Emmanuel Macron. Joseph de Weck

Emmanuel Macron - Joseph de Weck


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der Bevölkerung das größte Vertrauen genießen.33

      Dieser Widrigkeiten nicht genug: Macrons Wahlsieg befeuert sofort die sozialen Spannungen. Den Anfang machen die von «Schwarzen Blocks» vereinnahmten und außergewöhnlich gewalttätigen Kundgebungen gegen Macrons Arbeitsmarktreform im Herbst 2017. Im April 2018 beginnt der Streik der Bahnarbeiter gegen die Abschaffung ihres arbeitsrechtlichen Sonderstatus. Über einen Zeitraum von drei Monaten steht der Bahnverkehr ganze 36 Tage still: ein Rekord, und trotzdem erleiden die Gewerkschaften am Ende eine Niederlage. Dann entsteht, anscheinend aus dem Nichts, im Winter 2018–19 die Gelbwesten-Bewegung. Die Protestierenden legen Verkehrskreisel und Autobahnen lahm. Samstags nehmen sie jeweils Frankreichs Stadtzentren in Beschlag, eine spektakuläre Kulisse für heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im Winter 2019–20 folgt dann eine breite Mobilisierung gegen die Rentenreform. Die Bahnarbeiter brechen mit 43 Streiktagen abermals den Rekord, und diesmal beteiligen sich auch die Angestellten der Pariser Metro, die Mitarbeiter des staatlichen Energielieferanten EDF und die Lehrer. Hinzu kommen die globalen Klimaproteste von Fridays for Future, die auch Frankreich erfassen. Und die Black-Lives-Matter-Bewegung geht nach dem Mord an George Floyd durch Polizeibeamte in Minneapolis auch in Frankreich auf die Straße und geißelt die systematische Polizeigewalt gegen die dunkelhäutige Minderheit.

      Lang vor der Coronavirus-Pandemie haben sich die Franzosen damit abgefunden, dass «Normalität» nicht mehr die Norm ist. Freunde in einen anderen Landesteil mit der Bahn zu besuchen oder am Wochenende in die Stadt zum Einkaufen zu fahren: All das verhinderten oft genug die Streikwellen. Die nicht gerade sport-affinen Pariser steigen en masse aufs Fahrrad um, sie wollen die Proteste und die Terrorangst umfahren. Oder sie verwandeln sich in Fußgänger. Fitnesscentern und Damenschuhgeschäften laufen buchstäblich die Kunden davon: Wer braucht noch Kardio-Training oder hochhackige Schuhe, wenn der tägliche Fußweg zur Arbeit fünf Kilometer quer durch Paris führt? Und jeden zweiten Sommer überrollt eine Hitzewelle die Stadt. Bürgermeisterin Anne Hidalgo ruft die älteren Pariser auf, in klimatisierte Bibliotheken, Supermärkte und Kinos zu gehen, sobald ihnen zu heiß ist. 2019 steigt das Thermometer in einer der am dichtesten besiedelten Metropolen Europas (Paris zählt 20 909 Menschen pro Quadratkilometer) mit wenig Grünflächen auf 42,6 Grad Celsius.

      Den abendlichen Konzertbesuch überlegt man sich zweimal seit dem Bataclan-Massaker. Das Weintrinken im Straßenbistro feiert man schon lange nicht mehr als Akt des republikanischen Widerstands gegen die Terroristen. Als im Spätsommer 2020 die Restaurants und Bars eine Weile wieder öffneten, galt manchen die Push-Benachrichtigung auf dem Mobiltelefon, es habe im Viertel eine Messerattacke gegeben, als definitives Anzeichen der Rückkehr zur «Normalität» des Pariser Lebens.

      Die Fernsehserie In Therapie, die bei Arte läuft und sechs fiktive Französinnen und Franzosen beobachtet, wie sie beim Psychiater ihr Bataclan-Trauma zu bewältigen versuchen, wird zum Publikumshit. Ein ganzes Land schaut auf der Fernsehcouch dem Geschehen auf der Psychologencouch zu, irgendwo zwischen Panikattacke und Erschöpfungsdepression.

      Am 15. April 2019 brennt auch noch Notre-Dame de Paris. Die nach fast 200-jähriger Bauzeit 1345 fertiggestellte Kathedrale, die Kriege und Revolutionen überlebt hat und 2016 Ziel eines missglückten islamistischen Bombenattentats war, steht im sonst versöhnlichen Pariser Feierabendhimmel in Flammen. Das Land bietet all den Zeitgenossen, die für Weltuntergangsstimmung anfällig sind, das volle Programm.

