Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki


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gab. Umso erschrockener waren sie, bei ihrer Rückkehr den Fremden anzutreffen.

      „Essen“, sagte er kurz angebunden ohne Erklärung für sein unerlaubtes Eindringen. Und als wäre diese Aufforderung nicht deutlich genug, legte er zur Warnung seinen Revolver griffbereit vor sich auf den Tisch.

      Willi wusste aus den Erzählungen seiner Freunde, die ebenfalls schon Besuch von den Machnowzi erhalten hatten, dass sich angesichts dieser Bedrohung jegliche zuvor erdachte Heldentat in Luft auflöste. Er wollte es nicht wahrhaben, sich niemals einfach nur ergeben, musste nun aber feststellen, dass sie recht behielten. Er konnte nur tatenlos dabei zusehen, wie der Fremde seine Mutter herumkommandierte, wie sie zwischen Küche und Stube hin und her eilte, eifrig bemüht, dem Mann etwas zum Essen zu bringen. Sie hatten alle Angst. Angst, dem Machnowzi offen entgegenzutreten, ihn aus dem Haus zu werfen, wie man es üblicherweise mit solchen Flegeln tut.

      Willi zuckte erschrocken zusammen, als der Mann seinen leeren Teller klirrend in die Mitte des Tisches schob, um Platz für seine dreckigen Stiefel zu machen. Der Machnowzi lehnte sich in seinem Stuhl zurück, steckte sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und ließ dann seinen Blick durch den Raum gleiten. Erst jetzt schien er seine Umgebung mit nervösen Blicken wahrzunehmen. Der Mann wirkt unsicher, dachte Willi. So gar nicht wie ein kampferprobter Soldat. Ohne seine Waffen und ohne seine komische Uniform hätte man ihn für einen einfachen Bauern gehalten.

      Als Maria zurück in den Raum kam, musterte er sie von oben bis unten, ganz so, als würde er sie erst jetzt bemerken. Maria war eine schöne Frau, das wusste Willi. Und es war ihm jedes Mal unangenehm, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über sie sprachen. Doch im Blick dieses Machnowzi lag weit mehr als nur jugendliche Bewunderung, als er sie nun zu sich winkte.

      „Darf ich Ihnen einen Schlafplatz in unserer Scheune zeigen, oder werden Sie heute noch weiterreisen?“

      Willi bemerkte die Verzweiflung in der Stimme seines Vaters, der versuchte, den Mann abzulenken und in ein Gespräch zu verwickeln. Doch der ließ sich darauf nicht ein. Ohne den Blick von Maria abzuwenden, hieß er sie mit einem weiteren Fingerzeig, näherzukommen. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Erst als der Mann seine Hand nach dem Revolver ausstreckte, ging sie langsam auf ihn zu.

      Sie spürte, wie sich seine raue Hand um ihre Wade legte, langsam unter ihrem Rock nach oben wanderte. Sie hatte gehört, was die Machnowzi den Frauen antun, und begann vor Angst zu zittern. Sie wollte sich wehren, konnte sich dem Mann aber nicht widersetzen, ohne das Leben ihrer Familie zu gefährden. Maria suchte den Blickkontakt ihres Mannes, doch Heinrich schaute nur hilflos zu Boden. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Schenkel verkrampften sich. Der Mann schien das zu merken und wandte sich grinsend – ohne die Hand hervorzuziehen – an Heinrich: „Ich möchte, dass sie mir die Scheune zeigt.“

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      In der kleinen Stube der Bergens war es ganz still. Willi blickte immer noch starr hinüber zur Küchentür, durch die seine Mutter und der Machnowzi vor wenigen Minuten nach draußen gegangen waren. Er verstand nicht, warum der Mann sich die Scheune unbedingt von ihr zeigen lassen wollte. Aber er ahnte, dass sie in großer Gefahr schwebte.

      „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte er leise seinen Vater.

      „Ich weiß es nicht … Was sollen wir tun? Er hat doch eine Waffe.“

      Willi spürte, dass sein Vater nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Sollte er hinüber zur Scheune laufen und versuchen, seiner Frau zu helfen? Oder doch besser hier bei seinen Kindern bleiben? Nie zuvor hatte er seinen Vater so hilflos gesehen wie in diesem Moment.

      „Ich kann Hilfe holen“, schlug Willi vor. Doch noch bevor sein Vater etwas antworten konnte, ging die Küchentür wieder auf und Maria kam herein. Ihre Knie versagten den Halt und sie sank auf der Stelle in sich zusammen. Willis kleine Schwestern begriffen die Situation als Erste.

      „Mama“, riefen sie aus vollem Hals und stürmten auf ihre Mutter zu. Dann kamen auch Willi und sein Vater herbei, bemerkten erst jetzt das Blut auf ihrer Bluse. „Was ist passiert?“, hörte Willi seinen Vater fragen.

