Emmanuel Macron. Joseph de Weck
die Rechtspopulistin Marine Le Pen in den Élysée-Palast wählt? Das Houellebecq’sche Traumszenario eines Austritts Frankreichs aus der Europäischen Union ist vielleicht mehr als eine Romanfantasie.
Doch Frankreich ähnelt nicht einzig Houellebecq. Es erkennt sich auch in einem anderen, ebenso leidenschaftlichen Kritiker der Verhältnisse: Emmanuel Macron.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2017 rief Macron die Franzosen auf, ihre Träume nicht preiszugeben. «Denen, die an nichts mehr glauben — den Zynikern, Defätisten und Niedergangs-Propheten ringsum —, sagen wir: Das Beste liegt vor uns!» Es ist einer der Schlüsselsätze zum Verständnis des Rätsels Macron, vorgetragen in einem Lyoner Sportstadium.2
Er hatte — und hat noch heute — einen glaubwürdigen Plan: Frankreichs Wirtschaft dem Wettbewerb zu öffnen und im Gegenzug Europa nach außen zu stärken, auf dass die EU mit aller Macht die Unternehmen, die Menschen und die europäische Identität schütze. Aus dem «Markteuropa» soll ein «Machteuropa» werden. Denn ein bloßer Markt kann weder die Wohlfahrt der Europäerinnen und Europäer noch ihr Vertrauen in die Demokratie sichern.
Aus dem Stand heraus und geradewegs durch die neue Mitte überflügelte Monsieur «Weder-links-noch-rechts» die Bewerber aller etablierten Parteien. Sein Appell an den Mut zur Hoffnung, der in den Franzosen schlummert genau wie die Lust am Pessimismus, brachte ihn in Frankreich an die Macht und in Europa ins Scheinwerferlicht. Am Tag seines Amtsantritts als der achte Präsident der Fünften Republik sagte er: «Frankreich hat entschieden, der Aufklärung nicht den Rücken zu kehren, sondern sich der Zukunft zuzuwenden.»
Was ist wirklich neu an der politischen Philosophie des Mannes, der eine Politik jenseits aller Lager predigt und die heutige Debatte als eine Auseinandersetzung zwischen reaktionären Nationalisten und progressiven Europäern zu ordnen versucht? Wie erklärt sich, dass Macron die Republik durch den globalen Kapitalismus, den islamistischen Terror und die neue Identitätspolitik amerikanischer Prägung zugleich gefährdet sieht? Welche Politik verfolgt Macron, seit er im Machtzentrum angekommen ist? Hat er Frankreich revolutioniert und Europa neu gegründet, wie er es als Kandidat gelobte? Und die Präsidentschaftswahl im April 2022 wirft die Kernfrage auf: Träumen die Franzosen Macrons Traum?
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WER IST EMMANUEL MACRON?
Man verbringt sein Leben damit, Beweggründe zu romantisieren und Sachverhalte zu vereinfachen.
— BORIS VIAN
Frankreichs Karikaturisten tun sich schwer mit Emmanuel Macron. Jacques Chirac war der hünenhafte Bonvivant. Nicolas Sarkozy der ordinäre Kleine, der sich aufplustern muss. François Hollande der lüsterne, schwabbelige Angsthase. Doch was genau soll man an Macron überzeichnen?
Er ist weder groß noch klein. Der Nordfranzose misst einen Zentimeter weniger als der Durchschnitt, nämlich 1,73 Meter. Schmächtig, aber nicht zu übersehen. Eine gewisse Eleganz, wiewohl mit Zahnlücke. Ein Mann, mehr Kopf als Körper. Mit der schmalen Krawatte und dem noch enger geschnittenen Anzug gleicht er auf frappierende Weise Boris Vian, dem Chansonnier und Kultautor der 1950er Jahre. «Was kümmert es mich, ob ich hässlich oder hübsch bin. Es kommt einzig darauf an, den Leuten zu gefallen, die mich interessieren», schrieb Vian.
Frankreichs Kommentariat ist sich bis heute im Unklaren, wen sich die Franzosen 2017 da eigentlich angelacht haben. Der linken Philosophin Myriam Revault d’Allonnes erscheint Macron als «ungreifbar».3 «Er ist ein seltsamer Mensch. Nicht fassbar. Er lässt sich nicht dechiffrieren», konstatierte Michel Houellebecq.4 Macron sagt selbst immer wieder: «Die Franzosen wissen nicht, wer ich bin.»5
Die Linke beschimpft ihn als «Präsident der Reichen» und «neoliberalen Abbauer des Sozialstaats». In der Tat: Reiche, die ihr Vermögen in Aktien und Finanzmarktanleihen halten, profitieren übermäßig von Macrons Steuersenkungspolitik. Er ist stolz darauf, «pro business» zu sein, und schwächt, ohne zu zögern, den Arbeitnehmerschutz. Und wo sein Vorgänger François Hollande die Spitzenverdiener mit 75 Prozent besteuern wollte, erwiderte Macron, das mache Frankreich «zu einem Kuba ohne Sonne».
