Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki


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Verlust betrauerte. Nur Maria schien anfangs noch in der Lage, ihm ein wenig Trost zu spenden. Doch kurz darauf war er ohne ein einziges Wort des Abschieds verschwunden.

       Wassili Popov

      Jekaterinoslaw 1921

      Am 21. Februar entstieg dem Zug aus Moskau ein unscheinbarer Mann, weder sonderlich groß noch auffallend klein. Eine Nickelbrille auf der Nase unterstrich seine weichen, glattrasierten Gesichtszüge. Alles in allem keine Erscheinung, die den Mitreisenden besonders auffiel oder gar in Erinnerung blieb. Nur wer sich die Mühe machte, genauer hinzusehen, der hätte ahnen können, dass der Mann nicht so unbedeutend war, wie er sich gab. Sein Hut passte farblich abgestimmt zum grauen Anzug und die Schuhe glänzten noch von der letzten Politur. In der Hand hielt er einen ledernen Aktenkoffer, der mittels einer Kette um sein Handgelenk gebunden war. Kleine Details, denen hier in der Provinz aber niemand Beachtung schenkte, als er in der Menge Richtung Bahnhofsausgang verschwand.

      Der Mann hieß Wassili Popov, ein Beamter des Moskauer Innenministeriums. Niemand wusste von seiner Ankunft und niemand erwartete ihn hier in Jekaterinoslaw. Darauf hatte er vor seiner Abreise gesteigerten Wert gelegt. Sein Weg führte ihn direkt zur örtlichen Polizeidienststelle, deren Dienststube er ohne anzuklopfen betrat.

      Er wartete darauf, von dem Wachhabenden begrüßt zu werden, doch der hob seinen Blick nicht von dem Formular, das er gerade auszufüllen versuchte, obwohl ihm Popovs Eintreten keineswegs entgangen war. Eine kleine Schikane, um deutlich zu machen, wer in diesen Räumen das Sagen hatte. Es galt stets abzuwägen, ob die eigenen Sorgen und Nöte wirklich groß genug waren, einen Beamten in der Erfüllung seiner wichtigen Pflichten zu stören. Viele machten bereits an dieser Stelle kehrt und nahmen ihre Anliegen wieder mit nach Hause.

      Doch Popov ließ sich davon nicht beeindrucken. Er starrte den Mann so lange an, bis dieser seinen Stift zur Seite legte und entnervt fragte: „Ja?“

      „Ihren Namen und Ihren Dienstgrad wüsste ich gerne“, erwiderte Popov ruhig.

      Für einen kurzen Augenblick wirkte der Milizionär sichtlich irritiert, doch er fing sich schnell wieder. „Und ich wüsste gerne, wer das wissen will.“

      Popov wollte sich auf dieses Spielchen nicht einlassen. „Guter Mann, ich habe nicht vor, jedem Beamten in der Stadt zu erklären, wie ich heiße und warum ich hier bin. Ich denke, es ist ausreichend, wenn Ihr Vorgesetzter über meine Ankunft in Kenntnis gesetzt wird. Sie erfahren dann noch schnell genug, wer ich bin. Also, können Sie mir jetzt sagen, wo ich den Kommissar finde?“

      Der Beamte dachte nach. Er wog seine Möglichkeiten ab. Den Kommissar wegen einer Nichtigkeit zu behelligen, könnte ihn in ernste Schwierigkeiten bringen. Doch noch schlimmer wäre es, wenn dieser Mann vor ihm wirklich so wichtig war, wie er behauptete. Ihn abzuwimmeln könnte sich als noch größerer Fehler erweisen.

      „Der Kommissar ist zurzeit nicht hier.“ Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

      „Dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihn holen“, entgegnete Popov herablassend.

      Der Mann wollte sich gerade erheben, da schien ihm noch etwas Wichtiges einzufallen. „Nein, das geht jetzt nicht. Ich kann die Wache nicht unbeaufsichtigt lassen.“

      „Und Sie sind der einzige Milizionär im Dienst?“, wollte Popov wissen. Der Beamte bejahte. „Dann sagen Sie mir, wo ich den Kommissar finden kann.“

      „Der Kommissar ist noch zu Hause. Er kommt heute erst zur Spätschicht.“

      Popov schaute auf seine Uhr. Es war erst kurz nach zwei und er würde noch eine Stunde warten müssen, bis der Kommissar seinen Dienst antrat. Es sei denn … „Wo ist die Wohnung des Kommissars?“, fragte er.

      Der Mann verzog das Gesicht, als hätte er gerade auf einen Stein gebissen. Er würde es nicht wagen, die Adresse seines Vorgesetzten einem wildfremden Menschen zu geben. Es hatte offensichtlich keinen Sinn, weiter auf ihn einzureden.

