Emmanuel Macron. Joseph de Weck

Emmanuel Macron - Joseph de Weck


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zum kleinen Regelbruch, es hat viel Sympathie für denjenigen, der eine verbotene Abkürzung nimmt, und eine Faszination für Eigenwillige, die sich über Konventionen hinwegsetzen, ja ganz und gar nach ihren Gesetzen leben.

      An Macron fasziniert die Franzosen insbesondere die Liebesgeschichte mit seiner Ehefrau. Fast ein Vierteljahrhundert älter ist die Studienrätin, die Macron als Leiterin der Theater-AG seines Jesuiten-Gymnasiums La Providence in der Picardie kennenlernt und die nun Frankreichs première dame ist. Es ist die Geschichte einer amour interdit im Wortsinn: In Frankreich werden sexuelle Beziehungen (auch einvernehmliche) von Lehrpersonen mit minderjährigen Schülern und einem Altersabstand von mehr als 15 Jahren mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft.

      Diese liaison dangereuse ist vor allem ein Bruch gesellschaftlicher Normen. Ganz Amiens tuschelt über die Affäre. Brigitte Auzière ist nicht irgendwer. Sie entstammt einer alteingesessenen Chocolatier-Familie. Sieben Confiserien betreibt das Unternehmen, das mittlerweile in der sechsten Generation geführt wird und dessen Spezialität macarons (!) sind, ein luftiges Mandelgebäck. Und: Brigitte ist verheiratet und Mutter; eine ihrer Töchter ist Macrons Klassenkameradin.

      Die Situation wird 1993 etwas entschärft, als Macron mit 16 Jahren von Amiens nach Paris wechselt. Am Elitegymnasium Henri IV, das seine Schüler unter den Besten der Republik auswählt, absolviert er sein Abitur, das Baccalauréat. Doch auch die Hauptstadt bringt Macron nicht auf andere Gedanken, hartnäckig drängt er Brigitte in stundenlangen Telefonaten, sich von ihrem Mann zu trennen.

      Ein Jahr darauf verlässt Brigitte nun ebenfalls Amiens und unterrichtet an einem Pariser Gymnasium, um bei Macron zu sein. 2007 heiratet das Paar, das auch in Paris Aufsehen erregt. «Wir hatten einigen Gegenwind. Wollten wir eine Liebe wie die unsere leben, mussten wir uns ein dickes Fell zulegen, um böswilligen Kommentaren, dem Spott und den Gerüchten standzuhalten. Wir mussten Schulter an Schulter stehen, mutig und lebensfroh sein», sagt Brigitte später in einem Interview.13

      Wer wagt, gewinnt: Das Leben scheint Macron recht zu geben. Der gemeinsame Kampf für die Akzeptanz ihrer Liebe hat ihn geformt. «Unsere Geschichte hat uns den unbedingten Willen eingeimpft, nichts dem Konformismus zu opfern, wenn man mit Kraft und Ernst daran glaubt», lautet der letzte Satz des autobiographischen Teils von Révolution.

      Diese ungewöhnliche Beziehung beeindruckt selbst die linke Schriftstellerin Virginie Despentes, die sonst kein gutes Haar an Macron lässt. Er habe ein «befriedetes Verhältnis zur Männlichkeit». In seinem Fall sei die Frau eines Politikers nicht lediglich eine Trophäe. Vor allem zeige sich Macrons Emanzipation und Fähigkeit, «das Leben zu leben, wie er es will».

      Diese Liebe contre jede Konvention ist mittlerweile Teil von Macrons politischem Kapital geworden. Sie kennzeichnet ihn als selbstbestimmte, durchsetzungsstarke und zuweilen transgressive Persönlichkeit, die sich so leicht nicht beeindrucken lässt und selten Risiken scheut. Macron kultiviert seit Beginn seiner politischen Karriere gezielt dieses Image als Solitär jenseits der Parteien und Konventionen.

      Nebem seinem Liebesleben ist sein bestes Instrument dazu auch sonst der wohlbedachte Tabubruch. Als Minister einer sozialistischen Regierung fordert er die Abschaffung der 35-Stunden-Arbeitswoche. Er macht Europa zum zentralen Kampagnenthema in einem Land, in dem alle Parteien seit dem Debakel der Volksabstimmung zum Europäischen Verfassungsvertrag 2005 die Frage zu umschiffen versuchen, wie sie denn zur Europäischen Union stünden — damals hatten 55 Prozent mit Nein gestimmt. Er bewertet Frankreichs Kolonialgeschichte als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», ungeachtet der vielen älteren Bürger, die im Algerienkrieg kämpften, und der 3,2 Millionen pieds-noirs («Schwarzfüße»), Algerien-Franzosen und ihrer Nachkommen, die seit 1830 in das nordafrikanische Land einwanderten und nach der Unabhängigkeit Algeriens zurück nach Frankreich gingen. Emmanuel Macron «ist dieses Kind, das Spaß daran hat, in Pfützen zu stapfen», abseits der Skipiste zu fahren und genau das Gegenteil dessen zu machen, was man von ihm erwartet, schreibt die Journalistin Corinne Lhaïk, die Macron seit neun Jahren beobachtet.14

      Mit kleinen oder waghalsigen Grenzüberschreitungen zieht er die Aufmerksamkeit auf sich. Er rechtfertigt sich damit, dass er eben Klartext rede und den Franzosen die Wahrheit sage. Das Land sei zu lange vom politischen Personal mit einem «sterilisierten Diskurs» abgespeist worden. Die Wahrheit zu sagen: Ist das, ganz nach dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci, den Macron gern zitiert, nicht der eigentliche «revolutionäre Akt», mit dem man eine Gesellschaft zwingt, in den eigenen Begriffen zu denken?

