Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen. Martin Heipertz
Dorf aushaltenden Flugplatzes –, war der Weg für die angestrebte Verhandlungslösung bereitet, die das Kosovo entsprechend dem Friedensplan von Rambouillet unter Uno-Verwaltung brachte. Die Russen gaben erst dann den Flugplatz frei, als sie im Gegenzug sichergestellt hatten, daß die zur militärischen Stabilisierung formierte, internationale Kosovo-Schutztruppe KFOR von Anfang an ein starkes russisches und auch ein ukrainisches Kontingent enthielt.
Während das Flugzeug ausrollte und langsam drehte, blickte ich neugierig auf die fremdartige, abenteuerlich anmutende Umgebung. Unweit des mit UN markierten Gebäudes war eine neue, zivile Abfertigungshalle entstanden. Wie alle modernen Bauten im Kosovo war sie frei von jeder Ästhetik und bot auch im für fertig erklärten Zustand den angesichts der Misere ein wenig tröstlichen Charme des Provisorischen. Auf ihrem Dach wehten mehrere Flaggen: Das hellblaue Tuch der Vereinten Nationen, daneben die amerikanischen Stars and Stripes sowie der europäische Sternenkranz, gefolgt von der zukünftigen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht offiziellen, kosovarischen Flagge und einer skandinavischen Flagge, die ich nicht genau zuordnen konnte.
Die kosovarische Flagge war ein Artefakt, das in seiner politischen Korrektheit das Ungemach des internationalen Kunstgriffs, dessen Zier sie sein sollte, geradezu rührend symbolisierte. Ein am Bildschirm entworfener Cocktail, bestehend aus den geographischen Umrissen des Landes und Zitaten europäisch bemühter Symbolik und Farbgebung. Ich konnte es keinem Bürger der Republik Kosova verübeln, der sich lieber an die traditionelle, albanische Fahne mit dem schwarzen Doppeladler vor blutrotem Hintergrund hielt, unter der die Freischärler seit Generationen gegen ihre serbischen Widersacher gekämpft hatten. Weil aber sowohl die im Lande befindliche serbische Minderheit als auch die Albaner des Kosovos sich doch bitte zu diesem neuen Staat bekennen sollten, hatte man ihm als Flagge die inhaltsleere Schnittmenge dessen gegeben, was er für beide Seiten bestenfalls darstellen konnte: Ein Fleckchen Landkarte in den blauen und goldenen Farben Europas und ein Sternchen für jede Volksgruppe, nämlich Albaner, Serben, Roma, Bosniaken und Türken. Außerdem ein sechstes Sternchen für alle übrigen Landsleute, als da wären: Goranen, Torbeschen, Aschkali und Ägypter – um nur die wichtigsten zu nennen.
Ähnlich verhielt es sich mit der neuen Hymne, die den Titel Evropa trug und mir einige Tage später erstmalig zu Ohren kam. Sie existierte vorläufig nur in elektronischer Form und war ganz offenkundig erst vor kurzem ebenfalls am Rechner erstellt worden. Da weder serbisches noch albanisches Liedgut Verwendung finden durfte, mußte man auch hier etwas Neues ersinnen und konnte auf nichts zurückgreifen, was Tradition, Bindung, Hingabe oder irgendetwas von dem vermittelt hätte, was im allgemeinen den Charakter einer Nationalhymne ausmacht. Der Grund lag auf der Hand: Es war eine Nationalhymne ohne Nation. Selbstredend gab es erst einmal keinen Text zur Hymne der Republik Kosova.
Genauso drollig machte sich die bemüht multikulturelle Liste der kosovarischen Feiertage aus: Da gab es vom katholischen Weihnachten über das orthodoxe Osterfest und den als Saint Schuman bespöttelten Europa-Tag bis zum muslimischen Bairam-Fest und freilich dem Tag der Unabhängigkeit so ziemlich alles, was das Herz des Werkschaffenden, auch des internationalen, erfreuen konnte.
Mit der skandinavischen Flagge über dem Flugplatzgebäude hatte es eine Bewandtnis, die ich einige Wochen später in Erfahrung brachte: Dieses waren die Farben Islands, die dort prangten, weil die Lizenz des Flughafens von der isländischen Luftfahrtbehörde ausgestellt worden war. Dort war es rechtlich möglich gewesen; eine europäische Autorität hatte sich nicht dazu hergegeben.
Der Flugplatz selber war immer wieder Gegenstand von Gerüchten und Berichten um Korruption und Vorteilsnahme. Es ging um Visa und Schmuggel, um Bestechung des Betreibers zur Einstellung wiederum bestechlicher Mitarbeiter und um schöne Frauen, die in der Finanzabteilung tätig waren, ohne des Englischen mächtig zu sein, dort aber mit anderen Vorzügen aufwarten konnten. Gelegentlich las man in den Zeitungen von Ermittlungen, einmal gar von der Verhaftung des Geschäftsführers.
