Letzter Tanz auf Sankt Pauli. Claudius Crönert

Letzter Tanz auf Sankt Pauli - Claudius Crönert


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Eine Frauenstimme. Das hat der Kollege, der das Gespräch entgegengenommen hat, jedenfalls gesagt. Na, und dann sind wir hergefahren und haben ihn gefunden. Der hatte wohl keine Lust mehr. Wir haben Ihre Dienststelle angerufen.«

      »Von dem Fernsprecher da vorne.« Der jüngere zeigte in Richtung Hafenstraße und die Landungsbrücken. Krell schaute dorthin, aber es war kaum etwas zu erkennen, der Hafen lag genauso im Dunklen wie der Rest der Stadt, bestenfalls ein paar Umrisse waren auszumachen. Auch bei Tageslicht gab es dort nicht mehr viel zu sehen, denn Handelsschiffe machten nur noch selten fest. Die zivile Seefahrt war wegen des Krieges weitgehend eingestellt. In der Elbmündung hatten die Briten Minen abgeworfen, in der Nordsee genauso.

      Krell forderte die Schupos auf, das Rauchen einzustellen und ihre ausgedrückten Kippen aufzulesen. Dann trat er in den Schuppen. Da drin war es noch dunkler, weil der Mond, so schwach er auch leuchtete, nicht hereinschien. Krells Augen mussten sich wieder umstellen, und bis es so weit war, hörte er nur das surrende Geräusch von Fliegen und roch den Geruch nach Feuchtigkeit, nach Moder, der streng war, obwohl die Tür offenstand. Krell war versucht, sich die Nase zuzuhalten. Als er zumindest ein paar Konturen wahrnehmen konnte, blieb der Eindruck eines schäbigen Ortes, selbst für Sankt-Pauli-Verhältnisse. Für einen Schuppen war der Raum zu groß, eher handelte es sich um eine kleine Lagerhalle. Möglicherweise gehörte sie zur Brauerei, war aber offensichtlich nicht in Betrieb, denn sie stand leer. Eine schwarze Lampe baumelte von der Decke. Der Fußboden bestand auch hier aus gestampftem Lehm. Die Bretterwände hatten daumenbreite Fugen, die Schiebetür rollte auf einer rostigen Schiene. Spinnen hatten sich breitgemacht, ihre Netze hingen in den Ecken und vor dem Fenster.

      Er knipste seine Taschenlampe an und beleuchtete den Mann am Boden. Während er ihn betrachtete, kehrte der Gedanke zurück, den er beim Rasieren vor dem Spiegel gehabt hatte. Er war bei dieser Arbeit in seinem Element, sie war ein Teil von ihm, über ihr konnte er vieles, oft sogar alles andere vergessen. Man musste nicht jubeln, wenn man mitten in der Nacht irgendwo auf Sankt Pauli vor einem Leichnam stand, aber beklagen brauchte man sich auch nicht.

      Auf den ersten Blick sah er, dass der Tote sich nicht selbst das Leben genommen hatte, wie die Schupos vermutet hatten. Ein Selbstmord war das sicher nicht. Die Pistole lag zwar in der Hand des Toten, der Lauf zeigte aber Richtung Becken. Hätte er sich im Stehen erschossen, in den Kopf, wo die Wunde war, wäre die Waffe heruntergefallen und läge irgendwo in der Nähe. Wenn er sich aber vorher hingelegt und dann abgedrückt hätte – was schon unwahrscheinlich genug war, niemand legte sich gerne in den Dreck, auch nicht in seinen letzten Minuten – dann hätte der Arm mit der Waffe in der Hand diese Bewegung zum Becken hin nicht mehr ausführen können. Und selbst wenn der Mann nach dem Schuss noch einen Rest Leben in sich gehabt und den Arm bewegt hätte, müsste es eine Spur im Staub geben. Die fehlte aber. Nein, hier wollte jemand die Polizei auf eine falsche Fährte locken, höchstwahrscheinlich der Mörder. Bei den beiden Schupos war es ihm auch gelungen.

      Krell besah sich den Toten genauer. Die eine Hälfte des Kopfes war durch den Einschuss ziemlich entstellt. An der Schläfe hatte die Kugel ein kraterartiges Loch gerissen, das inzwischen mit getrocknetem Blut verklebt war. Der Einschlag war so heftig gewesen, dass das Auge herausstand und dem Gesicht, das womöglich einmal ganz ansehnlich gewesen war, etwas Abstoßendes gab, so sehr, dass man kaum hinsehen mochte. Der Mann war schmal, auch recht klein, kaum größer als einen Meter 65. Er trug einen graubraunen Anzug, an Ärmeln und Hosensaum abgestoßen, das Muster ausgebleicht, die Wolle an manchen Stellen fadenscheinig. Bei einem seiner Schuhe war die Sohle so dünn, dass das Leder bald ein Loch bekommen hätte. Ein Hafenarbeiter war er nicht, die trugen ihre blauen Hosen und Drillichjacken, und für körperliche Arbeit wäre der Tote sowieso zu schmächtig gewesen. Krell verortete ihn eher auf die Reeperbahn. Ein Animateur an einer Lokaltür vielleicht oder ein Hausmeister in irgendeinem Etablissement. Womöglich ein Arbeitsloser, der sich an der Wehrmacht genauso wie an staatlichen Arbeitsprogrammen vorbeigemogelt hatte. Was mochte so einer ausgefressen haben, dass ihn jemand mit Vorsatz und Planung getötet hatte? Das würde die Frage sein, die ihn auf die Spur des Täters brachte, denn nach einem eskalierten Streit, nach Wut und Prügel und schließlich einer Pistole, sah die Situation nicht aus. So etwas erledigte man direkt vor Ort, dafür ging man nicht in einen Schuppen fernab der Hauptstraße.

