Letzter Tanz auf Sankt Pauli. Claudius Crönert

Letzter Tanz auf Sankt Pauli - Claudius Crönert


Скачать книгу
Abstand zu. Selbst wenn sie nicht die Hellsten waren, musste ihnen klar sein, dass der Kommissar und sein Assistent gegen die Vorschriften handelten. Also waren sie nun auch noch ein schlechtes Vorbild.

      Und dennoch trat Krell heran und ging neben Schubert – und neben der Leiche – in die Hocke. Während er die Bewegung vollzog, wurde ihm bewusst, dass sie für Schubert unmöglich war. Krell war heilfroh, dass er unversehrt war. Auch er war im Krieg gewesen, damals, 1917 und 1918. Aber er war mit heilen Knochen zurückgekehrt.

      »Sie ziehen hier am Gürtel«, sagte er. »Schön langsam, ja? Er braucht nur ein kleines bisschen hochzukommen.«

      Er hätte ihn nicht ermahnen müssen, Schubert blieb trotz seiner vorgebeugten Haltung auch bei diesem Handgriff ausgesprochen vorsichtig. Krell tastete die linke hintere Tasche ab, dann wiederholten sie die Prozedur auf der anderen Seite.

      Es war nichts zu finden. Krell schüttelte den Kopf.

      »So ’n Schiet«, sagte Schubert, als sie wieder aufrecht standen.

      »Wohl wahr.«

      »Dann können wir nur hoffen, dass uns die Fingerabdrücke des Mannes vorliegen. Wenn nicht, steht uns ein ziemliches Stück Arbeit bevor.«

      Krell legte die Hand an die Wange. Ein neuerliches Gähnen kündigte sich an. Er schluckte es herunter. »Wir haben eine Leiche«, sagte er mit einem Blick auf den toten Körper zu ihren Füßen, »und wissen nicht, wer das war. Zeugen gibt es auch keine. Nur eine Anruferin, die anonym bleiben wollte.«

      »Wo sollen wir anfangen?«

      »Wenn wir Schwein haben, ist er schon vermisst gemeldet. Aber ich kann mir bei jemandem wie ihm auch vorstellen, dass er niemandem fehlt. Das prüfen wir als Erstes. Dann befragen wir die Nachbarn. Der Umkreis muss so weit gezogen werden, wie man einen Schuss hören kann.«

      »Wie weit ist das?«, fragte Schubert.

      »200 Meter vielleicht. Da hinten stehen ein paar Mietshäuser.« Krell starrte in die Dunkelheit. Er wusste, dass es dort Wohnhäuser gab. Sehen konnte man sie nicht. »Gleich morgen früh fangen Sie damit an. Aber jetzt geht es erst mal in die Dienststelle, und wir kochen uns eine Tasse Kaffee. Hoffentlich gibt’s echte Bohnen.«

      Zwei

      Länger als eine Woche war die zehnte Klasse der Rissener Schule um den neuen Schüler herumgeschlichen, ohne dass einer von ihnen mehr als drei Worte mit ihm geredet hätte. Der Neue war ein Einzelgänger; er stand abseits auf dem Pausenhof, den Blick sonst wohin gerichtet, die Hände in den Taschen, ohne Interesse an den anderen. Was sie von ihm wussten, dass seine Familie ausgebombt worden war und dass er Christian Ullmann hieß, hatte er der Klasse und ihrem Lehrer Doktor Petersen am ersten Tag mitgeteilt.

      Es war direkt nach den großen Ferien gewesen. Der fremde Junge war plötzlich aufgetaucht und hatte ein wenig verloren an der Klassenzimmertür gestanden. Jette hatte den Blick kaum von ihm abwenden können. Jemanden wie ihn hatte sie noch nie gesehen. Seine Haare reichten bis über die Ohren, das karierte Jackett war ihm zu weit. Im Gegensatz zu den anderen Jungen trug er lange Hosen und dazu Lederschuhe wie ein Erwachsener. Er hatte eine Hornbrille auf der Nase, die er mit dem Zeigefinger zurechtrückte, und wusste offenbar nicht, wohin mit sich. Die Aufmerksamkeit der anderen Schüler war ebenfalls geweckt. Jettes Banknachbarin Elisabeth starrte geradezu Richtung Tür. Ihr Kopf bewegte sich nicht, die Augen waren aufgerissen, als wäre eine Figur aus ihrem nächtlichen Traum erschienen. Niemand machte Witze, wie Neue sie sonst über sich ergehen lassen mussten. Karl – einer von denen, die in Zivil in die Schule kamen – klopfte auf den leeren Platz neben sich, auf den der fremde Junge sich setzte.

      In langsamen Bewegungen nahm der Neue Heft und Bleistift aus seinem Ranzen und legte beides vor sich auf den Tisch. Er stand weiterhin im Zentrum aller Aufmerksamkeit, und Jette machte da keine Ausnahme. Sie rätselte, was so besonders an diesem Jungen war, und fand für sich schließlich eine Erklärung: In nichts, was er tat, zeigte er jene Zackigkeit, die Schule und Hitlerjugend ihnen beibrachten und die als deutsch galt. Im Gegenteil: Er war – das war das Wort, das ihr in den Sinn kam – lässig.

