Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki


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der dort liegenden Männer zu zerquetschen.

      Kalinin stieg aus, um sich einen Überblick zu verschaffen. Wer waren diese Vagabunden und wie hatten sie sich Zutritt zur Kaserne verschaffen können? Wo war General Fjodrov? Niemand schien seine Anwesenheit zu registrieren, als er langsam den Kasernenhof überquerte. Die, die nicht schliefen, zogen sich unter lautem Gegröle ihrer Kameraden Frauenkleider an, trugen Puder und Schminke auf und ließen ohne Pause die Wodkaflaschen kreisen. Hier und da flogen die leeren Flaschen in hohem Bogen davon, zerschellten achtlos zwischen den lagernden Männern. Kalinin trat mehrmals auf Glasscherben, die knirschend unter seinen Sohlen zerbrachen.

      „Wer bist du und was willst du hier?“ Kalinin war überrascht, eine klare und deutliche Stimme zu vernehmen, die dennoch so gar nicht zu dem kleinen Mann passte, der sich ihm unvermittelt in den Weg gestellt hatte.

      „Major Kalinin. Ich will zu General Fjodrov.“

      Der kleine Mann sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als ob ihn die Sonne blendete. So sieht wohl Diensteifer aus, dachte Kalinin schmunzelnd, weil der Mann trotz seines großspurigen Gehabes keinerlei Autorität ausstrahlte. Er sprach wahrscheinlich nur deshalb mit Kalinin, weil er als Einziger noch nüchtern war.

      „Da hinten.“ Er zeigte mit seinem Arm, der von einer viel zu kurzen, schmutzigen Uniformjacke bedeckt wurde, auf ein Ziegelsteingebäude am Ende des Kasernenhofs. „Da hinten sitzen die Roten.“

      Als Kalinin und seine Männer das Gebäude erreichten, wurde ihnen sofort geöffnet. Hier verfehlte die Uniform der Tschekisten nicht ihre Wirkung. Keiner der anwesenden Rotarmisten wäre auf die Idee gekommen, Kalinin nach seinem Ausweis zu fragen.

      „Wo ist General Fjodrov?“, herrschte Kalinin die Soldaten an.

      „General Fjodrov und die 32. Division der Roten Armee sind weiter nach Süden gezogen, um den Weißen den Todesstoß zu versetzen, Major Kalinin. Ich freue mich, Sie hier in Jekaterinoslaw wiederzusehen.“ Der Mann, der ihn so begrüßte, war Major Poljakow. „Kommen Sie bitte mit in mein Büro, dann erkläre ich Ihnen, was sich hier während Ihrer Abwesenheit ereignet hat.“

      Kalinin folgte dem Mann, setzte sich auf einen Stuhl und wartete auf den Bericht.

      „Jekaterinoslaw wurde vor drei Tagen dem Befehl Nestor Machnos unterstellt. Seine Männer haben den Auftrag, die Stadt zu sichern, während unsere Truppen den Weißen hinterherjagen.“

      Kalinin musste lachen: „Sichern? Diese Männer sollen Jekaterinoslaw sichern? Das sind betrunkene Bauern, denen man eine Waffe in die Hand gedrückt hat. Und die sollen jetzt eine ganze Stadt sichern?“

      Poljakow zuckte mit den Schultern. „Wir sind im Krieg. Und im Krieg kann man sich seine Verbündeten nicht immer aussuchen. Außerdem haben sie sich als äußerst nützlich bei der Eroberung dieser Stadt erwiesen. Ohne ihre Hilfe hätten wir die Weißen nicht so schnell vertrieben.“ Er entzündete eine Zigarette und bot sie – ohne einen Zug zu nehmen – Kalinin an.

      Kalinin lehnte ab. „Was soll dieser Aufzug? Warum die Frauenkleider und die ganze Schminke?“

      „Sie greifen sich alles, was sie in die Finger bekommen. Egal was es ist. Sie rauben die Bevölkerung aus, haben selbst aber eine Heidenangst davor, bestohlen zu werden. Deshalb ziehen sie die Kleider an. Lächerlich, nicht wahr?“ Poljakow blies den Rauch seiner Zigarette an die Decke. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich.

      Kalinin konnte es nicht fassen. „Und wieso gebieten Sie diesem Treiben keinen Einhalt?“, fragte er den Major.

