Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
1921
Sein Schädel brummte. Selbst die Augen zu öffnen, bereitete ihm Schmerzen. Maxim brauchte eine Weile, bis er seine Orientierung wiederfand. Er saß auf einer hölzernen Pritsche an eine kalte Wand gelehnt. Um ihn herum Menschen, die dicht gedrängt den engen Raum füllten. Hatte er es doch noch auf das Schiff geschafft? Bei diesem Gedanken glitt ein Lächeln über sein Gesicht, was er sofort bereute, als sein verletzter Hinterkopf sich meldete.
Er betastete die Wunde, sah das Blut an seinen Fingern kleben. Dann fiel sein Blick auf die Gitterstäbe, die den gesamten Raum umschlossen. Da wurde ihm klar, dass er in einer Gefängniszelle saß. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag, viel schmerzhafter als die Beule am Hinterkopf. Er hatte das Schiff verpasst und Onkel Josha würde in Konstantinopel vergeblich auf ihn warten. Sein Magen zog sich zusammen, er spürte Panik in sich aufsteigen.
„Wenn du kotzen musst, dann geh gefälligst da rüber.“
Der vor ihm auf dem Boden sitzende Mann deutete auf einen Eimer in der Ecke. Offenbar war ihm sein Gesichtsausdruck nicht geheuer. Tatsächlich spürte Maxim das unverkennbare Verlangen, sich übergeben zu müssen. Er drängte sich an den Männern vorbei, hinüber zu dem Eimer, gerade noch rechtzeitig, um seinen spärlichen Mageninhalt darin zu entleeren. Ein Fehler, den er sofort bereute, denn der Eimer diente den Zellinsassen als Latrine, die Maxim nun zum Überlaufen brachte.
Unter lautem Geschrei versuchten die Männer, die dem Eimer am nächsten saßen, Abstand zu gewinnen, was in der überfüllten Zelle aber kaum möglich war. Die stinkende Brühe aus Fäkalien und Erbrochenem breitete sich zwischen den auf dem Boden sitzenden Menschen aus, während Maxim sich immer noch mühte, seinen rebellierenden Magen in den Griff zu bekommen.
Eine plötzliche Detonation ließ den Raum erbeben. Putz bröckelte von den Wänden und Staub drang durch die vergitterten Fenster. Instinktiv hob Maxim seine Hände schützend über den Kopf, während er sich wie alle anderen auf den Zellenboden kauerte. Es folgten weitere Detonationen, aber nicht mehr ganz so dicht wie der erste Einschlag.
Die Männer drängten sich an das kleine Zellenfenster, versuchten, einen Blick hinaus auf die Straße zu erhaschen. Maxim hörte Schüsse. Artilleriefeuer. Das Geschrei von Menschen.
„Sie zerren sie aus den Häusern auf die Straße.“
„Was kannst du sehen? Nun sag schon, was passiert da draußen?“
Die Männer riefen alle gleichzeitig durcheinander, wollten unbedingt wissen, was draußen vor sich ging.
„Ich weiß es nicht, der Staub verdeckt die Sicht und ich habe nur einen verstellten Blick auf die Straße … Aber ich glaube, die Leute werden alle erschossen.“
Die Schreie der Menschen waren nun deutlich zu hören. Dazu kam das ununterbrochene Geschützfeuer. Gewehre. Schwere Artillerie. Es klang, als bräche die Hölle über sie herein. Die Schlacht um Sewastopol war in vollem Gang.
Plötzlich breitete sich Panik unter den Zelleninsassen aus. Die Schreie und das Gewehrfeuer waren jetzt direkt aus ihrem Gebäude zu hören. Offenbar hatten die Roten das Gefängnis gestürmt. Todesahnung machte sich unter den Insassen breit, als bewaffnete Soldaten in den Gang vor ihrer Zelle traten. Sie trugen Maschinengewehre, welche sie nun feist grinsend auf die eingesperrten Menschen richteten. Die Gefangenen versuchten, sich außer Reichweite der todbringenden Kugeln zu bringen. Doch es gab in der engen Zelle kein Entrinnen. Dann krachten die Schüsse. Mehrere Salven fegten durch den Käfig, brachten Tod und Zerstörung.
Maxim lag auf dem Boden, wie durch ein Wunder völlig unversehrt. Keine einzige Kugel hatte ihn getroffen. Sein Gesicht wurde durch das Gewicht der über ihm liegenden Toten und Verwundeten in den Dreck gedrückt. Blut tropfte auf ihn herab. Er fürchtete, den Verstand zu verlieren. Dann wurde die Tür entriegelt, Männer mit schweren Stiefeln betraten die Zelle.
