Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
aufschlug. Trotz der Demütigung war er erkennbar erleichtert, auf allen vieren wieder zurück in die Reihe seiner Kameraden kriechen zu dürfen.
Kalinin beobachtete fasziniert dieses Schauspiel und übersah dabei, dass Machno ihn mit einer Handbewegung zu sich rief. Einer seiner Männer stieß ihn in die Seite. Kalinin erhob sich von der Bank, streckte sich und ging so selbstbewusst wie möglich auf Nestor Machno zu. Der war zwar einen Kopf kleiner als Kalinin, aber seine Aura ließ ihn deutlich größer wirken. Kalinin streckte die Hand zum Gruß aus, doch Machno ignorierte die Geste. Er kam direkt zur Sache.
„Major Kalinin, Sie sind zurück von ihrer Fahrt durch die ukrainische Provinz. Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier in unserem Land.“ Die Art und Weise, wie Machno von seinem Land sprach, gefiel Kalinin nicht, doch er ignorierte diese weitere Provokation.
„Danke, wir kommen gut zurecht. Die Bauern sind größtenteils kooperativ, auch wenn wir dem Ansinnen Moskaus manchmal etwas mehr Nachdruck verleihen mussten“, antwortete er.
Der Anflug eines Lächelns lag auf Machnos Lippen, als Kalinin diese diplomatische Umschreibung ihrer teils sehr gewalttätigen Mission wählte.
„Wir waren überrascht“, fuhr Kalinin fort, „dass Jekaterinoslaw so schnell in die Kontrolle der Machnowzi übertragen wurde.“
„So, so, überrascht waren Sie. Ich hoffe, dass Ihnen dieser Umstand nicht ungelegen kommt“, unterbrach ihn Machno.
„Ganz und gar nicht.“ Kalinin fand in Machno keinen gut gelaunten Gesprächspartner vor. Ganz im Gegenteil. Es schien ihm zuwider, sich mit dem Befehlshaber der Tschekisten unterhalten zu müssen. Doch lag das wahrscheinlich nicht so sehr an der Tscheka als vielmehr daran, dass Machno sich mit keiner Autorität außerhalb seiner selbst auseinandersetzen wollte. Wie war es der Roten Armee wohl gelungen, diesen Anarchisten für ihre Zwecke zu gewinnen?
„Wir fragen uns nur, welchem militärischen Zweck die Vergewaltigung und Zerstückelung unserer eigenen Zivilbevölkerung dient? Oder das Tragen von Frauenkleidern, die sicher nicht zum Armeebestand der Machnowzi gehören? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass General Fjodrov dies im Sinn hatte, als er Jekaterinoslaw unter Ihr Kommando stellte und Ihnen auftrug, die Stadt zu sichern.“
Kalinin spürte, dass ein Ruck durch die Männer im Raum ging. Auch Machno streckte sich, atmete einmal tief durch und blickte sein Gegenüber mit starren, kalten Augen an. Doch Kalinin ließ sich davon nicht beeindrucken. Schier endlose Sekunden vergingen, bevor Machno antwortete.
„Ich glaube kaum, dass ich einem niederrangigen Tschekisten Rechenschaft darüber schulde, wie ich meine Armee führe, geschweige denn …“
„Es ist völlig unerheblich“, unterbrach Kalinin, „ob Ihnen mein Rang ausreichend erscheint oder nicht. In Abwesenheit von General Fjodrov haben Sie in mir und Major Poljakow die höchsten Repräsentanten der Regierung, die es in Jekaterinoslaw zurzeit gibt. Und als solcher möchte ich gerne von unseren Verbündeten wissen, welchem militärischen Zweck Vergewaltigung, Mord und Plünderung der Zivilbevölkerung dient.“
Kalinin wusste, dass er seine Kompetenzen weit überschritt, und konnte nur hoffen, dass Machno diesen Bluff nicht bemerkte. Nach einem nicht enden wollenden Augenblick wandte sich Nestor Machno schließlich achselzuckend ab und trat hinter seinen Schreibtisch zurück.
„Major Kalinin, vielleicht haben Sie es bei Ihren Fahrten durch die Provinz nicht mitbekommen, aber wir befinden uns im Krieg. Und Krieg bedeutet Entbehrung. Verlust der Heimat. Hunger. Da gönne ich meinen Männern gerne eine kleine Pause, wann immer es möglich ist. Und Sie dürfen mir glauben, dass sich diese tapferen Männer ihre Pausen verdient haben. Da werde ich sicher nicht kontrollieren, was sie im Einzelnen tun. Solch hässliche Dinge passieren nun einfach mal. Nichts, worüber sich General Fjodrov den Kopf zerbrechen muss.“
„Wollen oder können Sie Ihre Leute nicht kontrollieren?“ Kalinin wollte die selbstgefällige Fassade dieses Mannes durchbrechen, wohl wissend, dass er sich damit auf ganz dünnes Eis begab.
