Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki


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auf ihre weichen Lippen. Ihre Zungen begegneten sich und er genoss diesen zärtlichen, wunderbaren Moment, auch wenn er nur von kurzer Dauer sein würde. Ohne voneinander abzulassen, zog Kalinin das Hemd aus ihrem Hosenbund, gerade weit genug, um seine Hand auf ihren nackten Bauch zu legen. Sie bemerkte sein Zögern und lehnte sich ein kleines Stückchen zurück, ermutigte ihn weiterzumachen. Kalinin fuhr fort, ihren warmen Körper zu erkunden, streichelte langsam über ihren Rippenbogen, bis er endlich die Rundungen ihres prallen Busens berührte. Sie konnten ihre Erregung nun nicht länger zügeln, und nur das deutliche Räuspern des Nachtportiers erinnerte sie daran, dass sie nicht allein waren.

      „Lass uns nach oben gehen“, flüsterte Masha schließlich. Sie erhoben sich und verließen die leere Hotellobby.

       Der Zug

      Südliche Ukraine 1921

      Maxim schreckte empor. Von dem monotonen Rattern des Zuges, das ihn hatte einschlafen lassen, war nichts mehr zu hören. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Dann begriff er, dass sie tatsächlich nicht mehr fuhren. Der Zug stand. Schlagartig hellwach blickte er sich suchend nach seinen Begleitern um.

      Die beiden Landstreicher, mit denen er gemeinsam reiste, hatten ihn eindringlich vor einem stehenden Zug gewarnt. Sie waren sich südlich von Chortitza an einer Steigung begegnet, wo der Zug seine Fahrt ein wenig verlangsamen musste. Gerade so viel, um sich nach einem beherzten Sprint auf die Trittbretter eines der hinteren Waggons zu ziehen. Der erste Landstreicher öffnete die Waggontür und zog anschließend seinen Kameraden hoch. Maxim kam als Letzter, da er über die vermeintlich beste Kondition verfügte. Doch seine Beine versagten nach diesem Lauf beinah ihren Dienst. Der Zug fuhr deutlich schneller als erwartet, trotzdem schaffte er es mit allerletzter Kraft und unter Mithilfe der beiden Männer, sich in den Waggon zu retten. Dort übergab er sich augenblicklich auf den hölzernen Boden, was seine Begleiter naserümpfend zur Kenntnis nahmen.

      Der Waggon war nur zur Hälfte mit Getreidesäcken gefüllt, sodass genügend Platz für sie alle blieb. Solange sie fuhren, gab es nichts zu befürchten. Doch die Wachleute nutzten jeden Halt, um die Waggons auf unerlaubte Mitreisende zu kontrollieren. Es galt also bei jeder Verlangsamung der Fahrt zu erahnen, ob sie wieder Geschwindigkeit aufnehmen oder doch zu einem Stillstand kommen würden. In letzterem Fall mussten sie rechtzeitig abspringen und sich in Sicherheit bringen.

      Jetzt stand der Zug und Maxim saß allein in dem Waggon. Von seinen beiden Kumpanen fehlte jede Spur und er verfluchte sie dafür, ihn nicht geweckt zu haben. Das Adrenalin pulsierte durch seine Adern, Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er wusste nicht, was er tun sollte. Vorsichtig kroch er zur offenen Waggontür, um einen Blick nach draußen zu riskieren.

      Vorne bei der Lok hielt sich eine Reiterschar auf. Maxim sah, wie sich gerade zwei weitere Männer in vollem Galopp hinzugesellten. Sie zogen etwas Schweres hinter sich her und wirbelten dabei eine Menge Staub auf. Blitzartig wurde ihm bewusst, dass es sich um die beiden Landstreicher handelte, die an Seilen gebunden zu Tode geschleift wurden. Entsetzt zog sich Maxim in den Waggon zurück, sah gerade noch, wie sich einige Reiter aus der Menge lösten und in seine Richtung ritten. Hoffentlich hatten sie ihn nicht entdeckt. Eine Flucht kam nun nicht mehr infrage. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu verstecken.

      Hastig zog er einige der übereinandergestapelten Getreidesäcke zur Seite, sodass sich ein schmaler Gang bildete. Dann kroch er, soweit es ging, in den engen Tunnel hinein, kauerte sich auf den Boden und schreckte auf, als er plötzlich Schüsse hörte. Dauerfeuer. Das unverkennbare Rattern eines Maschinengewehrs. Was war da los? Wurden die Banditen angegriffen? Gab es einen Kampf? Maxim traute sich nicht, unter den Säcken hervorzukriechen. Nach einer Minute war es wieder still. Dann hörte er ihre Stimmen. Sie schoben die Tür zur Seite und kletterten in den Waggon. Sie begannen die Getreidesäcke zu inspizieren und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie ihn entdeckten.

      Sein Herz raste. Er zwang sich, seinen keuchenden Atem zu kontrollieren. Doch die Männer dachten nicht daran, die Säcke umzuladen, wollten erst einmal weitere Kutschen für den Transport auftreiben. Sie verließen den Waggon, ohne Maxim zu bemerken. Weitere Minuten verstrichen, aber Maxim wagte sich immer noch nicht aus seinem Versteck heraus. Was, wenn die Männer draußen standen und nur auf ihn warteten?