Er stellte sich tot, konnte aber aus halb geöffneten Augen die langen schwarzen Mäntel erkennen. Tschekisten, dachte er erschrocken. Plötzlich krachte ein Schuss. Dann noch einer. Und noch einer. Die Männer hievten die toten und verwundeten Körper zur Seite, exekutierten jeden, der noch am Leben war. Maxim spürte Erleichterung, als sie den auf ihm liegenden Körper zur Seite rollten. Wieder ein Schuss. Diesmal aus nächster Nähe. Er zuckte zusammen, hatte sich verraten. Panisch schrie er auf, dass sie ihn verschonen sollten, doch da spürte er bereits einen schweren Stiefel in seinem Genick und den heißen Lauf der Pistole an seiner Schläfe. Maxim schrie weiter, als könne er damit das Unausweichliche doch noch abwenden.
Plötzlich löste sich der Druck auf seinem Hals wieder und Maxim konnte aus dem Augenwinkel einen Mann erkennen, der nun humpelnd die Zelle betrat. Er zog beim Gehen sein rechtes Bein nach. Auch er trug den Mantel der Tscheka. Der Mann ging in die Hocke, beugte sich zu Maxim hinunter, drehte sein Gesicht zur Seite, sodass sich ihre Blicke begegneten.
Maxim erkannte ihn. Er hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit das Leben gerettet.
Hunger und Typhus
Osterwick 1921
Als das Fieber wich, erhob sich Willi schwerfällig von seinem Bett. Er erschrak beim Anblick seiner dünnen Beine, wusste nicht, ob sie ihn tragen würden. Es mussten Wochen vergangen sein. Wochen, in denen er mit dem Tod rang.
Willi zog sich eine Hose an, in die er gut und gerne zweimal hineinpasste, und schlurfte langsam hinüber in die Küche. Den Hunger empfand er als gutes Zeichen. Hoffentlich hatte Mutter etwas von ihrer leckeren Hühnersuppe gekocht. Doch in der Küche angekommen, fand er sie ebenso verlassen vor wie den Rest des Hauses.
Erst jetzt fiel ihm die ungewöhnliche Stille auf. Normalerweise hallte durch das Haus der Bergens wildes Kindergeschrei. Was war geschehen? Willi strich mit der Hand über den kalten Ofen, warf einen Blick in die leere Speisekammer. Konnte es wirklich wahr sein, dass die Machnowzi ihnen alles weggenommen hatten?
„Willi, Junge, es geht dir besser.“
Willi drehte sich um, blickte in das ausgezehrte Gesicht seiner Mutter. Um ihre Augen lag ein trauriger Schleier, der sie älter aussehen ließ.
„Mama, ja, es geht mir wieder besser. Und ich habe einen Bärenhunger.“
Maria lächelte, offensichtlich erleichtert, dass ihr Sohn das Fieber überstanden hatte.
„Das ist gut“, sagte sie. „Aber hilf mir bitte, wieder zurück in mein Bett zu kommen.“
Willi stützte seine Mutter. Auch wenn er selbst noch sehr schwach war, ging es seiner Mutter noch viel schlechter als ihm. Er half ihr, sich wieder hinzulegen, bemerkte erst jetzt die unberührte Schlafstätte seines Vaters.
„Wo ist Papa?“
Maria nahm die Hand ihres Sohnes. „Er ist vor zwei Wochen gestorben. Hunger und Typhus waren zu viel für ihn.“
Willi vernahm ihre Worte, spürte aber, dass deren Bedeutung nicht zu ihm durchdrang. Er saß auf der Bettkante neben seiner Mutter, hielt ihre Hand und sah, wie ihr die Tränen kamen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Vater war gestorben, ohne dass er sich von ihm verabschieden konnte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass es ihm so schlecht ging. Das Letzte, woran sich Willi erinnerte, war, wie sein Vater sich trotz des Hungers mühte, die Familie am Leben zu erhalten. Doch dann kam das Fieber und Willis Erinnerungen verschwammen in einem Nebel.
„Und du? Wie geht es dir? Hast du auch das Fieber?“, fragte er schließlich seine Mutter.
„Nein, kein Fieber. Es ist nur der Hunger, der mich so schwächt. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt etwas Richtiges gegessen habe.“
„Soll ich dir etwas besorgen? Brot, Milch, Fleisch, was immer du willst.“
Maria lächelte ihren Sohn an, erfreut, dass es ihm wirklich besser ging. „Nein, nein, mach dir keine Mühe. Wir haben doch alle nichts mehr.“
So langsam wurde Willi das ganz Ausmaß der Katastrophe bewusst. Die Machnowzi hatten über Monate hinweg in der ganzen Region Chortitza