      Doktor Petersen trat in den Klassenraum, schloss mit einer schwungvollen Bewegung die Tür und grüßte mit dem üblichen »Heil Hitler«. Dann hieß er den Neuen, sich vorstellen.

      Christian nannte seinen Namen, sagte, dass sie ihre Wohnung verloren hatten und er deshalb zurzeit bei seinem Großvater in Rissen lebe.

      »Zurzeit, soso. Und wo wohnst du sonst?«

      »In Altona.«

      Doktor Petersen war ein älterer Herr im Anzug, mit dünnem weißem Haar und einer kleinen runden Brille, die er oft abnahm. Das S-T sprach er nach Hamburger Art spitz aus, was die Jungen in der Pause manchmal nachmachten. Im Weltkrieg war er Soldat gewesen und erzählte hin und wieder von deutschen Heldentaten in den Schützengräben. Auf der anderen Seite waren die Franzosen gewesen. Doktor Petersen fand sie weibisch und verzog, wenn er sie erwähnte, das Gesicht, als ob er sich ekeln würde. Manche Schüler lachten darüber. Doktor Petersen trug einen Stock, an dem er quer durch den Klassenraum schritt. Vor der Bank von Karl und Christian machte er halt. Jette ahnte, dass der Neue eine Ermahnung bekommen würde, vielleicht sogar Schlimmeres.

      »Dein Jackett scheint dir zu gefallen.«

      Christian gab keine Antwort.

      »Tweed und bunte Muster«, fuhr Doktor Petersen fort. »Solche lächerlichen Karos, das können sich nur die Engländer auf ihrer Insel ausdenken. Weißt du, wer euch in Altona ausgebombt hat? Na?« Er wartete nicht lange auf eine Antwort. »Die Tommys. Bist du ein Dummkopf und trägst die Kleidung deines Feindes?«

      Christians Schultern hingen herab, das karierte Jackett war so groß, dass die Ärmel über die Handgelenke reichten. Er sagte nichts, sondern blickte den Lehrer nur mit reglosem Gesicht an.

      Doktor Petersen schien die ausbleibende Reaktion zu ärgern. Seine Stimme wurde schärfer. Er war, wie er oft erzählt hatte, Hauptmann gewesen, und so klang er nun auch. »Du bekommst deinen Mund nicht auf? Umso besser, dann hast du die Muße, mir zuzuhören. Erstens: Wenn du glaubst, du könntest hier ein Lotterleben führen wie im roten Altona, so bist du auf dem Holzweg. Das werde ich von Anfang an unterbinden. Zweitens: Deutschland befindet sich im Krieg. Vielleicht hast du es in Altona noch nicht gehört, aber unser Volk hat eine historische Aufgabe. Wir bewahren Europa vor dem Bolschewismus und vor den Juden. Drittens: Wer meint, die Heimat könne der kämpfenden Truppe noch einmal in den Rücken fallen wie 1918, der irrt. Der irrt gewaltig. In meiner Klasse dulde ich das nicht. Wenn du mich verstanden hast, dann möchte ich jetzt ein Ja hören.«

      »Ja«, sagte der Neue. Es war wieder nicht das HJ-Ja, das herausgestoßen wurde wie ein Schuss aus einer Pistole, sondern es kam langsam und so trotzig, dass alle in der Klasse die Luft anhielten.

      Doktor Petersen starrte ihn an. Sein Kopf war rot. Er hob seinen Stock ein wenig an, gerade so weit, dass es wie eine Drohung wirkte.

      »Dein Vater ist Soldat?«

      »Ja.« Zackig klang das immer noch nicht.

      »Infanterie?«

      »Ja.«

      »Wo stationiert?«

      »In Frankreich. Am Ärmelkanal.« Christian klang weiter wie ein Zivilist. Jette hatte den Eindruck, er verweigere mit voller Absicht, was Doktor Petersen von ihm wollte. Sie alle beherrschten den Soldatenton, einfach weil er in der HJ genauso wie in der Schule verlangt wurde.

      »Ach, in Frankreich«, wiederholte Doktor Petersen. Er dehnte die Worte, als wollte er Christian auf den Arm nehmen. »Da lässt er sich’s wohl gut gehen.«

      In diesem Satz schwang eine Unterstellung mit, die sie alle schon oft gehört hatten. Wer in Frankreich stationiert war, so hieß es, dem ging es prima, da gab es gutes Essen und Wein, die Frauen trugen aufreizende Kleider und waren leicht zu haben, und in seiner Freizeit konnte man durch Paris spazieren oder sich am Strand in die Sonne legen.

      Neben Jette streckte Elisabeth ihren Arm in


Скачать книгу