Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
lächerlich niedrige Annahme. Tatsächlich hatten es die deutschen Siedler in den letzten Jahrzehnten geschafft, die zu bewirtschaftende Fläche auf 100 Hektar auszuweiten und den Ertrag auf über 100 Tonnen zu steigern. Weit mehr, als der russische Major in seiner Naivität annahm.
Die Gegenwehr überraschte Kalinin nicht. Innerlich korrigierte er seinen Ansatz bereits auf 40 Tonnen Getreide. Bei einer Quote von 30 Prozent ergab das immer noch 12 Tonnen. Damit lag er innerhalb seiner Vorgaben.
„Ich höre, dass dieser Ansatz zu hoch ist und ihr schon genug unter den Bedrängnissen der Weißen gelitten habt. Genosse Lenin sieht eure Not. Deshalb bin ich ermächtigt, die Quote nach unten zu korrigieren, damit sie euch nicht überfordert. Es werden 12 Tonnen Getreide festgesetzt, die wir am kommenden Montag abholen.“
Ohne das Ende der Übersetzung abzuwarten, sprang Kalinin von der Pritsche, was seine Männer als Zeichen zum Aufbruch verstanden. Zufrieden mit dem Ergebnis verließen sie schon wenige Minuten später das Dorf auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.
Nach dem Abzug der Tschekisten machte sich in Osterwick allgemeine Erleichterung breit. Man dankte Abram Dyck für seinen Mut, und die Männer begaben sich direkt in die Kirche, um darüber zu beratschlagen, wie sie die Abgabe von zwölf Tonnen Getreide am besten aufbringen konnten. Sie kamen schnell zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis, doch als Abram Dyck die Versammlung gerade beenden wollte, bat Erwin Wiebe noch einmal um das Wort. Erwin, ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, führte bereits die Wirtschaft seines kränklichen Vaters. Trotz seines respektablen Auftretens war es eher ungewöhnlich, dass die Jugend ihre Stimme in diesem Brüderrat erhob. Die gerade im Aufbruch befindlichen Männer kehrten etwas widerwillig zu ihren Plätzen zurück.
„Liebe Brüder, ich bin Gott sehr dankbar für die Bewahrung, die wir heute wieder einmal erleben durften, und ich kann mich dem Dank für Abrams mutiges Auftreten nur aus vollstem Herzen anschließen. Dennoch möchte ich mir erlauben zu fragen, ob wir alles in unserer Macht Stehende tun, um solche Begegnungen auch künftig so glimpflich zu überstehen?“
Erwin blickte fragend in die Runde. Er sprach so selbstverständlich, als wäre er schon häufiger vor solch honorigen Kreisen aufgetreten.
„Warum zweifelst du daran, dass Gott uns nicht auch in Zukunft bewahrt?“, fragte Abram nach einer kurzen Pause. Das allgemeine Gemurmel ließ darauf schließen, dass der Pastor vielen aus der Seele sprach. „Was lässt dich annehmen, dass wir weiterhin Opfer solcher Repressalien werden? Der Krieg scheint entschieden, die Weißen sind auf dem Rückzug. In wenigen Wochen wird sich die ganze Aufregung gelegt haben und alles wird wieder seinen gewohnten Gang gehen.“
Laute Zustimmung erhob sich im Saal und Erwin wartete geduldig, bis sich die Aufregung legte.
„Bei allem Respekt, liebe Brüder. Das war erst der Anfang. Glaubt ihr wirklich, dass die Bolschewiken sich für uns Mennoniten interessieren? Nein, sie kommen schon bald wieder. Sie werden mehr fordern. So viel, bis uns gerade noch genug bleibt, um die Felder zu bestellen. Die Bolschewiken haben den Bauern den Krieg erklärt und sie werden ganz sicher auch vor uns nicht haltmachen.“
Schweigen. Stille. Keiner wusste auf diese forschen Behauptungen etwas zu entgegnen, auch wenn der Widerspruch förmlich in der Luft lag.
„Und vielleicht sind die Roten noch gar nicht mal die größte Bedrohung“, fuhr Erwin fort. „Unsere Brüder aus dem Donbass berichten, dass Nestor Machno ganze Dörfer niederbrennen lässt. Seine Bauernarmee ist schon fast so mächtig wie die der Roten. Wenn sie erst einmal den Dnjepr überqueren, dann gnade uns Gott.“
Erwin spürte, dass die Männer ihm zuhörten. Es schien, als spreche er eine Wahrheit aus, die bis dahin noch niemand wagte, so klar zu formulieren.
