Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki


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den Lauf zwischen zwei Bäumen hindurch auf die Straße gerichtet. Links und rechts hingen noch die Patronengurte herab. Neben der Plattform stand eine Metallkiste, in der sich weitere Munition befand. Die beiden Jungs schauten sich fragend an. Was hatte die Deutschen dazu bewogen, diese Waffe zurückzulassen?

      „Vielleicht dachten sie, noch einmal zurückzukommen“, sagte Maxim. Er schien einen Moment zu überlegen, ob ihm noch eine bessere Erklärung einfiel. Dann wandte er sich achselzuckend an Willi: „Und, traust du dich?“

      „Auf gar keinen Fall! Lass bloß die Finger davon!“, entgegnete dieser aufgeregt.

      „Ach was, wahrscheinlich ist es kaputt. Warum hätten sie es sonst hiergelassen?“ Maxim kauerte sich mit zusammengekniffenen Augen hinter das MG und schaute durch die Zielvorrichtung.

      „Komm schon, Maxim. Lass den Mist. Wir kriegen einen Haufen Ärger, wenn man uns hier erwischt.“

      „Wer soll uns denn erwischen? Einen Schuss nur. Dann wissen wir wenigstens, ob es noch funktioniert.“

      „Bist du verrückt? Was, wenn du jemanden verletzt? Lass das sein, Maxim!“, rief Willi nun sehr viel eindringlicher, da er merkte, dass sein Freund im Begriff war, eine große Dummheit zu begehen. Trotzdem konnte auch er sich der Faszination dieser Waffe nicht entziehen.

      Maxim hörte nicht auf seinen Freund. Er legte den Zeigefinger auf den Abzug und zielte auf die leere Straße. Er kniff die Augen ein paarmal zusammen, so wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war. Einen Schuss nur, dachte er und krümmte den Finger. Sofort ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Ein Rattern, das gar nicht mehr aufhörte, Pulvergeruch, der ihnen fast die Luft zum Atmen nahm und in ihre Augen drang.

      Erschrocken duckten sich die beiden Jungs hinter dem MG auf den Boden, hielten sich mit beiden Händen die Ohren zu. Das Maschinengewehr feuerte den kompletten Patronengurt ab und Willi betete, dass nicht ausgerechnet jetzt jemand die Straße passierte. Dann, ganz plötzlich, hörte das Dauerfeuer auf. Die wohltuende Stille wurde nur noch durch ein leises Klacken gestört. Klack, Klack, Klack … Die beiden Jungs hoben den Kopf, sahen die leeren Patronenhülsen auf dem Boden liegen, doch keiner konnte sich einen Reim darauf machen, woher das seltsame Geräusch rührte. Maxim erhob sich, kroch in geduckter Haltung zu dem MG und sah, dass der Abzug klemmte. Vorsichtig brachte er ihn zurück in die Ausgangsposition. Dann verstummte auch das Klacken.

      1Die evangelisch freikirchliche Bewegung der Mennoniten reicht bis in die Reformationszeit zurück und ist Teil der sog. Täuferbewegung. Ihr Name leitet sich von dem aus Friesland stammenden Theologen Menno Simons ab.

       Juri und Maxim Orlow

      Osterwick 1919

      An diesem Abend lag Willi noch lange wach in seinem Bett. Das Maschinengewehr ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wunderte sich, dass ihnen bei ihrer Rückkehr keine Fragen gestellt wurden, obwohl jeder im Dorf das laute Rattern des MGs gehört haben musste. Doch die Osterwicker schienen sich nicht dafür zu interessieren. Entweder waren sie schon so sehr an den Klang von Gewehrsalven gewöhnt, dass sie diese ignorierten, wenn die Schüsse nicht in unmittelbarer Nähe abgefeuert wurden – oder sie hatten tatsächlich nichts mitbekommen.

      Willi konnte Maxim glücklicherweise überreden, ihren Fund erst einmal geheim zu halten, da er die andauernde Diskussion über den Selbstschutz nicht unnötig belasten wollte. Viel Weisheit für einen Zwölfjährigen, der die Befindlichkeiten der Mennoniten besser kannte als Maxim. Seit Wochen sprach man im Dorf über kein anderes Thema mehr, ohne dass eine Einigung in Sicht gewesen wäre. Die Differenzen schienen unüberwindbar, was ein Eingreifen des Brüderrats umso dringlicher machte. Heute Abend – so hoffte Willi – würden sich die Männer Osterwicks endlich darüber beraten.

      Seit Ausbruch der Revolution tobte in weiten Teilen des ehemaligen Zarenreichs ein Bürgerkrieg, dessen Fronten sich mittlerweile auch quer durch die Ukraine zogen. Auf der einen Seite stand die Rote Armee, die versuchte, die Revolution zu verteidigen. Auf der anderen Seite die Weiße Armee, deren Offiziere mit dem gestürzten Zaren sympathisierten und die alten Verhältnisse wiederherzustellen gedachten. Unzählige Bauerndörfer gerieten dabei zwischen die Fronten und mussten je nach Verlauf des Krieges mal die Soldaten der einen, mal die der anderen Seite ernähren. Häufig wurden ihnen die Naturalien gewaltsam entwendet, was die Soldaten damit rechtfertigten, dass die Bauern zuvor die Gegenseite unterstützt hatten.

