Malessa macht Urlaub. Andreas Malessa
Jubiläen ihrer Freunde war Roswithas Traum gereift: Zum Fünfzigsten ab in die Sonne!
Die aber blieb hinter schweren Wolken so verborgen wie Wolf-Rüdigers erotische U-Bahn-Fantasien hinter seiner Stirn. Sonnenbaden? Braunwerden? Im März auf den Balearen diesmal Fehlanzeige. Am ersten kühl windigen Strandtag fegte eine regnerische Sturmbö Roswithas Handtasche samt Pass und Geldbörse in die Brandung. Am zweiten Nieselregentag bekam Wolf-Rüdiger erst Schnupfen und dann allergische Hautrötungen. Am dritten Urlaubstag schließlich – da setzte sich ein irisches Paar zu ihnen an den Tisch. Sie wog schätzungsweise hundertzwanzig Kilo und hatte die schneeweißeste Alabasterhaut, die Roswitha je gesehen hatte. Er war so struppig rothaarig und schuppig sommersprossig, wie ihn keine Whisky-Werbung hätte besser erfinden können. Sie sprachen englisch, das war zu ahnen, aber wegen ihres Dubliner Dialekts kaum zu verstehen. Die beiden kramten Spielkarten hervor, man verständigte sich rasch über die wichtigsten Grundregeln, und dann begannen Canasta-, Rommé- und Bridge-Turniere. Ein unablässiges Zuprosten auf runde Geburtstage und verregnete Urlaube, ein Lachen und Herumalbern bis in die Nacht. Die Gesprächsthemen schwankten von Kindererziehung bis Weltpolitik.
„Als Barack Obama gewählt wurde“, rief Wolf-Rüdiger irgendwann mit schwerer Zunge, „da brachten sie bei uns im Fernsehen die I-have-a-dream-Rede von Martin Luther King.“ Er musste kurz aufstoßen und holte tief Luft. „Also, wenn man die so in Schwarz-Weiß sieht, im Original meine ich, wenn man die nochmal hört – da kriegt man vor Rührung, da kriegt man …“
Da kriegt man richtig Gänsehaut, wollte er sagen.
Aber Roswitha wusste auch nicht, was Gänsehaut auf Englisch heißt.
Christliche Freizeiten
Zum besseren Verständnis für Uneingeweihte: Normale Berufstätige unterscheiden täglich zwischen Arbeitszeit und Freizeit (im Singular).
Christen dagegen arbeiten nach ihrer regulären Arbeitszeit auch in ihrer Freizeit weiter. Ehrenamtlich nämlich. Dafür haben sie am Wochenende oder im Urlaub „Freizeiten“ (im Plural).
Gemeint sind organisierte Gruppenreisen von Gleichgesinnten, die in sogenannten Freizeit-„Heimen“ stattfinden. Das sind Unterkünfte, die von der Architektur, der Innenausstattung, dem Service und der Atmosphäre her oberhalb von Militärkasernen rangieren, gleichauf mit Jugendherbergen liegen, aber unterhalb viersterniger Urlaubshotels bewertet würden.
Untrügliches Erkennungszeichen jedes christlichen Freizeit-„Heims“ ist der rote Tee. Hagebuttentee. Aus verbeulten Blechkannen in dickwandige, meist kalte Stapeltassen serviert. So wie Tomatensaft mit Pfeffer und Salz ausschließlich in Flugzeugen getrunken wird, wird Hagebuttentee ausschließlich in christlichen Freizeitheimen getrunken. Sonst nirgendwo auf der Welt. Unternehmensberater nennen so was den „Unique Selling Point“, das konkurrenzlose Alleinstellungsmerkmal.
Falls es ausnahmsweise – durch ein Versehen, kann ja mal passieren – keinen roten Tee geben sollte, dann gibt es Kamillentee. Sein Geruch gemahnt nämlich auch kerngesunde Freizeitteilnehmer daran, dass sie jederzeit tragisch pflegebedürftig werden könnten.
Im dunklen 20. Jahrhundert hatten Kinder und Jugendliche manchmal Angst, „ins Heim zu kommen“. Berechtigterweise. Heutzutage können sie’s kaum erwarten. Vorausgesetzt, es ist ein „Freizeit“-Heim, ein christliches. Trotz roten Tees ist nämlich in den meisten Einrichtungen das Betriebsklima warmherzig, die Betreuung fürsorglich und das Programmangebot vielfältig. Ganz im Ernst: Geboten werden dort Sport, Spiel, Spaß, Bildung und Unterhaltung, soziales Lernen und – spirituelles Erleben. Geistliche Erfahrungen. Möglichkeiten zur Begegnung mit Gott. Es gibt Gottesdienste, man liest in der Bibel, betet zusammen, diskutiert Themen, bietet Beichtgespräche an – alles auch für Erwachsene, klar. Männerwochenenden mit Outdoor-Action, Frauen-Verwöhntage, Ehe- und Familienfreizeiten, thematische Tagungen und Seminare, Einkehr- und Schweige-Wochenenden, „Exerzitien“, wie Katholiken sagen würden – und das alles in der Regel von professionellem Personal präsentiert: Erlebnispädagogen, Gemeindediakone, Jugendleiter und Sozialarbeiterinnen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Musiker, Schriftsteller, Ergo-, Logo- und Physiotherapeuten, Ärzte und Dozenten engagieren sich mehrheitlich gern und oft bei solchen „Freizeiten“ im Plural. Wo gibt’s das sonst?