„Nestor Machno macht keinen Hehl daraus, dass er uns von ukrainischem Boden vertilgen will und ich bin nicht geneigt zu glauben, dass seine Reden nur plumpe Propaganda sind. Ich habe ihn in Jekaterinoslaw gehört und ich sage euch: Dieser Mann ist gefährlich. Was tun wir also, wenn diese Banditen nach Osterwick kommen? Verlangt Gott nicht von uns, dass wir endlich unseren Selbstschutz organisieren und uns verteidigen?“
Ein erneutes Raunen ging durch die Menge, mündete in eine hitzige Debatte, in der nun alle gleichzeitig und völlig ungeordnet durcheinanderredeten. Die Erwähnung des Selbstschutzes traf die Männer Osterwicks an einem empfindlichen Punkt, legte die Bruchstelle in ihrer Gemeinschaft offen, die bisher nur durch ihr Vertrauen in göttlichen Beistand überdeckt worden war.
Heinrich Bergen, ein entschiedener Gegner des Selbstschutzes, war froh, dass sich die meisten Osterwicker bisher ebenso vehement gegen diese Idee gestemmt hatten wie er selbst. Doch er spürte, dass Erwins Worte einen Dammbruch erzeugten und ihre scheinbare Einheit als bloße Illusion entlarvten. Die Druckwelle der russischen Revolution ließ sich nicht länger aufhalten. Sie teilte ihre Gemeinschaft nun in klare Befürworter und Gegner des bewaffneten Kampfes.
Bisher war der Selbstschutz bloß eine ferne Idee gewesen. Etwas, worüber die jungen Männer hinter vorgehaltener Hand redeten, ein Mythos, den sie viel zu oft verklärten. Sie wagten nicht, sich in aller Offenheit darüber zu unterhalten. Zu sehr widersprach der Gedanke an gewaltsame Verteidigung dem Vorbild ihres Herrn Jesus Christus, der sich nicht einmal wehrte, als man ihn unschuldig ans Kreuz nagelte.
Vielleicht war es ein Fehler, nicht offen mit den jungen Männern gesprochen, die Vor- und Nachteile abgewogen, ausgiebig in der Bibel geforscht und nach dem Ratschluss Gottes gesucht zu haben. Heinrich saß schweigend auf seiner Bank und beobachtete die Brüder, wie sie nun hitzig diskutierten. Es erinnerte ihn an die Männer, die sich andernorts dem Selbstschutz angeschlossen hatten. Er befürchtete, dass dieser kleine, von den deutschen Soldaten gesäte Same nun auch in ihren Herzen aufging und seine tödliche Frucht hervorbrachte. Dabei erschien es doch so einleuchtend: Greift zu den Waffen und verteidigt euer Leben. Verteidigt eure Kinder und Frauen und schießt die Angreifer nieder, sodass sie nie wieder gegen eure Dörfer reiten. Heinrich wollte dieser Lüge keinen Glauben schenken. Schweren Herzens verließ er die Versammlung.
Nestor Machno
Jekaterinoslaw 1920
Kalinin und seine Männer fuhren zurück nach Jekaterinoslaw. Die ukrainischen Dörfer hatten aus ihrer Abneigung gegenüber den Tschekisten keinerlei Hehl gemacht – und so war ihm die Verhandlung mit den Deutschen zum Schluss ihrer Reise in unerwartet guter Erinnerung geblieben. Er war froh, diese anstrengende Woche hinter sich gebracht zu haben. Morgen würde er einer nachrückenden Brigade die Papiere mit den Abgabezahlen übergeben, dann lagen erst mal zwei freie Tage vor ihm. Anschließend wollte er weitere Dörfer im Gouvernement Jekaterinoslaw aufsuchen und den Bewohnern ihre Abgabequoten diktieren.
Je näher sie der Stadt kamen, umso verwunderter stellten sie fest, auf keine Kontrollposten zu stoßen. Weder Geschützfeuer noch MG-Salven waren zu hören, und es schien, als seien alle Kampfhandlungen eingestellt worden. Auf den Gebäuden wehten die Fahnen der Roten Armee, ein untrügliches Zeichen, dass die Weißen endlich geschlagen waren. Erleichterung machte sich unter Kalinins Männern breit. Erst als sie auf das Gelände der Kaserne einbogen, wurden sie am Kontrollpunkt von zwei Männern in Frauenkleidern angehalten. Sie trugen wallende Ballonkleider über den schmutzigen Uniformen und ihre Gesichter schillerten in allen erdenklichen Rottönen.
Kalinin konnte sich keinen Reim auf diese grotesken Gestalten machen. Sie verströmten eine penetrante Duftmischung aus Rosenöl und Alkohol. Ohne ihre Gewehre hätte man sie glatt für geistesgestört gehalten. Doch die Männer besaßen die Dreistigkeit, die Tschekisten nach ihren Papieren zu fragen. Kalinin wollte gerade ansetzen, ihnen den Marsch zu blasen, als er merkte, dass sie nur leise in sich hineinkicherten. Sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn, ihrem Kommando weiteren Nachdruck verleihen.
Ohne sich weiter um sie zu kümmern, fuhren die Tschekisten auf den Kasernenhof, der übersät war von mehreren Hundert schlafenden