      Um sich vor dieser Eskalation zu schützen, formierten die Bauern allerorts kleine Verteidigungseinheiten, Selbstschutz genannt. Auch die Bürger von Osterwick konnten sich dieser Idee gegenüber nicht länger verschließen, obwohl die wenigen Begegnungen mit der Weißen Armee bisher immer friedlich verlaufen waren. Scheinbar standen die deutschen Siedler mit ihren sauberen, wohlhabenden Dörfern exemplarisch für jenes Russland, das die Zarenanhänger der Weißen Armee zu verteidigen suchten.

      Willi war noch nie gut darin gewesen, ein Geheimnis für sich zu behalten. Seine Geschwister konnten es ihm an der Nasenspitze ablesen, wenn er ihnen etwas vorenthielt. So musste er sich große Mühe geben, den Fund des MG nicht zu verraten. Würde der Brüderrat heute Abend endlich zu einer Einigung finden, dann wüsste er, wem er sein Geheimnis anvertrauen konnte.

      Als sein Vater endlich von der Versammlung zurückkehrte, lag Willi gespannt in seinem Bett. Er versuchte, das Gespräch seiner Eltern im Nebenzimmer zu belauschen, doch Heinrich und Maria waren sehr geübt darin, in dem hellhörigen Haus keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Willi verstand kein Wort. Nur ein einziges Mal, als sie gerade über die Orlows sprachen, erhoben sie kurz ihre Stimmen. Aber da war Willi schon längst eingeschlafen.

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      Juri Orlow und sein Sohn Maxim, zwei ausgehungerte Gestalten auf der Suche nach Arbeit, hatten vor einem halben Jahr an die Tür der Bergens geklopft. Heinrich wollte die beiden zuerst abweisen, da er nicht wusste, wie er sie beschäftigen sollte. Außerdem – und das war der eigentliche Grund – sorgte er sich, was die anderen im Dorf dachten, wenn sich plötzlich zwei Ukrainer auf seinem Hof herumtrieben. Doch Maria zerstreute die Einwände ihres Mannes: Es sei für Christen nicht ziemlich, zwei arbeitswillige, ausgehungerte Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Der Appell an christliche Tugenden verfehlte bei Heinrich nie seine Wirkung; daher konnten Juri und Maxim bleiben. Und obwohl beide kaum in der Lage waren, den Anforderungen auf den Feldern zu genügen, entpuppten sie sich bald als große Bereicherung für die Bergens.

      Die Mädchen schlossen Juri von Anfang an in ihr Herz. Er verfügte über einen schier unerschöpflichen Fundus an Geschichten, die er gerne und mit ausladenden Gesten zu erzählen wusste. Schon bald versammelten sich die Kinder jeden Abend um ihn herum und bedrängten ihn so lange, bis er endlich fortfuhr zu erzählen. Die Geschichten begannen meist heiter, nahmen im weiteren Verlauf aber eine melancholische Wendung. Maria, die während ihrer Hausarbeit lauschte, ahnte, welch tiefe Traurigkeit in Juris Seele schlummerte. Sie hätte ihn gerne nach seiner Vergangenheit gefragt, hielt sich aber aus Höflichkeit zurück.

      Juri erwies sich im Gegensatz zu seinem Sohn auch nach mehreren Wochen Eingewöhnung als völlig ungeeignet für die Feldarbeit. Sein Rücken plagte ihn, und obwohl er es jeden Tag aufs Neue versuchte, ohne über seine offensichtlichen Schmerzen zu klagen, wurde er schon bald einer Putzkolonne zugeteilt, wo er sich zu einem Fachmann für Reisigbesen entwickelte. Schnell sprach sich im Dorf herum, dass Juri Orlow die besten Besen binden konnte, die es in Osterwick zu finden gab. Es entwickelte sich ein kleines Geschäft, was es ihm ermöglichte, schon nach wenigen Wochen für Essen und Behausung zu bezahlen. Nicht viel, aber es war sein aufrichtiger Wunsch, den Bergens etwas für ihre Gastfreundschaft zurückzugeben, da er seine Arbeitskraft nicht, wie ursprünglich verabredet, auf den Feldern einbringen konnte.

      Maxim unterschied sich mit seinem lausbübischen Charme deutlich von den mennonitischen Kindern, die den Blick und die Stimme senkten, wenn sie mit einem Erwachsenen sprachen. Er hingegen stand aufrecht, schaute seinem Gegenüber mit dunklen Augen und unerschütterlichem Selbstbewusstsein ins Gesicht, sodass dieser


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