      Nur langsam kam ihr eine Antwort über die Lippen. „Er ist tot“, flüsterte sie. „Ich habe ihn umgebracht.“

       Der Brüderrat

      Osterwick 1920

      Heinrich rutschte auf seinem Platz hin und her. Er fühlte sich unwohl, so weit vorne in der ersten Reihe zu sitzen, und spürte das unangenehme Gefühl Dutzender fragender Blicke in seinem Rücken. Kein Wunder, dachte er, schließlich hatte man diesen Brüderrat extra seinetwegen einberufen.

      Er beobachtete, wie Abram Dyck sich etwas abseits mit den Ältesten besprach. Sie unterhielten sich im Flüsterton, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Doch selbst ihr Flüstern klang in der ansonsten völlig stillen Kirche unnatürlich laut. Aus dem Augenwinkel bemerkte Heinrich, dass hinter ihm nur die rechte Hälfte des Kirchenraums belegt war. Die Männer saßen wie üblich auf ihren Stammplätzen, als müssten sie sich auch heute von den Frauen absondern, die im Gottesdienst immer nur die linke Hälfte besetzten. Gut, dass sie nicht in einem Boot saßen, kam es Heinrich in den Sinn, sie wären aufgrund der Schlagseite sicher gekentert.

      Der Brüderrat galt als die höchste Autorität in Osterwick. Es gab weder Polizei noch anderweitige Justiz. Nur einen gewählten Dorfschulzen, der sich um die Pflege und Instandhaltung von öffentlichen Einrichtungen wie Brücken und Straßen kümmerte. In seine Zuständigkeit fiel es auch, die Steuern rechtzeitig einzusammeln und an die staatlichen Behörden abzuführen. Dennoch konnte selbst der Dorfschulze nichts gegen den Willen des Brüderrates unternehmen.

      Heinrich erinnerte sich daran, wie vor vielen Jahren ein Familienvater mitsamt seiner Familie aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen worden war. Der Mann – ein notorischer Trinker – verprügelte regelmäßig seine Frau. Und als er auch nach mehrmaliger Ermahnung nicht davon abließ, hatte man allen Einwohnern von Osterwick den Kontakt zu dieser Familie untersagt. Heinrich hatte dies schon damals für eine falsche Entscheidung gehalten, denn dadurch verschwand das Treiben des Mannes noch mehr in der Dunkelheit und man überließ die Familie ihrem Schicksal. Letztlich war der Frau und ihren Kindern nichts anderes übrig geblieben, als das Dorf zu verlassen und in einen anderen Ort umzusiedeln – hoffend, dass die Kenntnis über den Gemeindeausschluss und die Flucht vor ihrem Mann ihr nicht schon vorausgeeilt war. Bei dem Gedanken an diese Familie schämte Heinrich sich immer noch. In dem Moment trat Abram Dyck an die Kanzel und eröffnete die Brüderversammlung.

      „Brüder, wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um Auskunft über die Geschehnisse in der Scheune der Bergens zu erhalten, so wie sie sich letzten Sonntag zugetragen haben.“

      Er kommt ohne lange Vorrede zur Sache, dachte Heinrich.

      „Wie allen bereits bekannt, hat uns Bruder Heinrich am Nachmittag des vergangenen Sonntags darüber unterrichtet, dass einer der Machnowzi tot in seiner Scheune liegt. Wir haben den Mann noch am selben Tag beerdigt. Nun wollen wir erfahren, wie er zu Tode gekommen ist und wie sich dies auf unsere Beziehung zu den Machnowzi auswirkt. Ich bitte nun Bruder Bergen nach vorne. Er wird uns berichten, was sich genau am letzten Sonntag ereignet hat.“

      Als lägen ihm Bleigewichte auf den Schultern, erhob sich Heinrich schwerfällig von seinem Platz, um hinüber zur Kanzel zu gehen. Erstaunt stellte er fest, dass der Pastor keine Anstalten machte, diese für ihn zu räumen. Er hatte gehofft, sich an dem kleinen Pult festhalten zu können, doch so wusste er nicht, wohin mit seinen Händen. Er ließ sie an den Seiten herabhängen, stand breitbeinig vor den neugierig dreinblickenden Männern und sah in seinem schlecht sitzenden Anzug aus wie ein nasser Kartoffelsack. Er erzählte von der Überraschung, diesen Mann in ihrem Haus anzutreffen. Von ihrer Angst. Davon, wie der Fremde sich zunächst satt gegessen hatte und dann mit Maria in der Scheune verschwand.

      „Er wollte Maria etwas antun, so viel stand fest. Und er hatte eine Waffe dabei. Doch Maria konnte sich in der Scheune


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