Letzter Tanz auf Sankt Pauli. Claudius Crönert

Letzter Tanz auf Sankt Pauli - Claudius Crönert


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Stück höher. Die Drohung wurde verschärft.

      »So, Christian aus Altona, jetzt gibst du mir deine Antworten noch einmal, aber diesmal so, wie es sich für einen deutschen Jungen gehört. Klar und deutlich.«

      Elisabeth räusperte sich. »Entschuldigung.«

      Sie war ein Liebling der Lehrer, weil sie strebsam war und immerzu alles konnte und wusste. Ob Bockspringen oder Kopfrechnen, sie war fast überall eine der Besten. In der letzten Zeit hatte sie sich verändert. Sie trug keine Zöpfe mehr, sondern eine richtige Frisur, bei der ihre Haare auf eine Seite fielen. Auch war sie etwas runder geworden, nicht mehr nur Haut und Knochen wie früher, sondern sie hatte einen Busen bekommen. Jette musste zugeben, dass sie nicht schlecht aussah. Jetzt hatte sie einen roten Kopf.

      »Elisabeth, was gibt’s?« Doktor Petersen drehte sich zur ihr, während er mit beiden Händen seinen Stock umfasste.

      »Mein Vater ist auch in Frankreich stationiert. Er hat uns vorgestern geschrieben. Sie bauen Befestigungsanlagen. Er arbeitet jeden Tag mit dem Spaten.«

      Jette hielt den Atem an. Bei manchen Lehrern, gerade bei den älteren, die sie aus dem Ruhestand geholt hatten, nachdem viele der jüngeren eingezogen worden waren, konnte man gefahrlos widersprechen, die begriffen kaum noch, was los war. Bei Doktor Petersen war das anders. Er hatte sein Parteiabzeichen am Revers und wollte seine Schüler, wie er oft sagte, zu anständigen Deutschen erziehen, zu Jungen und Mädchen mit Gehorsam und Disziplin.

      Die Sekunden verstrichen. Elisabeth war immer noch rot im Gesicht. Mit halb geöffnetem Mund wartete sie auf eine Antwort.

      »Es ehrt dich«, sagte Doktor Petersen schließlich, »dass du deinen Vater in Schutz nimmst. Und du hast recht, im vergangenen Jahr hat das ganze Reich bewundert, wie schnell die Wehrmacht Frankreich unterworfen hat. Der Führer selbst war in Paris.«

      Doktor Petersen kehrte zu seinem Pult zurück, ohne Christian eines weiteren Blickes zu würdigen. Jette glaubte nicht, dass die Sache für den Neuen damit ausgestanden war, zumal in den nächsten Stunden andere Lehrer ähnlich auf Christian reagierten wie Doktor Petersen. Umso mehr wurde er zum Gesprächsstoff. Es war irgendein Geheimnis um ihn. Wenn Jette und Gregor nach der Schule gemeinsam nach Hause gingen, redeten sie über ihn und zählten auf, was an diesem Christian so besonders war: Kleidung, Frisur, Auftreten, Mut, Lässigkeit. Vor allem, so glaubte Gregor, schien er keine Angst zu haben.

      Am Donnerstag berichtete er, Christian sei nicht beim HJ-Nachmittag gewesen.

      »Vielleicht war er krank«, vermutete Jette.

      »Jette, ich bitte dich. War er gestern in der Schule?«

      »Ja klar.«

      »Also – was soll das für eine Krankheit sein? Eine, die nur nachmittags auftritt? Oder eine Mittwochskrankheit? Eine Mittwochnachmittagskrankheit? Die will ich auch!«

      »Und wo war er?«, fragte sie.

      »Das wüsste ich genauso gerne wie du.«

      Niemand aus der Klasse schwänzte Hitlerjugend oder Mädchenbund. Jette ging jeden Mittwoch und Sonnabend, zusammen mit Elisabeth und den anderen Klassenkameradinnen. Ihre Mutter entschuldigte sie nur, wenn sie Fieber hatte, einen anderen Grund akzeptierte sie nicht, und wenn Jette jammerte, erklärte sie mit einem Achselzucken, sie müsse auch zum Frauenbund, das gehöre dazu, so sei das neue Deutschland, da gelte es, sich zu fügen.

      Allerdings zeigte Jette nicht viel Eifer. Das ewige Medizinballwerfen fand sie langweilig und machte es so langsam wie möglich, erst recht verabscheute sie die Märsche, zehn, manchmal 15 Kilometer, oft im Gleichschritt, mit Stiefeln und schwerem Rucksack, egal bei welchem Wetter, und Pausen wurden nur selten eingelegt, denn: Wer rastet, der rostet. Die Lieder, die sie dabei singen mussten, kamen ihr zu den Ohren heraus: Unsre Fahne flattert uns voran.

