Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
Stehende, um die Pläne der Partei zu unterstützen, Genosse Popov“, erwiderte der Kommissar, sichtlich bemüht, sein zuvor gezeigtes Verhalten zu korrigieren.
„Natürlich werden Sie das.“ Popov empfand die Diskussion von Selbstverständlichkeiten als lästige Zeitverschwendung und machte sich gar nicht erst die Mühe, den Kommissar in seine Pläne einzuweihen. „Ich benötige ein Büro sowie unbegrenzten Zugriff auf Ihre Leute. Wie viele Männer stehen derzeit unter Ihrem Kommando?“
„Im gesamten Rajon verfügen wir über 22 Milizionäre. Dazu kommt noch eine nicht bekannte Anzahl von Tschekisten, die sich aber unserer Kontrolle entziehen. Sie werden von Major Kalinin befehligt. Hin und wieder tauchen sie hier auf, um ihre Berichte nach Moskau zu telegrafieren. Meistens bringen sie auch Gefangene, die wir in die Arrestzellen sperren, bis über ihr weiteres Schicksal entschieden ist.“
Popov wusste, dass es auch in Jekaterinoslaw von Geheimdienstleuten nur so wimmelte. Mit dem Vorrücken der Roten Armee und der damit verbundenen Aussicht auf das nahende Kriegsende entsandte die Regierung ihre Schlägertruppen in alle Regionen des riesigen Reiches, um die neuen Machtstrukturen hinter dem Frontverlauf umgehend zu festigen.
„Es sind auch zwei oder drei weibliche Beamte unter ihnen“, sagte der Kommissar. „Sie tragen die gleichen Lederjacken wie ihre männlichen Kollegen, und darunter ziehen sie Männerhosen und Hemden an. Man erkennt erst auf den zweiten Blick, dass es sich um Frauen handelt. Sie verstecken die Haare unter ihren Mützen.“
Popov hatte schon von diesen Frauen gehört. Sie wurden ganz bewusst angeworben, da sie sich für bestimmte Verhörsituationen besser eigneten als Männer. Mancher Gefangene empfand die Befragung durch eine Frau als weniger bedrohlich und verfing sich ihr gegenüber in leichtfertige Plauderei. Umso schockierter war er dann, wenn die Frau ihre freundliche Fassade ablegte, um sich anschließend brutaler und rücksichtsloser als ihre männlichen Kollegen zu erweisen. Eine klassische Verhörstrategie der Tscheka, um den Gefangenen wichtige Informationen zu entlocken. Popov erinnerte sich, dass man den Tscheka-Frauen in jeglicher Hinsicht Hemmungslosigkeit nachsagte, aber er zwang sich, diesen erregenden Gedanken sofort wieder zu vertreiben.
Popov lernte Major Kalinin auf sehr viel unspektakulärere Weise kennen als befürchtet. Drei Tage nach seiner Ankunft klopfte der Major an die Tür seines Büros, stellte sich höflich vor und schien bereits über alles informiert zu sein. Es bereitete Popov keinerlei Mühe, die neuen Befehlsstrukturen zu erläutern, da sich Major Kalinin als äußerst kooperativ erwies. Vielleicht hätte er doch ganz gut mit ihm zusammenarbeiten können, dachte Popov mit leichtem Bedauern, als er die Versetzungspapiere aus seinem Aktenkoffer holte und sie Kalinin überreichte.
Versetzung
Jekaterinoslaw 1921
Das Hotel Astoria galt seit jeher als die beste Adresse in Jekaterinoslaw. Selbst die marodierenden Banden Nestor Machnows hatten seinem Glanz nichts anhaben können, was wahrscheinlich daran lag, dass ihr Anführer höchstpersönlich sein Quartier hier bezog. Den übrigen Hotels und Geschäften, die den Katharinen-Prospekt säumten, erging es nicht so glimpflich. Doch nach Abzug der Machnowzi erholten auch sie sich schnell, sodass hier im Stadtkern von Jekaterinoslaw kaum noch etwas an die kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngsten Vergangenheit erinnerte.
Im Hotel Astoria wussten sie aus dem Besuch Nestor Machnos gar ihren Profit zu schlagen: Man hängte mehrere Fotos mit seinem Konterfei auf. Zweifelsohne war er eine der größeren Berühmtheiten, mit deren Besuch sich jedes Hotel gerne schmückt. Kalinin brachte dafür nur wenig Verständnis auf. In seinen Augen war Machno ein geistesgestörter Anarchist, der letztlich über seine eigene Maßlosigkeit stolpern musste. Es gab Gerüchte, dass er sich mittlerweile auf der Flucht in Richtung Rumänien und seine Armee sich in Auflösung befand.
