Malessa macht Urlaub. Andreas Malessa
verharmlosen. Oder womöglich die leichten ungesunden und die tödlich gefährlichen Drogen über einen Kamm scheren. Dass es professionelle Therapeuten, Reha-Pflegerinnen, Sozialarbeiter und Seelsorger sowie ein Heer ehrenamtlich engagierter Menschen gibt, die in Organisationen wie dem „Blauen Kreuz“ oder den „Anonymen Alkoholikern“ um das Leben von Suchtkranken kämpfen, ist ein großer Segen und verdient jeden Respekt. (Plus mehr Gehalt von Kirche und Staat!)
Aber darf ich mal für ein bisschen mehr Nachsicht werben?
Nachsicht mit denen, die im radikalen Rigorismus der Vegetarier, Veganer, Abstinenzler, Nichtraucher, Marathonläufer und sonstigen Konsequenz-Giganten nicht mithalten können? Die im Urlaub mal Urlaub von der Selbstoptimierung machen? Die sogar Urlaub vom schlechten Gewissen machen?
Ein hoch geschätzter Freund und Kollege von mir, Pfarrer von Beruf, wandert alljährlich im Mai mit ein paar Männerfreunden durchs schöne Frankenland. Ansbach, Erlangen, Bamberg, Kulmbach, Bayreuth und so. Eine fromme Gegend, meist evangelisch-lutherisch, vielerorts konservativ pietistisch geprägt. Städte und Dörfer mit herzensguten Bed-and-Breakfast-Gastgebern, die einem Bibelspruch-Kärtchen aufs Kopfkissen und das Losungsbüchlein auf den Frühstückstisch legen. Franken ist aber auch die Region mit den meisten Privatbrauereien, sagt mein Freund. Das Land mit den leckersten Bieren. Da kennt er sich aus. Seine Wanderroute sei eine „Biersortensafari“, sagt er. Und niemand von Verstand wird diesen Kurzurlaub eine „Sauftour“ nennen, oder?
Von El Arenal auf Mallorca, wo sich am „Balnear No. 6“- Strand jährlich bis zu sechshunderttausend Touristen die Kante geben und nachts in die Briefkästen der Anwohner pinkeln, ist die Frankenbier-Wanderung eines Männergesprächskreises doch Lichtjahre entfernt. Wenn Jürgen Drews und Mickie Krause auf der Ballermann-Bühne Zoten reißen und RTL-Reporter den Teenagern zwanzig Euro zustecken, damit sie sich vor der Kamera zum Affen machen – dann darf man das denjenigen nicht vorwerfen, die auf ihrer Finca im Landesinneren gepflegt einen spanischen Rotwein genießen und zu Hause ohnehin immer beteuern müssen, „Mallorca hat aber auch schöne Strände!“
Ausgerechnet in Israel (koscher essen!, Sabbat halten!) können chronisch Kranke in staatlichen Altenpflegeheimen die letzten Monate ihres Lebens weitgehend schmerzfrei genießen, weil Oma ihre Hanfkekse knuspern und Opa sein Marihuanapfeifchen rauchen darf. Cannabis als schmerzlinderndes Sedativum legalisieren? – Als ein kirchlich engagierter (!) CDU(!)-Gesundheitsminister dies auch für Deutschland vorschlug, wussten seine Gegner in den eigenen Reihen sofort die aktuelle Zahl der jährlichen Herointoten auswendig. Warnten vor „Amsterdamer Verhältnissen“ (wo Hasch konsumieren ausschließlich in den Coffeeshops erlaubt ist, draußen ist es strafbar).
Was soll solcher Alarmismus?
Dass Toleranz nicht lästig, sondern lustig sein kann, erleben wir durch unsere muslimischen Mitbewohner.
Als im Sommer 2015 auf einer österreichischen Autobahn siebzig Geflüchtete in einem Kleintransporter erstickten, vorher schon Tausende in der Ägäis ertrunken waren, das Bild eines toten Dreijährigen am Strand die Welt erschütterte und vor dem Budapester Bahnhof ein Heer erschöpfter Menschen bei vierzig Grad Sommerhitze beinah verdurstet wäre, weil Ungarn ein abschreckendes Exempel statuierte, da beschlossen meine Frau und ich, „eventuell eine christliche Familie aus dem Irak“ bei uns aufzunehmen. Es wurden dann vier, später sechs junge muslimische Männer aus Syrien. Fünf Monate lang. Einer wohnt bis heute bei uns.
„Kann man denen vertrauen?“ – Wir überließen ihnen die Wohnung, fuhren drei Wochen in Urlaub … und fanden, zurück daheim, alles blitzblank und pikobello vor. Verachten die uns als Schweinefleischfresser? Nein. Sie bitten uns nur, ihnen keins zu servieren und kaufen mehr Lamm, als sie es sich eigentlich leisten können. Müssen wir auf Begrüßungssekt für Freunde, auf Wein zum Essen und Grappa zum Kaffee verzichten? Nie. „Ihr kommt auch so in den Himmel“, sagte Bilal einmal, „wir halt nicht. Prost!“, und dann stießen wir mit seinem Mineralwasser an.