      Selbst die kollektive Euphorie nach dem Sieg der équipe tricolore bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 unterstrich letztlich die gedrückte Stimmung. Die Mannschaft wollte der Nation einen seltenen Augenblick des Glücks, der Sorgenlosigkeit und der nationalen Einheit schenken, wie beim legendären ersten Weltmeistertitel 1998. Kylian Mbappé, geboren 1998 als Sohn eines Kameruners und einer Algerierin, aufgewachsen in Seine-Saint-Denis, einem der Schauplätze der Pariser Banlieue-Revolten von 2005, sagte vor dem Turnier: «Ich will Frankreich verkörpern, es repräsentieren, alles für Frankreich geben.» Denn «eine Weltmeisterschaft löst viele Probleme. Sie macht das Land glücklich. Ob die Kassiererin, der Bürgermeister oder der Präsident: Alle machen sich mit einem großen Lächeln wieder an die Arbeit.»34

      Frankreichs individualistische Fußballstars bändigten ausnahmsweise ihre Egos. Die oft zerstrittenen Les Bleus fanden zueinander. Sie bildeten kein Team ziemlich bester Freunde. Aber die elf Franzosen, die am Tag des Finales in Moskau aus voller Kehle die Marseillaise sangen, stellten sich in den Dienst der gemeinsamen Sache. Mit wenig Glanz, aber dank ihrer Eintracht holen die Franzosen den zweiten Weltmeistertitel. Das Volk, das sich eigentlich nur lauwarm für den Fußball begeistert, tanzt in den Straßen. Frankreich feiert die Feste, wie sie fallen.

       CANDIDE ODER DER OPTIMISMUS

      Die kollektive Schwermut ist aber nicht nur der schwachen Wirtschaftsentwicklung, den gesellschaftlichen Spannungen und dem fundamentalistischen Terror geschuldet. Die Gedrücktheit ist auch Ausdruck der permanent praktizierten Introspektion der Franzosen.

      Zu den erfolgreichsten Autorinnen und Autoren zählen Michel Houellebecq, Virginie Despentes, Annie Ernaux und Édouard Louis. Sie porträtieren ihre Heimat als eine zerrüttete, gewalttätige Gesellschaft im Widerstreit mit der Modernität. Im Unterschied zu Deutschland scheint es in Frankreich sogar einen richtigen Nestbeschmutzer-Bonus zu geben. Der Schauspieler Gérard Depardieu beleidigt seine Landsleute als «Idioten» und nimmt die russische Staatsbürgerschaft an. An der Kinokasse wird Depardieu dennoch nur von Louis de Funès übertroffen, dessen Metier es war, sich meisterlich über seine Mitbürger lustig zu machen. Die Franzosen lieben diejenigen, die sie beschimpfen oder die ihnen den Spiegel vorhalten — sofern diese Störenfriede selbst Franzosen sind.

      «Die Hölle, das sind die anderen.» Ganz wie in Jean-Paul Sartres Kammerspiel Geschlossene Gesellschaft beschäftigen sich die Franzosen hauptberuflich mit sich selber. Wer sich dessen vergewissern will, besuche eine private Feier in Paris. Zu hören gibt es dort hauptsächlich Chansons, French House und lokale Rap-Klassiker. Die Abendnachrichten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens widmen im Schnitt 16 Prozent ihrer Sendezeit europäischen und internationalen Themen; in Deutschland liegt der Anteil bei fast 50 Prozent.35 In einer Umfrage gaben 53 Prozent der Franzosen an, oft oder gelegentlich mit Freunden und Verwandten auch über europapolitische Fragen zu diskutieren. In Deutschland sagen das 82 Prozent von sich.

      Und die Franzosen reisen selten ins Ausland.36 Warum auch? Frankreich hat alles, was der europäische Kontinent an Natur zu bieten hat: schneebedeckte Berge, dichte Wälder und Kornfelder, die sich bis zum Horizont ziehen. Da sind die trockene Provence, nasse bretonische Mondlandschaften, windstille Seen, endlose Flüsse, eine große und viele kleine Inseln und natürlich das Meer in zweifacher Ausführung: Man kann unter Palmen am Mittelmeer flanieren oder den Wellenreitern auf dem Atlantik zusehen und dabei Austern schlürfen. Und kommt winters die Sehnsucht nach Sonne auf, locken die vielen Direktflüge nach La Réunion im Indischen Ozean oder auf die Karibikinsel Guadeloupe. Keine Frage: Die Franzosen genügen sich selbst. Unglücklich sind sie trotzdem.

      Dass Frankreichs pessimistische Stimmung auch auf kulturelle Faktoren zurückzuführen ist, zeigt die Glücksforscherin Claudia Senik. Die Professorin an der Paris School of Economics hat Umfragedaten des European Social Survey aus vier Jahrzehnten durchforstet und ermittelt, dass die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder mit ähnlichen sozio-ökonomischen Profilen im Schnitt eine um 20 Prozent höhere Lebenszufriedenheit bekunden.

      Zugleich erstaunt, dass ein ganz anderes Bild entsteht, sobald man Französinnen und Franzosen nach der Zufriedenheit mit ihrem Einkommen oder ihrem Arbeitsplatz befragt. Im Sommer 2020 sagten 85 Prozent, sie seien zufrieden mit ihrem Job; lediglich 8 Prozent rechneten damit, dass sich ihre Situation in den kommenden zwölf Monaten verschlechtern werde. Diese Umfragewerte sind praktisch identisch mit denen aus Deutschland.

      An der Forschung von Senik fällt ein weiterer Punkt auf. Auch im Ausland lebende Franzosen sind weniger zufrieden mit ihrem Leben als die Bevölkerung im Gastland und andere dort lebende Ausländer. Umgekehrt werden Zuzügler nach Frankreich mit der Zeit ähnlich verzagt wie


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