Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
Doch dieses Bild änderte sich schlagartig, sobald man den inneren Ring des Zentrums verließ. Hier draußen erschien die Stadt wie ein wahlloser Zusammenschluss einzelner Dörfer. Baufällige, eingeschossige Häuser, die aufgrund ihrer ungeplanten Anordnung nicht an das Strom- und Abwassernetz angeschlossen waren. Wer nahe genug an den großen Zufahrtsstraßen wohnte, zapfte sich den Strom illegal von den Spannungsmasten. Eine Dummheit, die viele mit dem Leben bezahlten.
Es gab nur wenige Geschäfte in den Vororten, da die Händler und Handwerker ihre Läden möglichst in der Nähe des Stadtzentrums unterhielten. Stattdessen versperrten allerorts riesige Fabriken die Sicht. Wie Fremdkörper breiteten sie sich in dieser dörflichen Umgebung aus und verpesteten mit dem schwarzen Rauch aus ihren hohen Schornsteinen die Luft. An manchen Tagen war rund um diese Ungetüme kaum noch der Himmel zu erkennen.
Um die vielen Arbeiter unterzubringen, entstanden riesige Siedlungen aus einfachsten Baracken, die im Sommer den Regen abhielten und im Winter gerade genug Wärme boten. Mehr brauchten die Bewohner nicht, da sie die längste Zeit des Tages in den Fabriken schufteten, mit ihren Gedanken bei den zurückgelassenen Familien, denen sie dieses Leben nicht zumuten wollten. Einfache Bauern, die lediglich in den Wintermonaten hierherkamen, um das zu verdienen, was auf dem Land allein nicht mehr möglich war. Sie alle kannten ihre kläglichen Lebensbedingungen und setzten ihre ganze Hoffnung in die bolschewistische Revolution, die ihnen – den einfachen Arbeitern Russlands – nicht weniger als ein goldenes Zeitalter versprach.
Als Anton Kalinin sein Ziel erreichte, trat er sich den schmutzigen Schnee von den Stiefeln und klopfte an die Tür des kleinen Hauses. Er vernahm von innen das vertraute Geräusch schlurfender Schritte, die sich der verschlossenen Tür näherten. Er freute sich auf diesen Moment des Wiedersehens. Obwohl er nur noch selten zu Besuch kam, beklagten seine Eltern sich nie. Sie nahmen an, dass die zunehmende Verantwortung ihres Sohnes ein häufigeres Kommen verhinderte.
Diesmal wurde die Tür nicht wie sonst üblich geöffnet. Stattdessen hörte Kalinin die brüchige Stimme seiner Mutter von innen: „Wer ist da?“
Sie sind vorsichtig, dachte Kalinin und bedauerte, dass die Revolution auch seine Eltern ihrer Arglosigkeit beraubt hatte. Früher – so erinnerte er sich – stand die Tür immer offen. Freunde und Familienangehörige kamen zu Besuch, wann immer sie wollten, und genossen die Gastfreundschaft der Kalinins in vollen Zügen.
„Ich bin’s, Mutter. Anton.“
Sofort öffnete sich die Tür und Kalinin fand sich in der herzlichen Umarmung seiner Mutter wieder. Wie immer war ihr Wiedersehen ein Fest, da seine Eltern so taten, als ob ihnen seit Jahren keine größere Freude widerfahren war. In diesen Momenten spürte er den Kontrast zu seinem rauen Arbeitsalltag besonders deutlich.
„Anton, wie schön, dich zu sehen“, sagte seine Mutter zum wiederholten Mal. Sie nahm sein Gesicht in ihre knochigen Hände und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Stirn. „Ich mache uns schnell etwas zu essen und dann erzählst du uns, wie es dir geht.“
Anton wusste, dass seine Eltern kaum genug für sich selbst zum Leben hatten. Doch dank seiner Beziehungen konnte er ihnen heute eine kleine Überraschung mitbringen. Er legte das Päckchen auf die Küchenanrichte.
Seine Mutter sah ihn mit großen Augen an. „Anton, Sohn, woher …?“ Doch sie erwartete gar keine Antwort auf ihre unvollendete Frage, zerriss stattdessen eilig das Papier, das den Schinken umhüllte. Sie beugte sich hinunter, sog genüsslich den herzhaft rauchigen Duft ein. Dann nahm sie das Messer, schnitt ein winziges Stückchen ab und schob es sich mit geschlossenen Augen in den Mund. Sie sah aus, als hätte sie in ihrem Leben noch nie etwas Köstlicheres gegessen. Kalinin musste lachen.
„Wladi, sieh nur was Anton uns mitgebracht hat.“ Sie schnitt ein weiteres Stück ab und eilte damit hinüber zu ihrem Mann in die Stube, während Kalinin im Türrahmen lehnte und seinen Eltern dabei zusah, wie sie sich über sein Geschenk freuten.