      Es ist nicht so, dass seine Landsleute diese Transgressionen unisono gutheißen. Aber sie provozieren fast jedes Mal eine Debatte, die es ihnen erlaubt, miteinander ins Gespräch zu kommen, und jeden Einzelnen dazu einlädt, seine Position zu definieren. Und Widerspruch setzt zumindest Anerkennung voraus. Wenn Macron etwas bekommen hat, das sein Vorgänger Hollande nie erhielt, dann ist es dies: Anerkennung für seine Eigenständigkeit und das Wagnis, sich zu exponieren. Auch für die Chuzpe, seinen Wählerinnen und Wählern etwas zu zumuten.

       DER HEGELIANER

      Tatendrang ist eine weitere Eigenschaft des Emmanuel Macron, die ihn zum Romanhelden qualifiziert. Ursprünglich wollte der Junge aus Amiens Schriftsteller werden.15 In Frankreich wird dem erfolgreichen Intellektuellen oder Künstler zuteil, was in den Vereinigten Staaten dem Selfmade-Milliardär vergönnt ist: der sichere Weg zum Einzug in das Pantheon der Geschichte der Nation.

      Man stelle sich vor: Bis zu einer Million Menschen kamen im Dezember 2017 in den Straßen von Paris zusammen, als der Gedenkgottesdienst für die Rocklegende Johnny Hallyday in der Pfarrkirche Madeleine abgehalten wurde. Weitere 15 Millionen verfolgten die Live-Übertragung im Fernsehen. Dass Hallyday Jahre zuvor in die Schweiz gezogen war, um Steuern zu sparen, war vergeben und vergessen.

      Die 40 Mitglieder der Académie française, jener Institution, die seit 1635 die französische Sprache «pflegen» soll und den Inhalt des französischen Wörterbuchs bestimmt, werden buchstäblich «les immortels» («die Unsterblichen») genannt. Die Aufnahme ist die Krönung einer intellektuellen Karriere und in erster Linie Schriftstellern und Philosophen vorbehalten. Unsterblichkeit und ungeteilte Bewunderung erlangt man in Frankreich durch kulturelles Schaffen, seltener als Politikerin oder Politiker, und schon gar nicht, indem man Geld verdient.

      Denn Kultur ist in Frankreich nicht Nebensache, sondern allgegenwärtig und alltäglich. Man kauft seinen trendigen deux-pièces (Zweiteiler) bei Zadig & Voltaire, den man dann beim Hamburgeressen im Take-away Le Flaubert mit Ketchup bekleckert, worauf man ihn im Kleinwagen Citroën Picasso zur Kleidereinigung Molière bringt. Bäckereien nennen sich in Anwandlung an Marcel Proust schon mal «Auf der Suche nach dem verlorenen Brot». Jeder Politiker, selbst ein Sarkozy oder eine Le Pen, will kultiviert erscheinen. Während der Gelbwesten-Krise debattiert Macron mit 64 Intellektuellen, vom Physik-Nobelpreisträger Serge Haroche bis zur Glücksökonomin Claudia Senik, live übertragen vom Radiosender France Culture.

      Der Stil, die Sprache, die Umgangsformen zählen. Auf den Profilen der Internet-Dating-Plattform Tinder schreiben nicht wenige, das Gegenüber müsse bitte schön die französische Grammatik und den spielerischen Umgang mit der Sprache beherrschen. Das TV-Duell vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 gewann Macron nicht nur, weil Le Pen vor laufender Kamera inhaltlicher Fehler überführt wurde, sondern auch, weil sie absichtlich etwas vulgär auftrat. Es sind oft die feinen Unterschiede, die entscheidend sind. Schließlich war es der Franzose Pierre Bourdieu, der das Konzept des «kulturellen und sozialen Kapitals» in die Soziologie einführte und damit den Gedanken in die Welt setzte, dass Ungleichheit nicht nur eine Frage der Verteilung materieller Mittel sei.

      In der Kulturnation Frankreich versucht sich auch Macron als Autor. Drei Bücher hat er angeblich bislang geschrieben. Als 19-Jähriger verfasste er einen ersten Roman über den spanischen Eroberer des Aztekenreiches, Hernán Cortés. Das zweite Werk handelt laut Aussage Brigitte Macrons von einer «enigmatischen, älteren Dame».16 Ein drittes Buch soll Macron über sein Leben geschrieben haben. Als Präsidentschaftskandidat


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