Handbuch Ambulante Einzelbetreuung. Ute Reichmann
Jugendliche gleichzeitig die Jugendämter (Jugendgerichtshilfe) und die Strafgerichte zuständig mit ihren jeweiligen Gesetzen, die unterschiedlichen Prinzipien folgten. Auch diese Dichotomie von sanktionsorientierter Strafjustiz und unterstützungsorientierter Jugendhilfe ist heute noch im Kinder- und Jugendhilfegesetz und Jugendgerichtsgesetz repräsentiert.
Durch Wirtschaftskrise und Inflation wurden die öffentlichen Ausgaben eingeschränkt und dies führte zu einer verzögerten Umsetzung des RJWG. Auch die organisatorische Abgrenzung von Jugendfürsorge und allgemeiner Wohlfahrt verlief schleppend. 1928 hatten von den 1251 bis dahin gegründeten Jugendämtern nur ein Drittel ihre Selbstständigkeit gegenüber den allgemeinen Wohlfahrtsämtern erreicht.
1931 gründete sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und entwickelte sich nach 1933 zu einer der größten Massenorganisationen der Nationalsozialisten. Sie erhielt die Leitfunktion über die gesamte nichtstaatliche Wohlfahrtspflege. Die Jugendämter wurden durch Besetzung mit Funktionären der NS-Jugendverbände gleich geschaltet und für die nationalsozialistische Ideologie funktionalisiert. Diese NS-Organisationen übernahmen die sozialpädagogischen Aufgaben der Jugendämter. Junge Menschen integrierte man möglichst weitgehend in Hitlerjugend und Bund deutscher Mädels. Die neu geschaffenen Gesundheitsämter führten ab 1934 die Aufgaben der traditionellen Familienfürsorge und der Mütter- und Säuglingsberatung aus und unterstellten sie einer rassistischen Ausrichtung. Alle potenziellen Adressatinnen und Adressaten der Fürsorge, die sich in diese vereinheitlichende, totalitäre Linie nicht einordnen ließen und sich nachhaltig widerständig, nicht kontrollierbar und verhaltensauffällig zeigten, wurden ausgesondert, in konzentrationslagerähnlichen Einrichtungen wie dem Jugendschutzlager Moringen (für Jungen) oder dem Jugendschutzlager Uckermarck (für Mädchen) interniert und sogar als „lebensunwert“ ermordet. So wurde 1934 durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über das Maßregeln der Sicherung und Besserung“ die Möglichkeit eröffnet, sozial unangepasste Menschen einer „Vernichtung unwerten Lebens“ zu unterziehen (Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009: 23).
[20]In den 20er Jahren hatten Alice Salomon, die Gründerin der ersten sozialen Frauenfachschule in Deutschland, und der Fürsorgewissenschaftler Hans Scherpner die amerikanische Tradition der Case Work nach Deutschland gebracht (Müller 20064: 52f., Neuffer 1990: 67ff.). Andere, wie z.B. die jüdische Sozialarbeiterin und Fachschulgründerin Sidonie Wronsky, vertraten eine eher tiefenpsychologisch-therapeutische Ausrichtung der Sozialen Arbeit. Diese Traditionslinien waren durch den Nationalsozialismus in Deutschland zunächst unterbrochen. Doch nach Ende des 2. Weltkriegs führten die Amerikaner ein aufwändiges Austauschprogramm zur Umerziehung der Westdeutschen durch, bei dem auch erzieherische und sozialpädagogische Themen bearbeitet wurden. Auf diese Weise gelangten amerikanische Konzepte sozialpädagogischer Einzelfall- und Gruppenarbeit in der Nachkriegszeit nach Westdeutschland, z.B. durch Dr. Hertha Kraus, Professorin für Sozialforschung am Havenford College und deutsche Exilantin, die 1946 und 1948 als geladene Expertin für Soziale Arbeit Westdeutschland besuchte (Müller 20064: 165ff., Neuffer 1990: 67ff.). Sie veröffentlichte 1950 eine Übersetzung des Sammelbands „Casework in den USA. Theorie und Praxis der Einzelhilfe“. Im gleichen Jahr fand die V. Internationale Konferenz für Soziale Arbeit in Paris statt, zu der auch der Vorsitzende des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge eingeladen wurde.
In den 50er Jahren etablierte sich Einzelfallhilfe neben Gruppenpädagogik und Gemeinwesenarbeit als wesentliche Methode Sozialer Arbeit und wurde in die sich langsam professionalisierende Ausbildung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Fachschulen für Sozialarbeit aufgenommen.