Ich persönlich gebe mich im Urlaub einem Rauschmittel hin, das ist selten, aber kostenlos und obendrein völlig ungefährlich. Das gibt es nur in einsamen Weltgegenden, nachdem das nächtliche Rauschen des Dauerregens alle Mitreisenden in Tief- und Langschlaf versetzt hat: frühmorgendliche Stille!
Ohne Verkehrsrauschen in der Ferne, ohne Fleißgeklapper aus der Küche, ohne Rollkofferrattern auf dem Hotelparkplatz. Noch früher als die erste Amsel rausgehen, sich ein halbwegs trockenes Plätzchen suchen und die erhabene Stille der nassglänzenden Landschaft einatmen. Ein- und wieder ausatmen. Bis man das Plitsch und Platsch einzelner Tropfen laut findet. Von Stille im Urlaub kann ich nicht genug kriegen.
„Erzähl mir nix …“
Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“, hieß es noch beim Hamburger Romantiker Matthias Claudius. Das ist knapp zweihundertfünfzig Jahre später auch noch so, bloß hört den Heimgekehrten keiner mehr zu. Diesen Eindruck jedenfalls hatten Susanne und Herbert, als sie von zwei Wochen Bergwandern in Tirol zurückkamen.
Sie, die Dozentin an einer kirchlichen Fachhochschule für Sozialwesen, und er, der graubärtige Betriebsrat in einem Hightech-Konzern, waren alt genug, um sich noch an die gefürchteten Dia-Abende der Siebziger- und Achtzigerjahre zu erinnern. Fünfhundert Bilder aus St. Peter-Ording, von einem glühend heißen Dia-Projektor „an die Wand geworfen“, der sonor summte und bei jedem Bildwechsel klackerte wie eine Billardkugel. Dazu reichte man Käse-Igel mit Salzstangen. Zu trinken gab es Eierlikör oder süßen Weißwein. Eine damals populäre Methode, mit der man Freunde und Verwandte in kollektiven Tiefschlaf versetzen konnte.
Vorbei, vorbei. Zum Glück.
Susanne und Herbert, zurück aus Tirol, waren aber noch jung genug für ein geradezu kindliches Mitteilungsbedürfnis. Stets darauf hoffend, dass es Freunde und Verwandte interessieren würde, was sie dort zwischen Stein und Schnee so alles erlebt hatten.
„Also allein schon der Anblick“, fing Herbert an, als er in der Warteschlange der örtlichen Postagentur zufällig seinen Freund Wolf-Rüdiger vor sich entdeckte, „treibt dir den Puls höher. Die weißen Gipfel zum Greifen nah und …“
Die „Postagentur“ – was früher mal ein richtiges Postamt gewesen war, hatte sich zu einem Gemischtwarenladen mit Briefmarkenspender gewandelt.
Gestresste Geschäftsleute, die eilige Einschreiben oder größere Geldbeträge loswerden wollten, und Sekretärinnen mit schweren Paketen in der Armbeuge warteten hier gewohnheitsmäßig hinter Kindern, die Kaugummis kauften und Sammelbildchen auswählten. Oder, noch nerviger, sie warteten hinter Teenagermädchen, die Sim-Karten verglichen.
„… und dann lässt du den Lärm der Straßen und Dörfer hinter dir, bist in einer stillen Welt unterwegs, die Luft ist …“ Herberts Augen leuchteten beim Erzählen.
Wolf-Rüdiger sah den Stapel Briefumschläge durch, den er in der Linken hielt, und unterbrach ihn: „Hm hm … solange keine Bulldozer neue Sommer-Rodelbahnen planieren oder Schneekanonen die Skisaison vorbereiten. Alpiner Tourismus erfordert ja in den milden Wintern ganz neue Umstrukturierungen …“
Herbert verstummte kurz, versuchte es aber noch einmal: „Und dann die Wiesen und Almen, die Matten, die Blumen! Hin – rei – ßend, sag ich dir! Susanne ging gleich am ersten Morgen …“
„Nicht echt auf die Dreitausender, oder?“ Wieder unterbrach ihn Wolf-Rüdiger, kniff die Augen zusammen und nahm die Postangestellte hinter dem Tresen ins Visier wie ein Jäger das Wild.
„Nein, aber gesehen haben wir alle. Die Gipfel Österreichs, bei strahlendem Sonnenschein! Vielleicht nicht so pittoresk wie das Matterhorn, aber …“
„Zweitausendvier“, nickte Wolf-Rüdiger.
Eine Dame vor ihm drehte sich um.
„Viertausendvier. Das Matterhorn ist viertausendvierhundert Meter hoch, mein Herr.“ Sie lächelte und nickte belehrend.
„Ich weiß“, antwortete Wolf-Rüdiger, „aber zweitausendvier waren wir dort. In Zermatt, meine ich. Mit den Kindern damals noch.“