Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
an Gott abzugeben und blickte erst auf, als er die Hand des russischen Majors auf seiner Schulter spürte.
„Aber, aber … Sie wollten doch erst morgen kommen und …“
Abram brachte den Satz nicht zu Ende. Mit voller Wucht streckte ihn Kalinins Faust zu Boden. Er blieb benommen liegen, schmeckte Blut in seinem Mund und wollte gerade etwas entgegnen, da traf ihn schon Kalinins Stiefel in die Seite. Abram spürte, wie eine Rippe brach. Der Schmerz vernebelte ihm die Sinne und Panik stieg in ihm auf. Er bekam keine Luft mehr. Kalinin kümmerte das nicht. Er zog den keuchenden Pastor zurück auf die Beine. Dann trat er einen Schritt zurück und deutete mit ausgestrecktem Finger auf sein blutendes Opfer.
„Du …“, Kalinin bebte vor Zorn, „… du wolltest mir weismachen, ihr versteht kein Russisch. Du wolltest mir weismachen, ihr würdet nur 50 Tonnen ernten. Du hast mich belogen.“
Kalinin rollte eine Peitsche aus und schlug sie dem Pastor um die Beine. Mit einem kräftigen Ruck zog er ihm die Füße weg, sodass Abram erneut auf dem harten Holzfußboden aufschlug. Dann schleifte ihn Kalinin aus der Kirche raus.
„Wer ist der reichste Kulak in eurem beschissenen kleinen Dorf?“ Kalinins Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er diese Frage kein zweites Mal stellen würde. Daher bemühte sich Abram um eine schnelle Antwort: „Eduard Klaassen.“
„Gut. Dann führst du mich jetzt zu diesem Klaassen, damit wir unsere Unterhaltung bei ihm fortsetzen können.“
Eduard Klaassen, ein großer, übergewichtiger Mann, konnte normalerweise nichts so leicht aus der Fassung bringen. Doch die Entschlossenheit, mit der die Tschekisten in sein Haus eindrangen, erstickte jeglichen Gedanken an Widerstand im Keim.
„Herr Klaassen, ich bin hier, um Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass meine Männer Ihren gesamten Getreidevorrat konfiszieren“, sagte Kalinin.
Eduard Klaassen warf einen Blick aus dem Fenster, sah die Kolonne von Lastkraftwagen und Kutschen auf seinem Hof.
„Aber, ich verstehe nicht. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung“, wandte er sich fragend an seinen Pastor.
„Die Abmachung ist hinfällig“, ging Kalinin dazwischen. „Ihr werter Herr Pastor kann Ihnen später gerne erklären, warum.“
„Aber … Wenn Sie alle Wagen da draußen vollladen, dann ist meine Scheune leer. Die Abgabe ist doch viel zu hoch!“ Panik trat in seine Augen, als er sich erhob und drohend auf Kalinin zuging.
Kalinin zog seine Waffe und richtete sie auf Eduard Klaassens Frau, die auf der Couch im angrenzenden Wohnzimmer saß. „Keinen Schritt weiter, oder Ihre Frau ist tot.“
Katarina Klaassen zuckte erschrocken zusammen. Sie stieß einen kurzen, ängstlichen Schrei aus und versuchte, den Blick von Kalinins ausgestrecktem Revolver abzuwenden. Sie zitterte am ganzen Körper. Auch ihr Mann kehrte nun vollständig eingeschüchtert zurück zu seinem Platz.
„Das könnt ihr doch nicht machen. Wie sollen wir den Winter überstehen, geschweige denn das Saatgut für das nächste Jahr ausbringen.“ Die schleichende Erkenntnis, dass die Tschekisten ihn in den Ruin trieben, ließ den Bauern verzweifeln. Er wandte sich hilfesuchend an Abram Dyck: „Das muss ich doch nicht allein ausbaden, oder? Abram, sag mir bitte, dass wir das gemeinsam tragen.“
Der Pastor hob nur die Hand, bedeutete Eduard Klaassen, Ruhe zu bewahren. Natürlich würden sie diese Abgabe gemeinsam schultern, doch jetzt ging es erst einmal darum, hier mit heiler Haut wieder herauszukommen.
Später am Abend, als die Scheune leer und alle Wagen beladen waren, machte sich der lange Treck auf den Weg nach Chortitza. Dort würde das Getreide umgeladen und mit dem Zug weiter nach Moskau transportiert werden. Die Klaassens hatten sich die gesamte Zeit nicht vom Fleck gerührt, ausdruckslos dem Abtransport ihrer gesamten Ernte zugeschaut. Sie hofften, dass die Solidarität der Osterwicker sie vor dem sicheren Ruin bewahrte.