      Krell zog seine Taschenuhr heraus. Es war inzwischen 2.30 Uhr. Man konnte nicht abschätzen, wann die Kollegen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin eintreffen würden, unterbesetzt, wie sie waren. Es war überall dasselbe: Mitarbeiter hatten sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, waren eingezogen oder in die eroberten Länder versetzt worden, und den Aderlass merkte man inzwischen bei allen Dienststellen der öffentlichen Verwaltung, auch bei der Polizei. Gejammert wurde trotzdem nicht, auch Krell verbot es sich. Es galt, mit dem klarzukommen, was war, und das Beste daraus zu machen.

      Immerhin traf Schubert ein, sein Kriminalassistent. Er streckte den rechten Arm aus. »Heil Hitler.«

      Krell nickte ihm zu, während die Schupos mit den gleichen Worten und ebenfalls ausgestreckten Armen grüßten, wie es deutschen Beamten vorgeschrieben war.

      »Wir warten auf die Kollegen von der Technik?«, fragte Schubert, nachdem er einen Blick auf die Leiche geworfen hatte.

      »Ja«, erwiderte Krell. Er hielt die Hand vor den Mund, damit Schubert nicht sah, dass er gähnte. »Nach Lage der Dinge kann das allerdings dauern.«

      »Wenn Sie wollen«, schlug Schubert vor, »greife ich dem Mann mal vorsichtig in die Jackentaschen. Vielleicht erfahren wir so, wer er war.«

      Krell gab nicht gleich eine Antwort. Ein solches Vorgehen verstieß eindeutig gegen die Dienstvorschrift. Er schaute seinen Assistenten an. Schubert mochte um die 30 sein, wirkte aber älter, weil er weitgehend kahl war. Er war ein Provinzei irgendwo aus dem Holsteinischen und noch nicht lange dabei, trotzdem hielt Krell ihn schon jetzt für einen besseren Bewerber als die meisten jungen Männer, die er in den letzten Jahren erlebt hatte. Schubert stellte sich geschickt an und dachte mit, und er wirkte auch intelligent, wozu vor allem seine Nickelbrille beitrug, die ihn ein wenig wie einen Professor, zumindest wie einen Lehrer aussehen ließ. In nicht allzu langer Zeit würde der Assistent einen guten Kommissar abgeben, aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Hamburger Kripo. Es gab keinen Grund für ihn, woanders hinzugehen, und eingezogen wurde er nicht mehr. Er war 1939 beim Polenfeldzug dabei gewesen und angeschossen worden, ausgerechnet ins Knie. Jetzt war es steif. Er zog das Bein nicht nach, machte aber beim Auftreten jedes Mal eine seltsame Bewegung, als drehe er das kaputte Gelenk von außen nach innen. Es sah fast wie ein Tanzschritt aus.

      Krell nickte. »Also los.«

      Schubert stellte sich breitbeinig über den Leichnam und beugte sich herunter, wobei sein Rücken gerade blieb, fast wie ein Brett. Beide Knie hielt er durchgedrückt. Krell hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass seine Haltung manchmal seltsam aussah, genauso wie er akzeptiert hatte, dass Schubert nicht in der Lage war, Verbrecher zu Fuß zu verfolgen. Viel wichtiger war, dass er Aufgaben wie die jetzige gewissenhaft erledigte. Vornübergebeugt knöpfte er dem Mann vorsichtig das Sakko auf und griff mit spitzen Fingern erst in die linke, dann in die rechte Innentasche. In beiden fand er nichts, woraufhin er die Außentaschen betastete, die jedoch ebenfalls leer waren.

      Er kam wieder hoch. »Die Hose auch?«

      Krell seufzte und drehte den Kopf zur Seite. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, seinen Segen zu einem derart vorschriftswidrigen Tun zu geben. Die Regel war eindeutig: Man hatte einen Leichnam unberührt liegen zu lassen, bis das Umfeld nach Hinweisen abgesucht und er von allen Seiten fotografiert worden war. Allerdings bedeutete es eine kolossale Zeitverschwendung, stundenlang auf die Spurensicherung und den Arzt zu warten. Womöglich arbeiteten die Abteilungen nachts gar nicht mehr, dann würden sie bis zum Morgen hier herumstehen müssen. Die Zeit konnte man besser nutzen, zum Beispiel die Kartei nach Vermissten durchforsten und sich dann einen Plan für die Ermittlung machen.

      »Doppelt so vorsichtig«, sagte er.

      Nur mit Zeige- und Mittelfinger strich Schubert über die vorderen Hosentaschen. Aber die, auf die es ankam – wo Männer ihre Brieftaschen trugen, wenn sie sie nicht im Sakko hatten – waren hinten. Ohne Krells Hilfe würde es nicht gehen. Er kam sich vor,


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