      Popov setzte sich auf eine Bank und wartete. Seine Miene war wie immer undurchschaubar, was er hauptsächlich einer vorübergehenden Gesichtslähmung aus Kindheitstagen verdankte. Leider waren die Muskelfunktionen nie wieder ganz zurückgekehrt, sodass sich Popov zeit seines Lebens Spott und Häme seiner Mitmenschen ausgesetzt sah. Er kompensierte seine Benachteiligung durch übermäßigen Eifer, was ihm schließlich dazu verhalf, ein Ökonomiestudium an der angesehenen Universität von St. Petersburg aufzunehmen. Sein intellektueller Ehrgeiz wurde lediglich durch seinen Hang zum stets akkuraten Äußeren übertroffen. Seine Hände waren feingliedrig und penibel sauber. Nie sah man ihn mit dreckigen Fingernägeln. Das aschblonde Haar trug er akkurat geschnitten, auch wenn es sich am Hinterkopf bereits zu lichten begann.

      Popov entstammte einer wohlhabenden Familie, die großen Wert auf Äußerlichkeiten legte. Gepflegte Umgangsformen waren fester Bestandteil seiner Erziehung, noch weitaus wichtiger als jede Charakterschulung. Doch Popov wuchs in dem Gefühl heran, den Erwartungen seiner Eltern niemals zu genügen. Er wusste, dass er sie enttäuschte, auch wenn er nie herausfand, warum. Obwohl er von ihrem Reichtum profitierte, verachtete er sie gleichzeitig für ihr abgehobenes Dasein, welches sich einzig und allein aus der Gunst des Zaren nährte. Wem der Zar gewogen war, der konnte sich ein ruhiges und mondänes Leben erlauben. Doch wehe, man fiel in Ungnade. Häufig war es nur einer zaristischen Laune zu verdanken, wenn man sich von heute auf morgen ohne Obdach, Geld oder Arbeit auf der Straße wiederfand.

      Ganz im Gegensatz zu seinen Eltern widerstrebte es Popov zutiefst, sich der Willkür dieses Mannes auszuliefern. Vielmehr begeisterten ihn die Ideen der Bolschewiken, die eine klare Vision für Russlands Zukunft aufzeigten. In ihrer Vorstellung musste dieses Land nicht der Diktatur eines einzelnen Verrückten ausgeliefert sein, der von St. Petersburg aus sein Volk so klein wie möglich hielt. Mit solch einem Mann an der Spitze, so viel hatte Popov in seinem Studium gelernt, würde es Russland niemals gelingen, aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit gegenüber Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder den USA herauszukommen.

      Der Tatendrang der Bolschewiken imponierte ihm und er empfand es als eine Ehre, nach Ausbruch der Revolution einen schlecht bezahlten Beamtenposten in Moskau anzunehmen. So konnte er die Revolution unterstützen, ohne selbst allzu große Risiken für Leib und Leben einzugehen. Doch schon bald erkannte er, dass es auch den neuen Machthabern nur um ihre eigenen Vorteile ging. Lenin vermochte zwar die einfachen Arbeiter für sich einzunehmen. Das hatte er Zar Nikolaus voraus, der sich gar nicht erst bemühte, sein gottgegebenes Recht auf Privilegien zu rechtfertigen. Doch die Arbeiter bemerkten nicht, dass ihre Opfer nur dazu dienten, einer neuen Herrschaftsschicht den Weg zu ebnen.

      Popov bewunderte das teuflische Genie Lenins, auch wenn seine Begeisterung schon bald einem schlichten Pragmatismus wich. Leider war es da schon zu spät, den Staatsdienst zu quittieren, ohne als Landesverräter verhaftet zu werden. So arbeitete er weiter, auch wenn seine Karriere fortan merklich ins Stocken geriet. Erst war es das Vorenthalten wichtiger Informationen, dann die Versetzung in die Planungsstelle für Nahrungsmittelbeschaffung und nun die Versetzung nach Jekaterinoslaw. Man hatte seine Stelle neu geschaffen: Kommandant der Region Jekaterinoslaw. Seine Aufgabe bestand darin, die ineffektive Nahrungsmittelproduktion der Region neu zu organisieren und zu optimieren. Dafür war er mit allen Vollmachten ausgestattet, die für die Durchsetzung der Pläne Moskaus nötig erschienen.

      Eine Stunde später betrat der Kommissar die Wache. Er besprach sich kurz mit dem wachhabenden Beamten und gab seinem Gast anschließend einen Wink, ihm in sein Büro zu folgen. Er fläzte sich in den einzigen Stuhl, während Popov – die Unhöflichkeit ignorierend – ein sorgsam zusammengefaltetes Papier aus der Innentasche seines Mantels hervorzog. Auf dem Briefbogen prangte das auffällige Wappen der Tscheka. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Popov war zwar nur ein kleiner Beamter des Innenministeriums, aber er bestand vor Antritt seiner Reise auf dieser offiziellen Legitimation durch den Inlandsgeheimdienst. Er wusste, dass ihm nur das Wappen der Tscheka die notwendige Autorität verschaffte, die er zur Umsetzung seines Auftrags benötigte. Er wartete, bis der Kommissar zu Ende gelesen hatte.

      „Es ist Ihnen sicherlich klar, dass diese Mission allerhöchste Priorität genießt.


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