      Schließlich begann er doch, langsam aus dem Tunnel herauszukriechen. Rückwärts schob er sich – auf die Unterarme gestützt – aus dem Versteck, nicht wissend, ob die Männer sich vielleicht einen Spaß daraus machten, ihn dabei zu beobachten, während sie den Lauf ihrer Flinten auf seinen Arsch gerichtet hielten. Als er endlich den Kopf aus dem Tunnel zog und sich hastig umdrehte, stellte er erleichtert fest, dass er allein im Waggon war. Die Tür stand offen, von den Männern gab es weit und breit keine Spur.

      Erst jetzt fiel ihm die unnatürliche Stille auf. Keine Stimmen, keine Geräusche. Keine Pferde. Nur Vögel. Maxim konnte das Kreischen von Vögeln hören, das ihm in dieser Stille sonderbar laut vorkam. Der Zug stand offenbar auf freier Strecke. Um sie herum nichts weiter als sonnenverbranntes Steppengras. Maxim nahm all seinen Mut zusammen und kletterte langsam nach draußen. Seine Blicke gingen ständig hin und her, immer in der Erwartung, dass die Männer jeden Augenblick zurückkommen und ihn entdecken könnten. Vorsichtig schlich er entlang des Zuges, weiter nach vorne in Richtung der Lok. Er hielt sich geduckt, blickte immer wieder unter dem Zug hindurch auf die andere Seite. Doch auch da war niemand zu sehen.

      Das Geschrei der Vögel kam aus einem Waggon, der direkt hinter dem Tender hing. Es wurde immer lauter, je näher Maxim kam. Er sah die durchlöcherte Außenwand des Abteils, von Kugeln förmlich durchsiebt. Das musste das Maschinengewehr gewesen sein. Und obwohl alles in ihm mahnte, möglichst schnell das Weite zu suchen, kletterte Maxim auf den zerstörten Waggon und griff nach der Tür, die sich nur mit einem kräftigen Ruck öffnen ließ. Dutzende von schwarzen Vögeln schreckten auf, verließen das Innere des Abteils unter wildem Flügelschlag durch die kaputten Fenster. Dann sah Maxim die entstellten Leichen, die zwischen umgestürzten Koffern, Säcken und Kleidern lagen. Männer in Uniform, einige auch in ziviler Kleidung. Sie schienen ihn mit schreckgeweiteten Augen anzustarren.

      Maxim musste seinen Würgereiz niederkämpfen, als er das Abteil betrat. Überall sah er blutverschmierte Gesichter und Leiber, die in grotesken Verrenkungen übereinanderlagen. Sein Verstand setzte aus. Zu viele Eindrücke, zu viele Fragen. Wer hatte das getan? Und wo waren diese Männer jetzt? Wer immer dazu in der Lage war, ein solches Blutbad anzurichten, der würde auch vor einem weiteren Mord nicht zurückschrecken. Er musste schleunigst verschwinden! Maxim machte auf dem Absatz kehrt, stolperte dabei über eine Leiche, die im gleichen Augenblick in den Gang kippte und ihm den Weg versperrte. Panik ergriff ihn, raubte ihm die Luft zum Atmen. Er raffte sich wieder auf, griff dabei wie in Trance nach einer Lederbörse, die dem Toten aus der Tasche gefallen war. Er wollte gerade nach draußen stürzen, als sich von hinten eine Hand um sein Fußgelenk schloss. Starr vor Schreck wandte er sich um.

      „Hilf mir“, röchelte der Mann mit leiser Stimme. Seine weit geöffneten Augen leuchteten unnatürlich weiß, inmitten des blutverschmierten Gesichts.

      Maxim versuchte seinen Schrecken zu bändigen. Er half dem Verletzten trotz seiner Schmerzen auf die Beine. Wahrscheinlich hatte er mehrere Kugeln im Leib stecken. Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Sie schafften es mit vereinten Kräften, unter den Waggon zu kriechen und sich flach auf das Gleisbett zu legen. Dort angekommen, verlor der Mann das Bewusstsein. Maxim vermutete, dass er ihm nur noch beim Sterben zuschauen konnte. Trotzdem brachte er es nicht übers Herz, ihn hier allein liegen zu lassen. Er würde bis zum Einbruch der Dunkelheit warten und dann verschwinden.

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      Es war eine wolkenlose, sternenklare Nacht und der Zug stand in der Steppe wie auf einer hell erleuchteten Bühne. Seit Stunden rang Maxim mit sich, zögerte, aus Angst entdeckt zu werden, den passenden Moment zur Flucht immer weiter hinaus. Der Verletzte neben ihm regte sich nicht mehr und Maxim musste einsehen, dass er dem Mann nicht helfen konnte. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, kroch unter dem Waggon hervor und begann, seinen Proviantsack zu füllen.

      Gerade


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