Kalinin füllte sich ein drittes Glas mit Wodka und sah sich in der Hotellobby um. Tschekisten, Journalisten und Geschäftsleute, die schon bald nach Ende der Auseinandersetzungen auftauchten, um die Lage in den örtlichen Kohlewerken zu sondieren. Sie wollten frühzeitig ihre Pfründe sichern. Ein schwieriges Unterfangen, da niemand mit Gewissheit sagen konnte, welche politischen Rahmenbedingungen die neue Regierung in Moskau setzen würde.
Kalinin machte es sich auf einem edlen, lederbezogenen Kanapee gemütlich. Er stellte die Wodkaflasche, die sich schneller leerte, als es ihm guttat, auf einem kleinen Beistelltisch ab. Die umnebelnde Wirkung des Alkohols setzte bereits ein und die umstehenden Tschekisten begannen zu tuscheln und sich verstohlene Blicke zuzuwerfen. Sie hatten ihren Chef noch nie zuvor betrunken erlebt. Tatsächlich verabscheute Kalinin den weitverbreiteten Hang seiner Landsleute, sich maßlos zu besaufen, doch heute Abend verzichtete er auf jegliche Selbstdisziplin. Schon morgen würde er Jekaterinoslaw verlassen und keinen dieser Schläger jemals wiedersehen. Er zog die zusammengefalteten Papiere aus seiner Tasche und las sie zum wiederholten Mal.
„An Major Anton Kalinin. Sofortige Versetzung nach Cherson. Leitung der dortigen Einheit zur Bekämpfung konterrevolutionärer Aktivitäten im vorrückenden Frontverlauf …“ Den Rest konnte er sich sparen, wusste er doch nur zu gut, welche Aufgabe ihn erwartete. Wie nach jedem Krieg blieben auch hier in der Ukraine genügend Menschen zurück, die sich den neuen Machthabern unter keinen Umständen unterwerfen wollten. Menschen, die von den Frontlinien überrollt wurden und dabei alles verloren hatten. Neben den Politischen stellten diese Leute die größte Gefahr für eine Befriedung des Landes dar. Er sollte sie ausfindig machen und liquidieren. Eine Aufgabe, die Kalinin schon während des großen Krieges hasste, da es fast immer die Falschen traf. Auch hier galt das Gesetz der großen Zahlen, obwohl jeder wusste, dass die meisten Opfer völlig unschuldig starben. Kalinin hatte gehofft, dieses Kapitel seines Lebens endlich hinter sich lassen zu können.
Seine Gedanken verflogen, als sich Masha, eine der weiblichen Tschekisten, neben ihn auf das Kanapee setzte, ihr volles Wodkaglas zum Gruß erhoben. Kalinin füllte sich nach, um mit der Kollegin anzustoßen. Mittlerweile standen nur noch wenige Leute in der Lobby herum und er fühlte sich etwas unbehaglich, allein neben dieser Frau zu sitzen. Er war immer sehr darauf bedacht, seinen Mitarbeitern keinen Grund für unnötiges Gerede zu geben. Obwohl Masha es niemals gewagt hätte, ihrem Chef offen Avancen zu machen, ließ die Art, wie sie selbst dienstliche Gespräche mit ihm führte, erahnen, dass sie mehr für ihn empfand. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Kalinin schaute ihr dabei zu, wie sie das Glas in einem Zug leerte, verlor sich dann im Anblick ihrer feuchten, vollen Lippen.
„Was ist mit Ihnen?“, fragte Masha schnippisch. „Ich dachte, wir trinken gemeinsam.“
Kalinin sah irritiert auf sein Glas und antwortete verlegen: „Aber ja. Natürlich. Entschuldigung.“ Er stürzte den Wodka hinunter. Der Alkohol brannte in seiner Kehle.
„Warum so trübsinnig, Major Kalinin?“
Masha schenkte ihnen nach und Kalinin konnte seinen Blick nicht von ihrem üppigen Busen abwenden, der sich unter dem groben Baumwollhemd abzeichnete. Sie trug heute nicht die typische Uniform der Tschekisten, war aber immer noch viel männlicher gekleidet als für Frauen üblicherweise schicklich. Doch tat dies ihrer Anziehungskraft keinerlei Abbruch.
Kalinin schob ihr die Versetzungspapiere hinüber. Sie überflog die Zeilen mit einem Stirnrunzeln. „Schade“, war das Einzige, was sie sagte.
„Schade?“, fragte Kalinin. „Wieso schade?“
„Nun, ich hatte gehofft, wir könnten noch ein wenig länger zusammenarbeiten, Major Kalinin.“ Sie strich mit ihren langen Fingern über seinen Handrücken.
Kalinin sah sie schweigend an. Er spürte, wie ihm alle Energie in die Leibesmitte schoss, unfähig, auch nur ein weiteres vernünftiges Wort über die Lippen zu bringen. Masha zog irritiert ihre Hand zurück, verunsichert, ob sie vielleicht zu weit gegangen war.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe“, sagte sie.
„Nein, bitte bleib.“
Kalinin