„Ich kann heute Nacht nicht bleiben“, sagte Anton, als seine Mutter sich erhob, um wie üblich sein Bett auf der Couch herzurichten. Sie saßen satt und zufrieden um den Küchentisch herum, ließen sich den Wodka schmecken, den Kalinins Vater nun großzügig ausschenkte.
Erstaunt blickte sie ihren Sohn an: „Unsinn. Natürlich bleibst du über Nacht. Weißt du denn nicht, wie gefährlich es ist, nachts allein durch die Straßen zu schleichen?“
Natürlich wusste Anton das. Viel besser sogar, als seine Mutter ahnte.
„Da draußen rennt doch nur betrunkenes Gesindel rum, das gerade darauf wartet, einen Jungen wie dich auszurauben und auf den Kopf zu schlagen.“
So wie sie es sagte, klang es wie eine harmlose Rauferei unter Jugendlichen, dachte Anton. Sie hatte wirklich keine Ahnung von der rohen Gewalt, die auf Moskaus Straßen herrschte.
„Seit der Revolution ist alles nur noch schlimmer geworden. Die Bauern kommen in unsere Dörfer, suchen Arbeit, nur um in diesen Fabriken zusammengepfercht zu werden. Wie Vieh leben sie da, und außer Saufen bekommen sie nichts zustande.“
Sie fing an, sich in Rage zu reden. Wladimir Kalinin schaute sich verstohlen um, ob denn auch alle Fenster gut verschlossen waren. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, seine Frau bremsen zu wollen, wenn sie erst einmal anfing, über die vielen Missstände zu klagen. Und egal wie oft er sie auch mahnte, vorsichtiger zu sein, sie redete, wie es ihr gerade in den Sinn kam.
„Und wenn sie besoffen sind, dann ziehen sie in Grüppchen durch das Dorf, schikanieren die friedliche Bevölkerung. Selbst hier bei uns wollten sie schon einbrechen. Wir saßen vor Angst zitternd in unseren Betten. Kannst du dir das vorstellen, Anton?“, fuhr sie aufgebracht fort.
Anton konnte es sich sehr gut vorstellen. „Ich wurde befördert“, versuchte er das Thema zu wechseln. „Man hat mich zum Major ernannt und mein nächster Auftrag führt mich in die Ukraine. Wir reisen morgen ab, sodass ich heute Nacht leider nicht hierbleiben kann.“
Er hatte erwartet, dass seine Eltern sich für ihn freuten. Stattdessen schauten sie ihn nur schweigend und mit sorgenvoller Miene an.
„In die Ukraine?“, fragte sein Vater schließlich. „Aber das ist doch noch immer Kriegsgebiet, oder etwa nicht?“
Wladimir Kalinin gelang es wie immer, aus dem Wirrwarr an Informationen, die wichtigsten Inhalte und Wahrheiten herauszufiltern. Hier in Moskau glaubten alle, dass die Konterrevolution der Weißen kurz vor dem Ende stand. Nur die wenigsten machten sich Gedanken über das Chaos an Russlands Grenzen. Doch Wladimir Kalinin ahnte, dass der Krieg um Russlands Zukunft noch in vollem Gange und entgegen der staatlichen Propaganda längst noch nicht entschieden war. Und nun schickten sie seinen einzigen Sohn wieder ins Kriegsgebiet. War es nicht genug, dass er im großen Krieg gedient hatte? Wie viele Nächte sollten sie denn noch wach liegen, hoffen und beten, dass er lebend zu ihnen zurückkehrte?
„Die Bauern im ganzen Land bunkern ihre Vorräte. Wir vermuten sogar, dass sie unsere Feinde beliefern … Ihr seht doch, wie sie alle hierher in die Stadt kommen, in den Fabriken arbeiten, saufen und euch drangsalieren. Es wird Zeit, dass sie auf ihre Felder zurückkehren und es endlich wieder genügend Brot in Moskau gibt.“ Anton sprach nun mit großer Überzeugung. „Ich befehlige eine Brigade in dem Gouvernement Jekaterinoslaw und wir sorgen dafür, dass ihr im nächsten Jahr wieder ausreichend zu essen habt.“
Wladimir Kalinin ahnte, dass die wahren Zusammenhänge weitaus komplexer waren, als es die Schilderungen seines Sohnes vermuten ließen. Doch er schwieg.
Die Stimmung blieb getrübt, auch wenn Antons Mutter versuchte, durch belanglose Themen wieder etwas mehr Heiterkeit zu verbreiten. Anton konnte nicht verstehen, warum sein Vater sich nicht für ihn freute. Nur noch wenige Wochen; dann wären die Weißen endgültig besiegt. Er ärgerte sich darüber, dass seine Eltern nur die Gefahren sahen, nicht aber die Chance, mit diesem Auftrag