Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki


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aufzuhalten. Das Gelände kam ihnen zwar entgegen, doch irgendwann müssten sie sich der schieren Übermacht geschlagen geben. Nur ein Narr hätte jetzt noch auf einen Sieg der Weißen gesetzt.

      Maxim machte sich auf die Suche nach der örtlichen Polizeidienststelle, um dort, wie er hoffte, Auskünfte über Onkel Josha zu erhalten. Er ging durch die engen Gassen von Sewastopol, beeindruckt von der Schönheit dieser Küstenstadt am Schwarzen Meer, auch wenn der Krieg bereits allerorts seine hässliche Fratze zeigte. Überall traf er auf Bettler, Tagelöhner und Prostituierte, die sich gegenseitig mit ihren Reizen zu überbieten suchten. Kinder streiften auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Gassen und schreckten auch vor Diebstahl nicht zurück, wenn sich das Beutestück gut in Naturalien eintauschen ließ. Maxim griff mehrmals an die Stelle seines Mantels, wo er seine Papiere und das restliche Geld versteckte, um sich zu vergewissern, dass sich noch alles an Ort und Stelle befand. Er ging vorbei an imposanten Theatern, Universitätseinrichtungen, einer mit Säulen dekorierten Bibliothek und vielen kleinen Geschäften, die aber aus Angst vor Plünderern mit Holzbrettern verbarrikadiert waren.

      Am Hafen angekommen, musste Maxim nicht lange suchen, bis er das gelbe, mit grauen Schlieren überzogene Backsteingebäude fand, über dessen Eingangstür der Schriftzug Milizija prangte.

      „Ich bin auf der Suche nach Josha Beljajew“, wandte sich Maxim an den diensthabenden Beamten. „Er muss hier irgendwo in der Hafenmeisterei arbeiten.“

      Der Beamte blickte ihn unfreundlich an. „Und warum suchst du dann hier und nicht in der Hafenmeisterei?“, grunzte er kaum verständlich in seinen verlotterten Bart.

      Maxim kam sich dumm vor. „Ich bin nicht von hier. Ich weiß nicht, wo die Hafenmeisterei ist.“

      Der Milizionär versuchte gar nicht erst zu verbergen, dass ihm Maxims Anwesenheit auf die Nerven ging. Er hatte offensichtlich keine Lust, den Fremdenführer zu spielen. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber … die Hafenmeisterei ist am Hafen.“

      „Aber …“, Maxim war verwirrt. „Aber ich bin doch am Hafen.“

      Der Beamte nickte Maxim mit ausgestrecktem Zeigefinger zu, eine Geste, die ihm bedeuten sollte, was für ein schlaues Kerlchen er war. „Du hast es erfasst.“

      Hatte der Mann vielleicht zu viel getrunken? Maxim musste einsehen, dass hier keine Hilfe zu erwarten war. Enttäuscht trat er wieder hinaus in die kühle Abendluft. Er wusste nicht, wo er auf dem riesigen Hafengelände mit der Suche beginnen sollte. Er versuchte sich durchzufragen, was sich aber als ebenso sinnlos herausstellte wie der Besuch auf der Polizeidienststelle. Offensichtlich war jeder in dieser Stadt nur mit sich selbst beschäftigt, sodass er sich schließlich damit abfand, jedes einzelne Dock abzusuchen. Doch dann kam ihm eine viel bessere Idee. Er ging noch einmal zurück in das gelbe Gebäude.

      „Ich wüsste gerne, wo ich die Hafenmeisterei finden kann.“ Maxim schwang seine flache Hand auf den Tresen, ließ die darin gehaltene Münze mit einem lauten Knall auf das schwere Holz schlagen. Bei diesem Geräusch hellte sich die Miene des Milizionärs schlagartig auf.

      Maxim wiederholte seine Frage: „Wo finde ich die Hafenmeisterei?“

      „Vielleicht hilft es mir, mich zu erinnern, wenn ich weiß, was du da unter deiner Hand versteckst.“ Der Beamte kratzte sich nachdenklich am Kopf.

      Maxim hob kurz die Hand, ließ ihn einen Blick auf das Geldstück werfen.

      „Wenn du durch diese Tür gehst“, der Mann deutete auf die Eingangstür, „dann hältst du dich rechts, gehst zehn Schritte und klopfst an die Tür des Nachbarhauses. Dort findest du die Hafenmeisterei.“

      Maxim schaute ihn ungläubig an, musste aber erkennen, dass es der Mann trotz seines penetranten Grinsens ernst meinte. Genervt schob er ihm die Münze hinüber.