      Bei den Heimabenden hörte sie nur halbherzig zu. Ihre Mädchenführerin hieß Lina und sprach am liebsten darüber, dass die höchste Bestimmung der deutschen Frau im Kinderkriegen lag. Lina war 18, zwei Jahre älter als sie, trug dicke Zöpfe und hatte stämmige Beine, ihre Füße steckten meistens in klobigen Stiefeln. Es war schwer vorstellbar, dass sich ein Junge für sie interessierte. Kinderkriegen stand bei Lina vorläufig wohl nicht auf dem Programm.

      Gregor war schließlich derjenige, der Kontakt zu dem Neuen aufnahm. Es war nach dem Zeichenunterricht bei Herrn Jessen, einem älteren Herrn mit buschigem Schnauzbart, der an ein Walross erinnerte. Jessen trug stets eine schief sitzende Fliege, das war sein Markenzeichen. Die meisten Schüler gingen davon aus, dass er in Wahrheit kein Lehrer war, sondern ein Künstler, der mit anderen Malern und Schriftstellern in finsteren Spelunken auf Sankt Pauli verkehrte, wo sie die Damen mit Vornamen ansprachen. Lehrer war Jessen nach dieser Legende nur geworden, um nicht als Asozialer ins Lager gesperrt zu werden.

      Einige aus der Klasse, wie Elisabeth, die eine gute Zeichnerin war, liebten seinen Unterricht. Jessen war immer in gleicher Stimmung, freundlich, aber distanziert. Er gab sich keine Mühe, sich die Namen der Schüler zu merken, sondern sprach einfach jeden mit Du an. Und er war der einzige Lehrer, der die Stunde nicht mit »Heil Hitler« begann und beendete. Er sagte »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«. Meistens dauerte es dann nur ein paar Sekunden, bis einer der uniformierten Schüler ihm sein »Heil Hitler« entgegenrief, dann grüßte Jessen entsprechend zurück. Gleichwohl registrierte Jette, dass er die beiden Wörter nicht von sich aus gebrauchte.

      So wie sie im Physikunterricht Geschossgeschwindigkeiten auszurechnen hatten, zeichneten sie bei Jessen Flugzeuge im Luftkampf, brennende Fabriken in England oder den aufopferungsvollen Einsatz von Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes. Der Unterschied zum Physikunterricht war, dass sich Jessen, während sie mit ihren Bildern beschäftigt waren, auf einen freien Platz neben einen der Schüler setzte und ihnen von der europäischen Kunstgeschichte erzählte. Er liebte die Renaissance und die niederländischen Maler wie Rembrandt oder Vermeer. Was er schilderte, war unbedenklich, die Italiener waren Verbündete, die Holländer sogar Germanen. Gelegentlich hatte Jessen einen Bildband dabei, den er herumreichte, sodass sie sehen konnten, wovon er sprach. Die Zeichnungen der Schüler dagegen korrigierte er nur, wenn man ihn ausdrücklich darum bat. Auch darin unterschied er sich von den anderen Lehrern: Jessen machte den Eindruck, als überließe er es ihnen, wie viel von seinem Wissen und Können sie abhaben wollten.

      Neben der Kunstgeschichte sprach er über alte Literatur und über Musik. Er wusste unendlich viel. Jette vermutete, dass er bei den Schülern die Lücken auszugleichen versuchte, die durch den Krieg und den Ausfall von so viel Unterricht entstanden. Manchmal summte er ihnen sogar Melodien vor, kleine Stücke von Mozart, Beethoven und Wagner, aber selbstverständlich keine verbotenen Komponisten.

      An diesem Tag fragte er die Klasse nach Musik aus anderen Ländern. Ein paar Namen wurden genannt – Verdi, Tschaikowski, Berlioz, Grieg. Jessen ergänzte jeweils die Länder.

      Schließlich fragte er: »Wie ist es mit Amerika?«

      Jette, die bis dahin nichts beigetragen hatte, hätte gerne geantwortet. Sie kannte aber keine amerikanischen Komponisten.

      »Cole Porter«, sagte Christian.

      »Sehr gut«, erwiderte Jessen. »Keine klassische Musik wie in Europa, sondern Jazz.«

      »Das ist verboten«, rief Björn, ein hellblonder Junge mit streichholzkurzem Haar. Er trug eine HJ-Uniform. Seine Stimme war scharf, geradezu schneidend.

      »Verboten nicht direkt, aber undeutsch. Doch wenn du aufgepasst hast, Junge, dann weißt du, dass Christian nicht gesagt hat, dass er diese Musik hört. Und ich habe euch nicht dazu aufgefordert. Die Frage war, ob ihr den Namen eines Komponisten kennt, um den ihr besser einen Bogen macht.«

      Björn staunte. Jessen hatte ihn reingelegt.

      Christian unterdrückte ein Schmunzeln, während Jessens Gesicht keinerlei Regung zeigte, der dunkle Schnauzbart hing herunter wie immer. Am Ende der Stunde tat er etwas Ungewöhnliches, er trat an Christians Bank, schaute auf seine Zeichnung, lobte sie, tippte mit dem Finger auf einige Stellen und machte Verbesserungsvorschläge. Und er nannte ihn ein zweites Mal beim Vornamen. Offenbar


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