Es kostete Nestor Machno allergrößte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Jeder seiner Gesichtsmuskeln schien aufs Äußerste angespannt. Plötzlich zog er seinen Revolver aus dem Gürtel und schoss dem Mann, den er eben noch gedemütigt hatte, in den Kopf. Der Mann brach tödlich getroffen zusammen, während Machno mit ausgestrecktem Arm hinter seinem Schreibtisch stand, den Blick zu keinem Zeitpunkt von Kalinin abgewandt. Er hielt es nicht einmal für nötig, sich zu vergewissern, dass die Kugel auch den Richtigen getroffen hatte.
„Sie zweifeln an meiner Kontrolle, Major Kalinin?“ Er schrie und seine Stimme überschlug sich, als er noch einmal fragte: „Sie zweifeln wirklich an meiner Kontrolle? Darf ich Ihnen versichern, dass ich volle Kontrolle über meine Männer habe? Und darf ich Ihnen auch versichern, dass es mir scheißegal ist, wen sie in ihrer Freizeit erschlagen und wen sie vergewaltigen? Solange sie für mich kämpfen, dürfen sie tun und lassen, was sie wollen. Und wenn ich sie rufe, dann gehorchen sie. Ich habe die vollständige Kontrolle über diese Männer, das dürfen Sie mir gerne glauben, Major Kalinin.“
Kalinin blickte ihn entsetzt an, wusste nicht, was er diesem Verrückten noch entgegnen konnte. Sinnlos, in Nestor Machno einen vernünftigen Verbündeten zu vermuten, mit dem man über das Verhalten seiner Armee hätte sprechen können. Was sollte man von einer Armee auch erwarten, die von einem offensichtlich schwer gestörten Mann angeführt wurde. Kalinin wandte sich wortlos zum Gehen.
„Eine Sache noch, Major Kalinin“, rief Machno ihm hinterher. „Wie haben die Deutschen auf Ihre Abgabequoten reagiert?“
Kalinin drehte sich um, verstand aber den Sinn der Frage nicht. Machno sah seine Verwirrung. „Gab es Widerstand in den deutschen Dörfern?“, fragte er mit ausladender Handbewegung, als müsse er einem Kind erklären, was er eigentlich meinte.
„Nein, sie waren äußerst kooperativ“, entgegnete Kalinin.
„So, so. Sie haben also keinen Dolmetscher benötigt?“
„Doch“, antwortete Kalinin zögerlich. Das aufkommende Gelächter in den Reihen der Machnowzi verunsicherte ihn. „Ihr Pastor hat für mich übersetzt.“
Nun stimmte Machno in das offene Gelächter seiner Männer mit ein. „Dann haben Sie sicher eine ganz großartige Quote eingefahren.“
Kalinin wandte sich endgültig zum Gehen, hörte Machno noch rufen: „Richten Sie den Deutschen aus, dass es nicht mehr lange dauert, bis der Teufel den Dnjepr überquert und sie holen kommt.“
Konfiszierung
Osterwick 1920
Während seines Studiums hatte ihn niemand auf eine derartige Herausforderung vorbereitet und Abram Dyck zweifelte, ob er seiner Herde noch Rat und Führung geben konnte. Er bemühte sich nach Kräften, weiterhin Zuversicht und Glaubensstärke zu vermitteln.
Seit Wochen predigte er über das Gebot der Gewaltlosigkeit, doch nach Ende des Gottesdienstes standen die jungen Männer wieder beisammen, um über den Selbstschutz zu diskutierten. Abram konnte es ihnen nicht verdenken. Die Angst vor weiteren Schikanen durch die Bolschewiken wuchs täglich. Und auch wenn die letzte Begegnung mit ihnen glimpflich verlief, so klangen ihnen Erwins warnende Worte immer noch in den Ohren. Abram konnte mit seiner heutigen Predigt noch einmal eine Besänftigung der Gemüter bewirken, trotzdem sorgte er sich um den morgigen Tag. Es blieb zu hoffen, dass die Getreideablieferung nicht doch noch zu Ausschreitungen führen würde.
Lange nachdem Maxim und Willi die Kirche verlassen hatten, saß Abram noch immer auf der Bank, unschlüssig, wie er das Gehörte einordnen sollte. Sie hatten ihn nach dem Gottesdienst um eine kurze Unterredung gebeten und ihn über den Fund des Maschinengewehrs in Kenntnis gesetzt. Durfte er diesen Fund als göttliche Führung einordnen – oder war er eine teuflische Versuchung, die sie alle ins Verderben stürzen konnte? Mit dem Gewehr könnten sie sich die Banden kurzfristig vom Leib halten. Doch was dann? Die Übermacht war einfach zu groß und sobald die Munition zur Neige ging, würden sie