Aber: Als Präsident hat er den Netto-Mindestlohn und die Mindestrente stärker angehoben als seine beiden Vorgänger zusammengenommen. Ein neues Gesetz, das die Nationalversammlung auf seine Initiative hin verabschiedet, erlaubt der Steuerfahndung, Daten sozialer Netzwerke wie Instagram zu verwenden, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen — wenn sie beispielsweise behaupten, nicht in Frankreich zu leben oder arm zu sein. Macron verdoppelt die Vaterschaftsurlaubstage und halbiert die Größe von Schulklassen in sozialen Brennpunkten (auf maximal zwölf Schüler). Er stellt dazu Tausende neue Lehrkräfte ein und hebt ihre Löhne um 3 000 Euro jährlich an. Er sagt der «Menstruations-Armut» den Kampf an und lässt in Frauengefängnissen und bei lokalen Tafeln für Bedürftige Automaten mit kostenfreien Hygieneartikeln aufstellen.
Den Karikaturisten ist es misslungen, Macron als Geldmenschen zu entlarven; irgendwie fehlt ihnen eine griffige Chiffre. Macron trägt weder eine Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase noch eine Rolex ums Handgelenk wie Sarkozy, ebenso wenig lässt er sich auf die Yacht französischer Industriekapitäne einladen, zu denen er allemal Abstand hält. Die «old economy» interessiert ihn nicht sonderlich. Lieber mischt er sich unter französische Start-up-Gründer. In seinen vier Jahren bei der Investmentbank Rothschild & Co. hat er zwar insgesamt 2,9 Millionen Euro verdient. Aber laut der staatlichen Stelle, die die Konten der Präsidentschaftskandidaten durchleuchtet, verfügte Macron 2017 über eins der kleinsten Vermögen aller Bewerber: nur ein Drittel des Kapitals von Linksaußen Jean-Luc Mélenchon. Und er fährt einen Volkswagen Baujahr 2005. Geldgetrieben sieht anders aus (umweltbewusst möglicherweise auch).
Macrons Wirtschaftspolitik ist orthodox, sie könnte als Checkliste der Politikempfehlungen des Internationalen Währungsfonds durchgehen. Die Reden des Staatspräsidenten sind viel zu lang; er liebt es, vor Publikum die Einzelheiten seiner Reformpläne durchzudeklinieren. Dennoch entspricht er nicht dem Klischee des kühlen, der Realität entrückten Technokraten wie der einstige Präsident Valéry Giscard d’Estaing, der Ende 2020 verstorben ist.
Macron ist immer auch der geschichtsbewusste Philosophenpräsident; er will weniger ein Manager als vielmehr ein in langen Zeiträumen denkender Staatsmann sein. Indessen sucht er mehr als seine Vorgänger den Kontakt zur Bevölkerung. Auf dem Höhepunkt der «Gelbwesten»-Proteste im Winter 2018–19, die das ganze Land lahmlegten, lancierte Macron den Grand Débat National: Binnen 80 Tagen fanden 10 134 Gesprächsrunden statt; die Franzosen waren eingeladen, ihre Anliegen und Sorgen zu äußern. Macron ging auf Frankreich-Tournee und reihte 16 Aussprachen von insgesamt 93 Stunden aneinander. Er hörte zu, gab recht, widersprach und erläuterte, was das Zeug hält. In diesen «Großen Debatten» war manchmal geradezu körperlich zu spüren, wie sich im Publikum die Frustration und Spannung in Luft auflösten. Trotz des anbrechenden und in Frankreich stets rebellischen Frühlings verebbten die Proteste.
Macron trägt Europas hartherzige Migrationspolitik mit. Er lässt keine Gelegenheit aus klarzustellen, dass er die «illegale Zuwanderung» bekämpfen und den Schleppern das Handwerk legen will. Er zieht die Stellschrauben des eher liberalen französischen Ausländerrechts an, vor allem pocht er auf eine unbarmherzige Umsetzung. Den Kampf gegen den Islamismus zeichnet er als eine zivilisatorische Auseinandersetzung zwischen dem Europa der Aufklärung und dem Obskurantismus. Zur Debatte um Denkmale und sonstige Darstellungen historischer Figuren, die im Sklavenhandel involviert waren, erklärt Macron «klipp und klar», die Republik werde keine Statuen vom Sockel stoßen.6 Der erste Rechtsakt, den die neue Macron-Mehrheit 2017 im Parlament verabschiedete, ist ein Terrorismus-Gesetz, das viele einschränkende Bestimmungen aus dem temporären Notstandsgesetz in die permanente Rechtsordnung übernahm.
Trotzdem taugt Macron nicht als der typisch wertkonservative, geschweige denn «abendländische» Politiker. Er mimt weder den wohltemperierten Aristokraten, wie das Giscard d’Estaing tat, noch den rustikalen, authentischen homme du terroir, die Rolle, mit der