Maxim die Stelle zu erreichen, wo sie das MG zurückgelassen hatten. Seine Kleider klebten ihm am schweißnassen Körper und zum wiederholten Mal wischte er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm immer wieder die Sicht versperrte. Oben angekommen musste er sich erst einmal auf seinen Knien abstützen, um wieder Luft zu bekommen. Doch es blieb ihm nicht viel Zeit. Er zwang sich, trotz seiner Seitenstiche weiterzulaufen.
Zum Glück konnte er sich auf seinen guten Orientierungssinn verlassen, sodass er nicht noch einmal durch das Dickicht kriechen musste. Er ging an der Baumreihe entlang und kam direkt zu der Stelle, wo die Mündung des MGs aus dem lichten Gestrüpp herausragte. Willi war überrascht, wie leicht es zu finden war, wenn man nur wusste, wo man suchen musste. Schnell bog er die wenigen Zweige zur Seite und wollte sich gerade die Metallkiste mit der Munition unter den Arm klemmen, da hörte er auch schon ihre Stimmen. Er fluchte leise. Einfach durchs offene Gelände davonzulaufen kam nun nicht mehr infrage. Maxim und Erwin hätten ihn sofort entdeckt.
Heute Morgen auf dem Weg zur Schule hatten sich Willi und Maxim wieder einmal heftig darüber gestritten, wie sie mit ihrem Fund weiter umgehen sollten. Maxim wollte, dass Abram die Brüder endlich über das MG informierte. Er war enttäuscht, dass der Pastor selbst nach der gestrigen Versammlung das Geheimnis weiterhin für sich behielt. Zu Unrecht, wie er fand, woraufhin er eigenmächtig beschloss, Erwin Wiebe zu der Fundstelle zu führen. Willi gelang es nicht mehr, seinen Freund davon abzubringen.
Er hatte den ganzen Morgen darüber nachgedacht, wie er es anstellen konnte, das MG unschädlich zu machen. Bis ihm kurz vor Ende der letzten Unterrichtsstunde ein Geistesblitz kam: Er konnte das Gewehr nicht verstecken, dafür war es viel zu schwer. Doch die Patronen konnte er sehr leicht an einen anderen Ort bringen. Das MG wäre dadurch unbrauchbar. Willi würde die versteckte Munition nur Abram zeigen, sobald der entschied, den Fund öffentlich bekannt zu machen.
„Es muss gleich hier irgendwo sein.“ Maxims Stimme klang laut und deutlich durch das Birkenwäldchen.
„Wehe, wenn du mich an der Nase herumführst und ich ganz umsonst durch diese Dornen gestiefelt bin“, schimpfte Erwin.
„Nein, keine Bange … Du wirst begeistert sein. Vertrau mir. Warte, ich glaube hier ist es schon.“
Mit den schweren Patronengurten über seinen Schultern zog sich Willi leise in das Dickicht zurück. Er musste sich flach auf den Boden kauern, da jeder weitere Schritt ihn unweigerlich verraten hätte. Er lag nun keine zehn Meter von Erwin und Maxim entfernt in den Büschen.
„Du hast nicht zu viel versprochen Maxim. Ein 08/15-MG. Und du bist dir sicher, dass es funktioniert?“ Erwin zeigte sich beeindruckt von der Waffe.
„Ja, bin ich. Ich weiß zwar nicht, ob es richtig zielt, aber es feuert ganz tadellos.“
„Und wo ist die Munition?“
„Da drüben in der Kiste.“
Willi hielt die Luft an. Jetzt war der Moment gekommen …
„Aber die Kiste ist leer. Hier ist