Dass die Deutschen das reisefreudigste Volk der Erde sind – noch vor den Holländern und Japanern übrigens, prozentual zur Gesamtbevölkerung sogar noch vor den Chinesen –, das versichern uns Marktforschungs-Demografen immer wieder. Wer aber sind die reisefreudigsten unter den Reisefreudigsten? Sie kommen nicht drauf: die „Evangelikalen“! Protestanten aus Kirchen, Freikirchen und freien Gruppierungen also, die „mit Ernst Christen sein wollen“ (wie Martin Luther sagte), die „intensiv evangelisch“ leben (wie Angela Merkel sagte), die schlicht und ergreifend „gläubig sind“ (wie sie von sich selbst sagen).
Welche Hunderttausendschaften da unter dem Label ihrer Landeskirchen und Gemeinschaften, ihrer Regionalverbände und Vereine, des CVJM, des EC, der SMD, der freikirchlichen Jugendwerke, der Missions- und Hilfswerke und sonstigen frommen Institutionen zu mehreren Tausend „Freizeiten“ pro Jahr aufbrechen – das ist noch keinem Statistiker aufgefallen. Komisch eigentlich.
„Aktiv-Urlaub“ mit vielfältigem Animationsprogramm sei eine Erfindung des „Club Med“, der „Aldiana-“ und „Robinson“-Clubs dieser Erde? Ach was.
Das haben fromme Gemeinden immer schon angeboten.
„Abenteuer-Freizeiten“ (mit dem Kanu durch Kanada, mit der Hebamme durch Malawi), „Bildungs-Freizeiten“ (Pilgern nach Rom und Santiago de Compostella, Anbeten in Jerusalem, Bootfahren auf dem See Genezareth; Busfahren zu den Kelten auf Iona, den Waldensern im Tessin, den griechisch Orthodoxen auf dem Athos), „Hobby-Freizeiten“ (Reiten in Irland, Klettern in Österreich, Segeln in Holland) und „Seelsorge-Freizeiten“ (Das-innere-Kind-Finden in der Toskana, Bibelauslegen in der Provence, Heilfasten am Lago Maggiore).
Es gibt sogar eine Sorte Aktiv-Urlaub, die hat kein anderer Anbieter im Programm: „Bau-Freizeiten“, „Missions“- und „Hilfstransport-Freizeiten“. Kindergärten renovieren in Rumänien, Gemeindehäuser tapezieren in Lettland, Krankenhäuser ausrüsten in Moldawien – Möbel, Baumaterial und Werkzeug sind bitte mitzubringen.
„Erholt“ kommt von so was keiner nach Hause. Aber erfüllt. Innerlich reicher. Seelisch, emotional, menschlich und geistlich erfrischter, als wenn er zwei Wochen am Strand von Benidorm in die Sonne geblinzelt hätte.
„Im Glauben und fürs Leben gestärkt werden“ – das ist das tatsächliche Alleinstellungsmerkmal christlicher Freizeiten.
Viele Ehepaare haben sich bei solchen Gelegenheiten kennengelernt. Man täte aber den inhaltlich qualifizierten und atmosphärisch dichten Freizeiten mit ihren segensreichen Wirkungen Unrecht, würde man sie nur als eine Art frommen Heiratsmarkt betrachten. Das erledigen heutzutage christliche Dating-Portale im Internet. Roten Tee trinken, um jemanden kennenzulernen, muss niemand mehr.
Drogen, erlaubte
Der berühmte Spruch „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unpassende Kleidung“ kommt wohl nur jenen locker von den Lippen, die ohne Kinder Urlaub machen. Wenn am ersten Regentag die vielen Stunden in Restaurants und Cafés zu Ende gehen und die „aber nur ausnahmsweise!“ erlaubten Pommes- und Eistüten verputzt sind; wenn am zweiten Regentag die Computer-, Brett- und Kartenspiele im Ferienhaus langweilig geworden sind und Vorlesen oder Kreuzworträtsellösen genervt abgelehnt wird; wenn am dritten Regentag alle kindergeeigneten DVDs bereits zwei Mal geguckt wurden; wenn der Schmink- und Malwettbewerb im Museumsfoyer nicht altersgerecht ist, die örtlichen Spiel- und Sportplätze aber bereits Schlammwüsten sind; wenn das Kind beim Gutenachtkuss traurig sagt: „Mama, wann fahren wir wieder nach Hause?“– dann, ja dann kommt die Stunde der Versuchung. In den gestressten Elternseelen erwacht spätabends das Trostbedürfnis, unvernünftige Dinge zu konsumieren. Mutter futtert hemmungslos Schokolade. Vater leert eine Chipstüte in Rekordzeit. Beide würden am liebsten vor die Tür schleichen und unter dem Vordach in der nassen Kälte mit zitternden Fingern heimlich eine rauchen. Wie