Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
Beljajew war ein Mann der Tat. Sein ganzes Leben schon hatte er Probleme gelöst und dies gelang ihm selten nur durch intensives Nachdenken oder Grübeln. Irgendwann kam immer die Zeit zum Handeln. Josha war es unbegreiflich, warum so viele seiner Landsleute sich ihrer Melancholie hingaben, statt die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen boten.
Sein Neffe war unerwartet in Sewastopol aufgetaucht und nun lag es an ihm, dem Jungen Zugang zu einem dieser Schiffe zu verschaffen. Es blieben noch achtzehn Tage Zeit, dieses Problem zu lösen.
Maxim verbrachte die folgenden Tage hauptsächlich mit Lesen und Schlafen. Onkel Josha besaß glücklicherweise einen großen Fundus an spannenden Büchern. Anfangs verließ er die kleine Wohnung noch öfter, um die Stadt zu erkunden, doch die Atmosphäre wurde mit jedem Tag aggressiver.
Die Menschen wussten nicht wohin mit sich und sorgten sich um ihre Zukunft. Als dann das Gerücht aufkam, die Roten hätten mit der Invasion der Krim begonnen, da entlud sich die allgemeine Anspannung in Panik. Plünderer machten sich über die Geschäfte und Wohnungen her. Menschen beschimpften oder prügelten sich aus den nichtigsten Anlässen. Es kam zu Aufständen vor dem Rathaus, dem Hauptquartier von General Wrangel, und die Miliz sah sich kaum noch in der Lage, die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Erst als die Armee mit massivem Waffeneinsatz zur Hilfe kam, gelang es, die Situation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Die verzweifelten Menschen flohen vor den Kugeln der Soldaten, deren Schutz sie ursprünglich gesucht hatten. Es wurde immer deutlicher, dass die Armee nicht mehr dem Schutz der Bevölkerung diente, sondern nur noch versuchte, sich selbst zu retten. Der Krieg war verloren und die Evakuierung bereits in vollem Gange. Eine Evakuierung, von der die meisten Bewohner von Sewastopol nichts mitbekamen, da die Armeeführung eine nächtliche Ausgangssperre verhängte. Im Schutz der Nacht brachte man die gelisteten Personen auf die Schiffe. Die, die nicht auf den Listen standen, verkrochen sich in ihren Kellern, Wohnungen und Geschäften, versuchten sich zu verbarrikadieren und dem heraufziehenden Sturm zu trotzen. Dabei wussten sie, dass ein paar Bretter sie niemals vor dem Zorn der Roten Armee würden schützen können.
„Ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden.“ Onkel Josha klang nicht sehr zuversichtlich, aber seine Worte weckten dennoch Hoffnung in Maxim. „Du hast doch erzählt, dass du die Papiere eines Journalisten aus Kiew bei dir trägst.“
Maxim nickte und legte die Papiere auf den Küchentisch.
„Gut“, sagte Onkel Josha zufrieden. „Diese Papiere sind wohl deine einzige Chance, um morgen an Bord zu gelangen. Ich habe alles versucht, doch es wollte mir einfach nicht glücken, einen weiteren Platz zu ergattern. Die Schiffe sind restlos überfüllt und man kann nur hoffen, dass sie nicht auf hoher See kentern.“
„Ja, aber was nützen mir dann meine Papiere?“, unterbrach ihn Maxim aufgeregt.
„Ich konnte anhand der Passagierlisten herausfinden, dass noch nicht alle Kontingente vollständig ausgeschöpft sind. Zumeist liegt es daran, dass sich bestimmte Personengruppen gar nicht mehr in Sewastopol aufhalten. Dazu gehören zum Beispiel auch Journalisten. Die Offiziere füllen diese Kontingente dann mit Personen, die in anderen Kontingenten auf der Warteliste stehen. Zum Glück ist es mir noch gelungen, einen Platz für dich im Pressekontingent zu reservieren.“
„Aber das ist doch großartig“, freute sich Maxim und sprang von seinem Stuhl auf. Doch er merkte schnell, dass Onkel Josha seine Freude nicht teilte.
„Das Problem ist, dass jeder, der in diese Listen eingetragen wird, bei seiner Anmeldung einen Passierschein erhält, der ihm den Zugang zu den Schiffen sichert. Du konntest dich nicht persönlich anmelden, weil die Zeit dafür viel zu knapp war. Du hast also auch keinen Passierschein und musst hoffen, dass diese Papiere ausreichend sind.“
Es klopfte an der Tür.
„Wir reisen nicht zusammen, Maxim.“ Josha Beljajew sah seinen Neffen besorgt an. „Mein Schiff legt bereits heute Abend ab und die Soldaten kommen, um mich zu holen. Unsere Wege trennen sich hier. So Gott will, sehen wir uns schon bald in Konstantinopel wieder.“ Er nahm seinen Neffen in den Arm, küsste ihn zärtlich auf die Stirn.
