Letzter Tanz auf Sankt Pauli. Claudius Crönert

Letzter Tanz auf Sankt Pauli - Claudius Crönert


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die gleichen Wörter, und diesmal verstand sie sie genau: »Swing Heil. Das hier ist Jette.«

      Swing Heil?

      »Kommt rein.«

      Sein Freund hieß Erik, er wohnte hier. Im Wohnzimmer war noch ein dritter Junge, Walter. Nur auf den ersten Blick sahen sie einander ähnlich, alle drei mit Jacketts und diesen Frisuren. Walter war groß und blond, ein Schlacks, Erik einen halben Kopf kleiner und kräftiger. Er zeigte auf einen braunen Sessel, auf den Jette sich setzte, während die anderen sich nebeneinander aufs Sofa hockten. Das Zimmer war ein wenig düster, das Fenster ging zum Hof. Ein vollgestopftes Bücherregal füllte eine ganze Wand aus. Gegenüber hing ein Ölbild, ein Gemälde, das ihr Vater »ganz alter Schinken« genannt hätte. Sie fühlte sich sehr fremd und begann, vor Aufregung auf ihre Fingerkuppen zu drücken. Zu ihrem grauen Rock trug sie grobe Wollstrümpfe, ihre Schuhe waren ausgelatscht. Die Jungs dagegen waren schick, nicht nur wegen der Jacketts, sondern auch in ihren geputzten Schuhen und den Tuchhosen. Sie fragte sich, wie wohl die Mädchen waren, mit denen sie Umgang hatten. Sicher nicht so wie Jette. Sie strich sich über die Haare. Ihre Frisur war das Einzige, was sie halbwegs passabel an sich fand. Ihre Mutter hatte sie geschnitten, die Haare fielen auf die Schulter, wo sie von selber eine Welle machten. »Sieht toll aus«, hatte ihre Mutter gesagt.

      Jette vermutete, dass die beiden anderen Jungen auch nicht zur HJ gingen – mit den langen Haaren war das beinahe unvorstellbar. Zu gerne hätte sie gewusst, wie sie das anstellten, wagte aber nicht zu fragen. Überhaupt schaffte sie es nicht, etwas zu sagen.

      Erik nahm eine Platte in die Hand, machte ein verzücktes Gesicht und sagte: »Haltet euch fest, Freunde. Ganz neu. Habe ich vorgestern eingetauscht.«

      Er bediente das Grammofon. Kurz darauf erklangen die ersten Takte. Die Musik war schnell, sie hatte etwas Treibendes, als eile sie voran, und die Zuhörer mussten folgen. Zwischendurch hatten einzelne Instrumente Solopassagen, vor allem die Trompete, aber auch die Trommeln. Es war klar, dass es sich um Jazz handelte und sie etwas Verbotenes taten. Jette spürte ihre Angst. Wenn jemand hereinkäme, wäre sie verloren. Gleichzeitig faszinierte sie, was sie taten.

      »Louis Armstrong?«, fragte Christian.

      »Satchmo«, erwiderte Erik. »Volltreffer.«

      Die drei Jungs lehnten sich im Sofa zurück, schlugen ihre Beine übereinander und wippten mit der Fußspitze im Takt. Einer wie der andere schnippte mit dem Daumen über zwei Finger, wobei sie ein wenig wie eine Ballettgruppe aussahen. Jette entspannte sich etwas. Dann achtete sie wieder auf die Musik.

      Es war ein einziges Spiel. Ein Wechsel zwischen zart vorgetragenen Takten und der vollen Bläserkapelle. Gesang von einer tiefen Männerstimme, die einem durch und durch ging. Sie hatten keinen Englischunterricht mehr, der Lehrer war nach seiner Einberufung nicht ersetzt worden, doch dass hier etwas Freches gesungen wurde – Kiss me, hold me in your arms – das begriff sie auch so.

      Das nächste Lied wurde von einer Geige dominiert, und auch die klang vollkommen anders als alles, was sie je gehört hatte, sie war wild und ungezügelt. Ihr kam der Ausdruck »Fiedel« in den Sinn. Christian hatte die Augen geschlossen, sein Kopf bewegte sich im Takt. Er öffnete sie kurz und schaute grinsend zu ihr, als der Geiger zum Ende kam. Als Nächstes folgte ein Duett. Alles verstand sie nicht, aber dass die Frau den Mann »Darling« nannte und irgendwie herausforderte, begriff sie. Und er spielte mit. Sie konnte die beiden regelrecht vor sich sehen.

      »Und du?«, fragte Erik sie. »Was hörst du für Musik?«

      Jette wurde rot. Sie hatten zwar ein Grammofon, aber nur drei Schallplatten, deshalb lief meistens der blöde Volksempfänger, den ihr Vater vor Jahren angeschafft hatte. Ihre Mutter sang manchmal mit den Mädchen, daher kannte sie deutsche Volkslieder, aber nichts, was sie hier hätte anführen können.