Beim Aussteigen bemerkte ich noch eine zweite, kleinere Linienmaschine, die vor uns gelandet war. Sie schien aus Laibach zu kommen, denn ich erkannte den Schriftzug der slowenischen Air Adria. Während die österreichischen Gebirgsjäger noch auf dem Rollfeld Aufstellung nahmen und vermutlich ohne längeres Verweilen auf die bereitgestellten Busse aufsitzen sollten, schloß ich mich den Zivilisten an, die aus der anderen Maschine herabstiegen und zu Fuß der Abfertigungshalle zustrebten. Noch einmal blickte ich mich in der Wintersonne um. Der typische Kerosingeruch hing über dem Flugplatz von Priština, dazu ein eigenartiger Beigeschmack, den ich noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Später, in der Stadt, war der süßbittere, an verbranntes Holz oder Torf erinnernde Geruch noch stärker, und ich gewöhnte mich schnell daran, eine Luft einzuatmen, wie man sie vor gar nicht langer Zeit auch in Deutschland noch vorgefunden hätte: gesättigt mit Braunkohle. Hier sogar Lignit, eine besonders unreine Form von Braunkohle, von Fachleuten energy of last resort genannt, die unweit von Priština an einem Ort namens Obilić gefördert und im ganzen Land als Energieträger verwendet wurde. Neben den Schloten des Braunkohlekraftwerks von Obilić, das jedem Industriemuseum Ehre gemacht hätte und oft genug ausfiel, qualmten auch die meisten Kohleöfen der Wohnhäuser ihr Lignit in den Himmel und stießen bräunlichen Rauch aus, der sich an windstillen Tagen als dünngelber Schleier über die ganze Stadt legte.
Drei Monate nach meiner Ankunft, im Mai 2008, nahm ich den Braunkohletagebau und das Kraftwerk gemeinsam mit Kollegen im Rahmen eines Betriebsausflugs in Augenschein. Zwei enorme Bagger standen auf Kettenrädern in der gewaltigen Senke; aus DDR-Produktion, wie unser Führer stolz erklärte. Das eine urzeitliche Ungetüm stammte aus der frühen Nachkriegszeit und diente als Ersatzteillager für das andere, das etwas jünger war und seinen Dienst verrichtete. Der Tagebau klaffte als eine riesige, doppelte Schüssel in der Erdoberfläche, in die sich der stählerne Dinosaurier Lage um Lage tiefer einfressen würde. Nahezu unerschöpflich sei das Vorkommen, versicherte unser Führer. Das Lignit, welches sein kolossales Schaufelrad aus der Erdwand riß, wurde in kleinen Bröckchen von endlosen und bedenklich schwankenden und ratternden Förderbändern durch die staubige, braune Mondlandschaft auf große Halden außer Sichtweite verbracht.
Lange stand ich da, um die Szenerie zu betrachten. Das Zeug faßte sich wie vermodertes Holz an, und wenn man es in der Hand zerbröselte, blieben Fasern übrig, die ihren pflanzlichen Ursprung nicht verbergen konnten. Im Grunde nicht mehr als ein gewaltiger Komposthaufen.
Unweit des Abbaugeländes befand sich das Kraftwerk, das aus zwei Einheiten bestand. Eine davon ging zurück bis zur Stalinzeit, die andere war aus den 1980er Jahren. In großen Hallen standen die beeindruckenden Öfen, Turbinen und Generatoren, die aus dem Lignit Strom machten. Für jemanden wie mich, der sein Berufsleben am Schreibtisch verbrachte, war der Anblick dieser musealen, männlichen Ingenieurkunst geradezu erregend. Nie jedoch liefen alle Turbinen fehlerfrei, und einer der Blöcke war meist zu Wartungszwecken abgeschaltet. So auch während unseres Besuches, so daß wir in der enormen, staubigen Halle von Kosovo A die Turbinen, Boiler und Kamine verschiedener Entwicklungsstufen bis 1962 allesamt sorglos in Augenschein nehmen konnten. Alles wirkte so vorsintflutlich, daß man die Männer, die dieses museale System am Laufen hielten, bewundern mußte und sich im Stillen fragte, wie hier von Zeit zu Zeit überhaupt noch Strom erzeugt werden konnte. Fast noch mehr altbacken wirkte der Verwaltungstrakt der staatlichen Stromfirma KEK, wo wir durch den Direktor empfangen wurden.
Es war wie in einem Film: Holzpaneele und muffige Büros mit unsortierten Schreibtischen, Staub, schadhafter Putz und rein gar nichts, was Effizienz und Modernität ausgedrückt hätte. Kosovo B dagegen war ein recht modernes, russischdeutsch-amerikanisches Konstrukt, das Tito gerade einmal dreißig Jahre zuvor zusammengeschnorrt hatte. Sein wasserfallrauschender Kühlturm wirkte schon deutlich mächtiger als alles an Kosovo A. Die Steuerungseinheit war ein wahrer Zeitsprung in die Moderne, und die beiden Generatoren lieferten mit ihren Siemens-Turbinen zuverlässig je dreihundert Megawatt, indem diese lautstark etwa dreitausend Umdrehungen pro Minute vollführten, kontrolliert über ein Computersystem recht neuer französischer Machart. Da im Winter jedoch circa eintausendzweihundert Megawatt benötigt wurden, wurde uns faßlich, wie es trotz umfangreicher Stromimporte fast täglich zu Ausfällen kommen konnte.
Ein kundiger und sympathischer Ingenieur führte uns zwischen den orangefarbenen Monstren von Turbinen umher und erläuterte