Der „Import“ Einzelfallarbeit war als Methode allerdings nicht unumstritten. So wurde hinterfragt, ob sich die amerikanischen Konzepte auf die deutschen Verhältnisse übertragen ließen. Auch die instrumentelle Missbrauchbarkeit des Beziehungsansatzes in der Einzelfallarbeit wurde kritisiert – eine vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrungen nachvollziehbare Ansicht (Müller 20064: 171ff.). Später, in den 70er Jahren, wurde der individuelle, auf die Entwicklung der Einzelperson und nicht die gesellschaftlichen Bedingungen gerichtete Ansatz der Einzelfallarbeit verurteilt (Schone, Schrapper 1988: 43, Heiner 2007: 19, Heiner, Meinhold, Staub-Bernasconi 19984: 3 62). Die Heimerziehungsbewegung richtete sich hauptsächlich auf die Abschaffung der Erziehungsheime als Teil des Klassenkampfes (Trede 20053 : 792). Im Gegensatz zur auf kollektive Entwicklungen gerichteten Gruppenarbeit oder zur Gemeinwesenarbeit, die als Stadtteilarbeit in die politische Bewegung integriert werden konnte, erschien die Einzelfallarbeit nicht als akzeptables Konzept einer sich politisch verstehenden Sozialarbeit.
Die Schutzaufsicht8
Der heutigen Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung als Hilfen zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 ging die Schutzaufsicht voraus: Ab 1900 bürgerte sich der Ausdruck für Resozialisierungsangebote an delinquente und „verwahrloste“ Jugendliche ein. Diese Maßnahmen verbanden fürsorgerische und pädagogische Aufgaben mit Überwachung und Kontrolle, wogegen die sogenannte „Polizeiaufsicht“ auf reine Kontrollfunktion beschränkt blieb. Ab 1921 wurde eine [21]Aufnahme der Schutzaufsicht in das geplante Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) diskutiert, zum Zeitpunkt der Verabschiedung 1922 aber zunächst nicht umgesetzt. Erst 1923 fand die Maßnahme nachträglich Aufnahme in den Gesetzestext und wurde ab 1924 umgesetzt.
Unter Schutzaufsicht verstand man die Aussetzung einer strafrechtlichen Sanktion gegenüber einem jungen Menschen zugunsten eines ambulanten, auf soziale Integration, Normalisierung und Persönlichkeitsentwicklung ausgerichteten sozialpädagogischen Angebots. Damit ähnelte die Schutzaufsicht heutigen gerichtlichen Auflagen wie der Betreuungsweisung. Es gab schon in der Weimarer Republik die Möglichkeit, solche ambulanten Maßnahmen auch ohne vorausgehende strafrechtliche Verurteilung und ohne gerichtliche Weisung als gänzlich erzieherische oder erziehungsunterstützende Hilfe durchzuführen, denn nach § 60 Abs. III RJWG konnte die Schutzaufsicht auf Antrag der Sorgeberechtigten gewährt werden. So rückte diese Maßnahme in die Nähe der Fürsorgeerziehung und bot eine Alternative zur Unterbringung in einem Fürsorgeheim. Damit gerieten allerdings automatisch nicht nur der betroffene Minderjährige, sondern auch seine beantragenden Eltern und ihre Erziehung potenziell in den Kontroll- und Eingriffsbereich staatlicher Überwachung.
Die Umsetzung der Schutzaufsicht erfolgte über Fürsorgevereine und -verbände und wurde hauptsächlich durch ehrenamtliche Laien durchgeführt. Diese waren berechtigt den Arbeitsverdienst – wenn vorhanden – der Jugendlichen zu kontrollieren, ihnen war Zutritt zur Wohnung zu gewähren und die Sorgeberechtigten waren ihnen gegenüber auskunftspflichtig. Als Betreuer eine Schutzaufsicht durchzuführen beinhaltete die Verpflichtung zur Anzeige von Gefährdungen und Delinquenz beim Vormundschaftsgericht. Da die Schutzaufsicht eine kostengünstige Alternative zur Fürsorgeerziehung bot, nahmen diese Maßnahmen in den 20er Jahren stark zu.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 erfolgte eine völlige Neuorientierung der gesamten Jugendfürsorge und Jugendgerichtsbarkeit. Delinquente und auffällige Jugendliche wurden entweder über die Organisationen der Nationalsozialisten integriert oder, wenn das nicht möglich war, in „polizeilichen Jugendschutzlagern“, die Konzentrationslagern ähnelten, dauerhaft untergebracht (s.o.).
Die Schutzaufsicht blieb 1953 in der ersten Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) Teil des Gesetzestextes und wurde 1962 durch die Erziehungsbeistandschaft abgelöst.
Jugendhilfe in der sowjetisch besetzten Zone und DDR9
Nach dem zweiten Weltkrieg trat in der sowjetisch besetzten Zone zunächst das RJWG wieder in Kraft und blieb grundsätzlich bis zur Einsetzung des Familiengesetzbuches und der Jugendverordnung 1965/66 gültig. In der DDR dienten Jugendhilfe und Jugendarbeit dem allgemeinen Erziehungsziel einer „Eingliederung in die Gemeinschaft des schaffenden Volkes“. Schon 1946 wurde in enger Anbindung an die „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) die Organisation „Werk der Jugend“ gegründet, die in der Nachkriegszeit als Träger Jugendwohnheime führte. Bald kamen Forderungen nach der Gründung von Jugendwerkhöfen auf, in denen das Ideal einer Arbeitserziehung im [22]Sinne von Makarenkos Kollektiverziehung verwirklicht werden sollte. In diesen Einrichtungen wurden