      »Nur Märsche?«, setzte Erik hinzu. Seine Stimme klang rau.

      Jette fühlte sich bloßgestellt. Märsche gefielen den Linientreuen. Sie kam sich blöd vor, weil sie weder Cole Porter noch Louis Armstrong kannte, überhaupt keinen Namen, den sie hätte einwerfen können.

      »Lass sie«, mischte sich Christian ein. »Jette ist in Ordnung.«

      Sie hätte sich gerne bei ihm bedankt.

      »Na, wenn du das sagst«, entgegnete Erik spitz.

      »Kinder«, mahnte Walter und streckte den Finger in die Luft. Er wollte zuhören. Auch der Rest der Platte war unglaublich, Jette war, als schaute sie in eine neue Welt. Sie würde niemandem je davon erzählen können, ihrer Mutter nicht, ihrer kleinen Schwester sowieso nicht und auch keinem ihrer Freunde in der Schule. Insgeheim wünschte sie sich mehr von dem Neuen, aber auch ihre Angst war wieder da. Sie starrte zur Zimmertür und rechnete damit, dass sie jeden Moment aufgestoßen wurde.

      Sie hörten ein Trompetenstück. Immer wieder steigerte sich das Spiel, es war wie die Ankündigung von etwas Großem, aber diese Ankündigung wurde jedes Mal wieder enttäuscht. Bis der volle Klang endlich durchbrach, war sie gespannt, und als er dann da war, hätte sie lachen können. Selbstverständlich hielt sie sich in der fremden Umgebung zurück.

      Im nächsten Moment klopfte es. Sie waren ertappt! Jette wollte aufspringen.

      Das Klopfen kam nicht von der Zimmertür, sondern von weiter weg, vielleicht vom Wohnungseingang.

      Erik rollte mit den Augen, Walter nannte einen Namen, Parteigenosse Schulz, er zog ihn in die Länge, während er gleichzeitig die Zunge herausstreckte, und alle außer Jette wussten Bescheid. Sie weihten sie ein. Ein Nachbar, erklärte Erik, während er das Grammofon ausstellte, ein Aufpasser und Schießhund, der sein Ohr an die Wand hält und mit Meldung droht, sobald er Jazz hört. Dabei sei die Musik doch ganz leise gewesen. Mit der letzten Bemerkung stimmte sie nicht überein, sie hatte sie ziemlich laut gefunden. Aber das sagte sie nicht.

      Christian stand auf. »Jette kann sowieso nicht so lange bleiben.« Er schaute sie an. »Wollen wir gehen?«

      »Ja.«

      Auf dem Rückweg zum Altonaer Bahnhof schwirrte ihr die Musik im Kopf umher. Das Geigenstück hatte es ihr besonders angetan, aber auch die tiefe Männerstimme – Kiss me, hold me in your arms. Das war alles unglaublich. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte über das Kopfsteinpflaster, es regnete leicht. Sie streckte ihre Hand aus, auf die ein paar Tropfen fielen. Das war alles echt. Und Christian ging neben ihr.

      In der S-Bahn waren die Bänke besetzt. Sie standen in der Nähe der Tür, die mit einem Haken verschlossen gehalten wurde. Sie fragte Christian leise, was es mit dieser Musik auf sich habe. Wo sie herkam.

      »Amerika«, erwiderte er. Er flüsterte ihr das Wort beinahe ins Ohr. »Swing«, sagte er und: »Jazz.« Sie wollte wissen, wie Erik an die Platten gekommen sei.

      Bevor er antwortete, schaute er durchs Abteil. Es war natürlich nicht möglich, einen Gestapomann oder einen Spitzel zu erkennen, trotzdem musterte Christian die Leute gründlich.

      »Man kann sie kaufen«, sagte er schließlich halblaut, »wenn man die richtigen Leute kennt. Sie werden gehandelt. Zumindest früher ging das, bevor der Krieg angefangen hat. Heute werden sie unter denen gehandelt, die sie besitzen. Manchmal verkauft, manchmal getauscht.«

      »Und sie kommen aus dem Ausland?«

      »Klar.«

      »Wahnsinn«, sagte Jette.

      Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, sie hätte ihre Naivität nicht so deutlich gezeigt. Nach dem Besuch bei Erik und der Musik war es das zweite Mal an diesem Nachmittag, dass er sie einen Blick in eine unbekannte Welt erhaschen ließ. Es gab diese Platten, auch hier bei ihnen, im Deutschen Reich, und es gab Leute, die sie verkauften, und welche, die sie hörten. Ihr kam Doktor Petersen in den Sinn, der kein Lotterleben dulden wollte. In Wahrheit hatte der alte Mann nicht die geringste Vorstellung davon, was sein Schüler und dessen Freunde trieben, und hätte er es erfahren, hätte er mit seinem Gehstock wild um sich geschlagen und Wörter wie »Urwaldmusik« und »Negerjazz« durch den Klassenraum geschrien.

      Die Wahrheit allerdings war, dass


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