Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
hörte, wie sie die Metallkiste untersuchten, begleitet von Maxims Beteuerungen, dass er nicht gelogen hatte.
„Ich wusste es doch. Du wolltest dich nur wichtigmachen. Was sollen wir denn bitteschön mit einem Gewehr ohne Munition anfangen?“ Erwin klang gereizt, wollte sich Maxims Geschichten nun nicht länger anhören. „Such erst mal die Munition und wenn du sie gefunden hast, kannst du mir ja noch mal Bescheid geben.“
Erwin machte kehrt und ließ den konsternierten Maxim allein im Wald zurück. Willi rührte sich noch immer nicht von der Stelle, sondern wartete geduldig, bis auch sein Freund wieder verschwunden war. Dann schlich er leise durch das Wäldchen, hinüber zu dem Versteck, das er sich für die Patronengurte ausgedacht hatte.
Vergeltung
Osterwick 1920
Sonntag. Die Machnowzi wussten, wann und wo sich die Osterwicker am besten zusammentreiben ließen. Zwanzig in Lumpen gekleidete Banditen preschten auf ihren Pferden durch das Dorf, hielten geradewegs auf das große Bethaus am Ende der Hauptstraße zu, wo die Mennoniten sich wie jeden Sonntag zum Gottesdienst versammelten. Das Bethaus, ein viereckiges, schlichtes Steingebäude ohne Kirchturm, war an allen Seiten mit hohen, blank geputzten Rundbogenfenstern versehen. Die Mennoniten benötigten nichts weiter als einen zweckmäßigen Versammlungsraum, der im besten Fall bis zu vierhundert Menschen Platz bieten konnte. Trotz der einfachen Bauweise erkannte man überall die Sorgfalt der Handwerker, die sich beim Bau dieses Gebäudes besondere Mühe gegeben hatten. Jede einzelne Dachpfanne saß noch immer an ihrem Platz, nirgendwo bröckelte der Putz und selbst die Farbe an den Wänden zeigte nach all den Jahren kaum einen Riss.
Die Machnowzi verachteten die Lebensweise der Deutschen, da der krasse Gegensatz ihnen die eigene ärmliche Herkunft so deutlich vor Augen führte. Sie fanden es daher nur gerecht, als ihr Anführer die hölzerne Doppeltür des Bethauses mit lautem Krachen aus den Angeln trat. Er benötigte keine Kanzel, um die Aufmerksamkeit der verängstigten Menschen zu erlangen. Ein einfacher Befehl, und sie setzten sich in Bewegung. „Alle raus“, zischte er in die angespannte Stille.
Es dauerte keine drei Minuten, bis auch das letzte Kind, am Rockzipfel seiner Mutter klammernd, draußen auf dem gepflasterten Vorplatz stand. Niemand sprach ein Wort. Alle wussten, warum die Machnowzi gekommen waren.
„Ich bin auf der Suche nach einem meiner Männer“, richtete sich der Anführer an die Menge. Er redete leise, würdigte die Menschen dabei keines Blickes. Dennoch konnten sie ihn gut verstehen. Seine Männer hatten sich in einem Halbkreis hinter ihm aufgestellt, hielten ihre Revolver und Karabiner im Anschlag. Eine absurde Situation, dachte Willi. Da standen zwanzig zerlumpte Banditen einer Schar von fast vierhundert Mennoniten gegenüber, unter ihnen einige Männer, die immer noch kräftig genug waren, diese Banditen aus dem Dorf zu jagen. Doch niemand von ihnen verfügte über Kampferfahrung oder wusste, wie man sich mittels körperlicher Gewalt zur Wehr setzte. Plötzlich überfiel Willi die Angst, dass es vielleicht doch nicht so klug war, die Patronengurte zu verstecken. Er hatte selbst unter Maxims Schlägen, der ahnte, dass Willi hinter dem Verschwinden der Munition steckte, nichts verraten.
„Dimitri hat vor zwei Wochen Chortitza verlassen“, fuhr der Anführer mit leiser, fast höflicher Stimme fort. „Er sollte hier in Osterwick auf neue Instruktionen warten. Doch der Bote kam mit der Nachricht zurück, dass er Dimitri nicht finden konnte.“
Immer noch richtete er seinen Blick nicht auf die vor ihm stehende Menschenmenge. Während er sprach, legte er eine Kugel nach der anderen in die Trommel seines Revolvers, was jedes Mal ein leises Klicken verursachte.
„Wir haben ihn gesucht, doch seine Spur verliert sich hier in Osterwick.“
Der Mann hatte seinen Revolver jetzt geladen und hielt die Waffe auf die Mennoniten gerichtet, die unwillkürlich einen Schritt zurückwichen.