      Als er die Hafenmeisterei betrat, begann sein Herz schneller zu schlagen. Endlich war er am Ziel seiner Reise angelangt. Gleichzeitig merkte er jedoch, wie erschöpft er war. Am liebsten hätte er sich in eine Ecke gelegt und zwei Tage durchgeschlafen. Die Anspannung, die ihn seit seiner Abreise aus Osterwick auf den Beinen gehalten hatte, fiel nun ab.

      Man bat ihn, auf dem Flur zu warten, da Josha Beljajew nicht vor halb neun Feierabend machte. Er hatte noch draußen bei den Schiffen zu tun. Verwaltungskram, den Maxim nicht wirklich verstand. Froh und dankbar, dass sein Onkel immer noch hier arbeitete, nahm Maxim auf einem unbequemen Holzstuhl Platz und schlief binnen weniger Minuten ein. Er schreckte erst wieder auf, als Onkel Josha ihn heftig an der Schulter rüttelte.

       Evakuierung

      Sewastopol 1921

      Die Sonne stand tief am Himmel und Maxim fragte sich, ob es abends oder morgens war. Die Uhr zeigte kurz vor sechs, aber erst als die Sonne langsam im Meer verschwand, realisierte er, dass er fast 24 Stunden durchgeschlafen hatte. Onkel Josha musste wieder auf der Spätschicht sein und es dauerte sicher noch einige Stunden, bis er wieder nach Hause kam, dachte Maxim. Sein Magen knurrte, doch ein Blick in die leere Vorratskammer zeigte ihm, dass es hier in Sewastopol genauso wenig zu essen gab wie im Rest des Landes. In diesem Moment hörte er den Schlüssel in der Tür und Onkel Josha betrat unerwartet früh seine Wohnung.

      Später saßen sie gemeinsam am Küchentisch. Maxim schlürfte gerade den dritten Teller Suppe leer, die sein Onkel aus ein paar Kartoffeln, Zwiebeln und einem Stückchen Speck zubereitet hatte. „Danke“, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln.

      „Jetzt erzähl mal. Was führt dich hierher nach Sewastopol? Bist du abgehauen? Wo sind deine Eltern?“ Onkel Josha schien auf das Schlimmste gefasst, als er Maxim nach den Gründen seines unerwarteten Auftauchens befragte.

      Maxim begann zu reden, lange und ausführlich. Nur gelegentlich unterbrach er sich, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Er wollte nicht weinen.

      Onkel Josha saß derweil schweigend auf seinem Stuhl, den Blick abgewandt, und lauschte den Ausführungen seines Neffen. Er sagte kein Wort. Nur seine Augen kündeten von der tiefen Traurigkeit, die ihn angesichts der schlechten Nachrichten überwältigte.

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      Noch vor Sonnenaufgang wurde Maxim von seinem Onkel geweckt. Sie machten sich auf den Weg zum Strand und erreichten nach einer halben Stunde das Meer, das sich gerade in allen nur erdenklichen Rot- und Orangetönen zu färben begann. Nie zuvor hatte Maxim einen derart imposanten Sonnenaufgang gesehen, doch er vermutete, dass sein Onkel ihm nicht nur die schöne Natur zeigen wollte.

      „Siehst du die Schiffe dort am Horizont?“, fragte Onkel Josha und deutete mit seiner Hand hinaus auf das Wasser.

      Maxim versuchte in dem sich auflösenden Nebel zu erkennen, was der Onkel ihm zeigen wollte. Dann sah er die Schiffe. Dampfschiffe. Segelschiffe. Eine ganze Flotte säumte den Horizont. Es mussten mindestens hundert sein, schätzte er.

      „Es werden täglich mehr“, fuhr Onkel Josha fort. „Und sie gehen alle hier in Sewastopol vor Anker.“

      „Aber warum? Sind das Schiffe der Roten Armee?“, fragte Maxim.

      „Nein, das ist die Flotte von General Wrangel. Er hat alle verfügbaren Schiffe hier zusammengerufen, um so viele Menschen wie möglich zu evakuieren.“

      „Aber das ist doch großartig“, rief Maxim freudestrahlend.

      „Ja, das ist es. Aber wie du dir vielleicht vorstellen kannst, reicht der Platz an Bord dieser Schiffe niemals aus, um alle Menschen von der Insel zu evakuieren. Ärzte, Professoren, Politiker, Offiziere, Soldaten … Für die Menschen der oberen Schicht sind die Plätze reserviert. Und für die, die es sich leisten können, an den entscheidenden Stellen nachzuhelfen.“

      Maxim schaute betreten zu Boden. „Für uns gibt es also keinen Platz?“

      Onkel Josha kratzte sich am Kopf. „Für mich schon. Bis vorgestern gab es ja auch noch keinen Grund, sich um ein zweites Ticket zu kümmern.“

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