      „Einhalt? Wir sollen diesem Mob Einhalt gebieten? Wie stellen Sie sich das vor, Major Kalinin? Unsere Einheit besteht nur noch aus zwanzig Mann. Als wir gestern einen Trupp losschickten, um die Lage in der Stadt zu sondieren, kamen die Männer völlig verstört zurück. Sie mussten tatenlos mit ansehen, wie sich diese Banditen auf einen Mann stürzten, ihn mit ihren Säbeln buchstäblich in Stücke hackten. Und heute …“ Der Major stockte kurz. „Heute haben sie hier auf dem Kasernenhof zwei Frauen vergewaltigt. Sie haben sie irgendwo aufgegriffen, hierher gezerrt und wie Beutestücke ihren geifernden Kameraden vorgeworfen. Erst wollten wir eingreifen, doch uns wurde unmissverständlich klargemacht, dass wir uns aus ihren Angelegenheiten raushalten sollen. So blieb uns nichts anderes übrig, als tatenlos abzuwarten. Vermutlich sind die beiden Frauen längst tot. Was hätten Sie in einer solchen Situation getan, Major Kalinin? Wie hätten Sie dieser Horde Einhalt geboten, ohne sich selbst von ihnen aufschlitzen zu lassen? Das da draußen sind keine Menschen, denen man mit zwanzig Mann Einhalt gebieten könnte. Das sind Bestien, denen man besser nicht in die Quere kommt.“

      Major Poljakow schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schaute Kalinin fest in die Augen. Seine selbstsichere Fassade bröckelte. Man sah ihm deutlich an, dass er kurz davor stand, unter dem Druck zusammenzubrechen. Seine Mundwinkel zuckten, als er sich mit einer nervösen Geste die Haare aus dem Gesicht strich.

      „Wo ist Machno?“, fragte Kalinin nach einer langen Pause.

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      Als man Anton Kalinin und seine Männer am nächsten Morgen in die große Messe führte, verschlug es ihnen fast den Atem. Die Fenster waren verschlossen und mit schwarzer Farbe überstrichen, sodass kein Tageslicht hereinfiel. Es stank nach Schweiß, Alkohol, Exkrementen und Verwesung. Kalinin zog sich instinktiv den Kragen seines Pullovers über die Nase. Er hörte vereinzelte Schreie, aber seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er nichts erkannte. Er wollte schon umdrehen, weil er zweifelte, dass man sie tatsächlich zu Nestor Machno führte. Doch da Major Poljakow persönlich um diesen Termin gebeten hatte, blieb ihm keine Wahl, als den Wachen zu folgen.

      Langsam begriff Kalinin, dass sie sich in einem riesigen Lazarett befanden. Auf dem Boden wanden sich blutüberströmte Menschen in ihren Ausscheidungen. Die, die sich nicht mehr bewegten, waren offensichtlich schon tot. Weder Ärzte noch Pfleger kümmerten sich um die Männer, woraus Kalinin schloss, dass man die Verwundeten sich selbst überließ. Er wusste aus eigener Fronterfahrung, dass nur die wenigsten Soldaten direkt auf dem Schlachtfeld starben. Die meisten kamen mit lebensgefährlichen Verletzungen in irgendein überfülltes Lazarett, nur um dort Tage später qualvoll zu verenden. Manchmal gab es fähige Sanitäter, die das Leiden ein wenig lindern konnten, doch viel zu oft mangelte es auch ihnen an Medikamenten und Ausrüstung. Hier in diesem provisorischen Lazarett gab es nichts von alledem.

      Machnos Männer führten sie in ein höher gelegenes Stockwerk, wo sich ein weiterer großer Saal vor ihnen öffnete. Diesmal ohne abgedunkelte Fenster. In dem Raum befanden sich an die hundert Soldaten, teils stehend, teils an den Wänden sitzend. Sie trugen keine einheitlichen Uniformen, aber die Art und Weise, wie sie ihre Waffen hielten, ihr klarer Blick und ihre aufrechte Haltung wiesen sie als Soldaten mit Kampferfahrung aus. Vielleicht Offiziere, dachte Kalinin, der sich fragte, ob diese Männer auch jedes Mal durch das Lazarett laufen mussten, um hierher zu gelangen. Er verbuchte diesen Umweg als erste Schikane seines Gastgebers.

      Man wies sie an, auf einer Bank Platz zu nehmen und zu warten, bis man sie aufrief. Kalinin versuchte zu erkennen, was sich am anderen Ende des Raumes abspielte, wohin die Blicke aller Anwesenden gerichtet waren. Niemand hatte ihr Eintreten bis jetzt zur Kenntnis genommen, denn dort saß Nestor Machno an einem großen massiven Schreibtisch und hörte sich den Bericht des vor ihm sitzenden Mannes an. Leider sprach der so leise, dass Kalinin ihn nicht verstehen konnte, aber er sah, wie Machno ihn fixierte. Starren Blickes, ohne mit den Wimpern zu zucken, saß er regungslos auf seinem Stuhl, leicht nach vorne gebeugt und aufs Äußerste angespannt. Sein auffällig langes Haar hing ihm lose bis auf die Schultern herab und war in einem Scheitel aus dem Gesicht gekämmt. Es sah fast aus, als trüge er einen Turban. Kalinin musste an einen Vulkan denken, der kurz vor dem Ausbruch stand.

      Über was sprachen die beiden? Er bekam keine Antwort auf seine Frage. Stattdessen erhob sich Machno von seinem Stuhl, ging mit ausladenden Schritten um den Tisch herum und packte den verängstigten Mann am Kragen. Ihre Gesichter berührten sich fast, als Machno den Mann anschrie: „Nie wieder! Hast du gehört? Nie wieder werde ich solche Inkompetenz dulden!“


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