„Wo ist Dimitri?“, brüllte er sie plötzlich an, sodass die Dorfbewohner erschrocken zusammenzuckten. Niemand wagte es, ihm zu antworten.
„Meine Geduld ist sehr begrenzt. Wenn nicht gleich jemand von euch das Maul aufmacht, werde ich einen nach dem anderen von euch erschießen.“
Willi stand dicht neben seinem Vater. Er spürte die Angst, die ihn und alle Osterwicker lähmte. Er fragte sich, ob es jemand wagen würde, die Wahrheit zu sagen? Vielleicht könnte seine Mutter dem Mann erklären, dass alles nur ein schrecklicher Unfall war?
„Es war ein Unfall.“
Erschrocken über diese prompte Antwort sah Willi hinüber zu Abram Dyck, der sich der sofortigen Aufmerksamkeit des Anführers gewiss war.
„Er wollte sich ungebührlich an einer verheirateten Frau vergreifen und ihr Gewalt antun.“
Willi hielt den Atem an, bewunderte den Pastor für seine mutigen Worte, erwartete zugleich aber das Krachen des Revolvers.
„Um die Frau zu schützen, ist es zu einem Gerangel gekommen, infolgedessen der Mann zu Tode kam. Wie gesagt, ein schrecklicher Unfall.“
Abram Dyck senkte den Blick wieder zu Boden, seine Hände hielten den schwarzen Hut mit zittrigen Händen fest umklammert und seine Schultern erschlafften. Es schien, als ob sein Mut nur für diesen kurzen Augenblick ausreichte. Man sah ihm die Erleichterung an, wieder in der Anonymität der Menge verschwinden zu können. Doch der Anführer ließ ihn noch nicht vom Haken.
„Wer ist dafür verantwortlich?“, schrie er ihn an.
In diesem Moment gingen viele heimliche Blicke in Richtung der Bergens. Sie schienen zu flehen: Nun bekennt euch doch endlich zu eurer Tat und beendet unsere Qual. Willi konnte es nicht fassen. Würden diese frommen Menschen seine Familie mit einem einzigen Blick ans Messer liefern? Dem Anführer der Machnowzi waren die Blicke nicht entgangen. Er richtete seine Waffe nun auf die Bergens.
„Wer ist dafür verantwortlich?“
Maria atmete tief durch. Sie straffte sich, bereit, nach vorne zu treten. Nun war der Moment gekommen, sich für den Tod des Mannes zu verantworten. Doch gerade als sie sich in Bewegung setzen wollte, hielt sie von hinten eine starken Hand zurück. Juri Orlow drängte sich an ihr vorbei und trat nach vorne.
„Ich habe ihn getötet.“
Man konnte die Verwunderung in den Augen des Banditen erkennen, als Juri vor ihm stand. „Du?“, fragte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Waffe genau auf Juris Kopf gerichtet. In diesem Moment traten sechs Machnowzi aus der Reihe und erhoben ihre Gewehre.
„Für jeden von uns sterben sieben von euch. Klingt das nicht irgendwie biblisch?“ Dann krachten sieben Schüsse gleichzeitig.
Panik ergriff die Menge und die Mennoniten stoben auseinander. Zurück blieben sieben Menschen, die tödlich getroffen auf den Pflastersteinen vor der Kirche zusammenbrachen. Unter ihnen auch Juri Orlow, dem die Kugel aus nächster Nähe den Kopf zerfetzt hatte. Und ein mutiger Pastor, der bis zu seinem letzten Atemzug dafür gekämpft hatte, Gewalt nicht mit Gegengewalt zu begegnen.
Nachdem die Machnowzi verschwunden waren, erhoben sich die ersten Klagelaute über dem Dorf. Die Menschen standen unter Schock und es war ihnen auch in den Tagen darauf nicht möglich, zur Normalität zurückzukehren.
Die Toten wurden begraben, nachdem man noch verzweifelt versucht hatte, dreien von ihnen das Leben zu retten. Aber auch ihre Verletzungen erwiesen sich als zu schwer, sodass den Familien nichts weiter übrig blieb, als die Leidenden im Arm zu halten, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Ein trauriger Abschied, gefolgt von einer stillen Zeremonie, bei der niemand die Worte fand, die dieses Unheil ein wenig lindern konnten.
Willi fühlte sich schuldig. Schuldig, weil er den Menschen die Waffe vorenthalten hatte, mit der sie sich vielleicht hätten verteidigen können. Er wollte doch nur das Richtige tun. Stattdessen war so ein Unglück über sie gekommen. Doch auch jetzt behielt er sein Wissen immer noch für sich, weil er die Reaktion seiner Eltern fürchtete. Auch Maxims Verhalten wusste er nicht einzuschätzen, hatte der doch gerade den letzten Menschen seiner Familie verloren.