„Hör mir jetzt gut zu, Maxim. Erinnerst du dich an die Stelle am Strand, wo ich dir zum ersten Mal die Schiffe gezeigt habe? Warte nicht darauf, dass dich jemand hier abholt. Du musst morgen früh pünktlich um fünf an genau dieser Stelle sein. Du kannst einen Koffer mitnehmen, darfst auf gar keinen Fall deine Papiere vergessen. Du hast zwar keinen Passierschein, aber ich konnte dem Führer des Beibootes genügend Rubel zustecken, dass ihm deine Ausweise wohl genügen werden. Es ist deine einzige Chance. Viel Glück, mein Junge.“
Onkel Josha nahm seinen Koffer in die Hand und war kurz darauf verschwunden.
Am nächsten Morgen verließ Maxim um kurz nach vier das Haus. Es war eine stockfinstere Nacht. Die Wolken verdeckten den Sternenhimmel und die Straßenbeleuchtung blieb aufgrund des Kriegsrechts abgedunkelt. Auch aus den Wohnungen und Häusern drang um diese Uhrzeit kein Licht, sodass Maxim aufpassen musste, nicht über das holprige Kopfsteinpflaster zu stolpern.
Er kam nur langsam voran, weil er jeden Lärm vermeiden wollte, um nicht von einer Patrouille aufgegriffen zu werden. Er sorgte sich, nicht rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt anzukommen. Als er endlich den Ostrjakova-Prospekt erreichte, hielt er kurz inne, versuchte, irgendetwas auf dem Platz zu erkennen, den er nun gezwungenermaßen überqueren musste. Hier gab es keine schützenden Hauseingänge mehr, in denen er sich verstecken konnte, und Maxim hoffte, unbemerkt auf die andere Seite zu gelangen. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zum Strand.
Er hatte den Platz gerade zur Hälfte überquert, da erklang von rechts aus dem Dunkeln der gefürchtete Befehl: „Halt! Keinen Schritt weiter!“ Eine Patrouille. Die Männer hoben eine Laterne, deren schwacher Lichtschein aber nicht bis zu ihm hinüberreichte. Maxim beeilte sich, schnell im Schutz der gegenüberliegenden Häuser zu verschwinden. Doch plötzlich flackerte auch dort das Licht einer Laterne auf. Eine zweite Patrouille.
Maxim fluchte und rannte, so schnell er konnte, nach links. Er musste weg von diesem Platz. Doch es war bereits zu spät. Die Soldaten nahmen die Verfolgung auf. Er hörte ihre Schritte auf dem Asphalt. Sie rannten hinter ihm her, trieben ihn in die Enge. Er erreichte die ersten Gebäude und versteckte sich sofort in einem Hauseingang. Vielleicht würden die Soldaten ja vorbeilaufen. Doch den Gefallen taten sie ihm nicht. Sie hielten eine Laterne in den Hauseingang und Maxim blickte in drei Gewehrläufe, deren aufgesteckte Bajonette seinem Gesicht bedrohlich nahekamen. Zitternd hob er die Hände.
„Die Ausgangssperre endet erst um sechs. Was hast du hier zu suchen, Freundchen?“ Zwei Soldaten zerrten ihn grob auf die Straße und hielten ihn mit ihren Gewehren in Schach, während der dritte Uniformierte Maxims Taschen durchsuchte.
„Ich bin auf dem Weg zu meinem Schiff, es legt schon um fünf Uhr ab“, versuchte Maxim sich zu erklären.
„Niemand geht allein zu den Schiffen. Wo ist dein Passierschein?“
„Ich stehe auf der Liste. Mein Name ist Roman Alexej Andrejew. Ich bin Journalist aus Kiew und werde an Bord erwartet“, überschlug sich Maxim zu erklären. Er spürte, dass ihm die Zeit davonlief.
„Ohne Passierschein geht niemand an Bord. Du kommst jetzt erst mal mit, bis wir geklärt haben, was wir mit dir machen.“
„Nein! Nein!“, schrie Maxim. „Ich kann nicht mitkommen. Um fünf muss ich am Treffpunkt sein, sonst legt das Schiff ohne mich ab.“ Panisch versuchte er, sich von den Soldaten loszureißen, doch die hatten offenbar mit einem Fluchtversuch gerechnet. Geschickt verstellten sie ihm den Weg und hielten ihn fest, auch als Maxim immer wilder um sich schlug.
Er schrie, es war ihm nun alles egal. Er musste nur weg von hier, den Treffpunkt erreichen … Konstantinopel … Onkel Josha … Er durfte das Schiff auf keinen Fall verpassen! Dann traf ihn ein harter Schlag am Hinterkopf und Maxim versank in Dunkelheit.