„Im Namen der Partei bedanke ich mich für Ihre freundliche Unterstützung und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.“ Kalinin lüpfte zum Abschied mit übertriebener Höflichkeit seine blaue Schirmmütze.
„Ach ja, fast hätte ich es vergessen.“ Er kehrte noch einmal zurück in die große Stube. „Ich soll euch von Nestor Machno ausrichten, dass der Teufel bald den Dnjepr überquert und euch besuchen kommt.“ Damit verschwanden die Tschekisten endgültig in der Nacht.
Die Machnowzi
Osterwick 1920
Keine zwei Monate später machte Nestor Machno sein Versprechen wahr und überquerte mit einer Armee von fast 100.000 Mann den Dnjepr bei Chortitza. Nicht ganz freiwillig, da die Bolschewiken sich seiner Dienste entledigten, sobald sie seiner anarchistischen Weltsicht und den damit verbundenen Exzessen überdrüssig wurden. Ihr gemeinsamer Feind – die Weiße Armee – stand kurz vor der Kapitulation, sodass die Generäle der Roten Armee es sich erlauben konnten, ihren einstigen Verbündeten loszuwerden.
Machno hatte seine Schuldigkeit getan und er war schlau genug zu wissen, dass er in einer offenen Konfrontation mit der Roten Armee nicht würde bestehen können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten, was der überwiegend deutschstämmigen Bevölkerung in der Region Chortitza nun teuer zu stehen kam. Die Machnowzi drangen in ihre Häuser ein, nahmen sich, wonach ihnen der Sinn stand. Sie fraßen sich regelrecht durch die Speisekammern und als diese geleert waren, gingen sie in die Ställe und erschossen die Tiere. Wenn der Alkohol hinzukam, dann machten sie sich einen Spaß daraus, den gesamten Viehbestand eines Bauern zusammenzuschießen, ohne Rücksicht, dass so viele Tiere auf einmal nicht zu verwerten waren.
Bald schon hing über den Dörfern rund um Chortitza ein süßlicher Verwesungsgeruch in der Luft und Krankheiten begannen sich auszubreiten. Doch die Machnowzi scherten sich nicht darum. Sie legten sich in die Betten der Mennoniten und schliefen ihren Rausch aus. Immer öfter verlangten sie dabei nach Mädchen und jungen Frauen und manch ein Familienvater, der sich schützend vor seine Töchter stellte, bezahlte seinen Mut mit dem Leben. Die deutschen Siedler erkannten mit wachsender Verzweiflung, dass die rücksichtslose Ausbeutung der Machnowzi sie über Kurz oder Lang in den Untergang treiben würde.
Willi schaute aus dem Fenster und bemerkte die vielen Staubkörner, die im Licht der hereinfallenden Herbstsonne tanzten. Ungewöhnlich, dachte er. Normalerweise achtete seine Mutter peinlichst genau darauf, das Haus sauber zu halten. Ein sauberes Haus ist Ausdruck einer sauberen Seele. So predigte sie es immer wieder. Was sollten die Leute denken, wenn sie uns in einem verdreckten Haus besuchen kommen, pflegte sie dann zu sagen. Das Haus der Bergens war daher stets sauber bis unter die Dachgiebel – wie alle Häuser in Osterwick. Niemand wollte sich nachsagen lassen, schlampig oder gar faul zu sein.
Willi sah aus dem Augenwinkel, dass sein Vater den Staub ebenfalls bemerkt hatte. Aber jetzt war nicht die Zeit, Mutter zu tadeln. Die Bergens standen dicht beieinander in ihrer kleinen Stube und sahen dem Machnowzi zu, wie er das Essen in sich hineinschlang. Der Mann stank nach Alkohol und Pferdemist. Seine groteske Kleidung sah aus, als hätte er sie noch nie gewechselt, geschweige denn gewaschen. Er saß allein am Tisch und Willi ekelte sich angesichts seiner Essmanieren. Jedes Mal, wenn er den Löffel voller Suppe an seinen Mund führte, verloren sich dabei ein paar Tropfen auf dem ohnehin schon verdreckten Hemd. Dazu gesellten sich aufgeweichte Brotkrümel, die ihm aus dem offen kauenden Mund fielen. Die Bergens sahen zu, wie der Fleck aus Suppe und Brot sich vergrößerte. Doch der Mann schien es entweder nicht zu bemerken, oder es war ihm schlicht egal.
Willi ertappte sich dabei, wie er die Luft anhielt, nur um nach wenigen Sekunden geräuschvoll wieder auszuatmen. Er konnte seine Anspannung nicht verbergen. Was fiel diesem Mann ein, am heiligen Sonntag in ihr Haus einzudringen, sich einfach zu nehmen, was ihm nicht gehörte? Er musste sich Zutritt verschafft