Emmanuel Macron. Joseph de Weck
sie trägt die Hauptlast. Die Jugendarbeitslosigkeit (15 bis 24 Jahre) fluktuiert seit den 1990er Jahren bei knapp 20 Prozent und erreichte nach der Finanzkrise 2009 sogar fast 25 Prozent. Im langjährigen Schnitt sind 8 Prozent der Gesamtbevölkerung erwerbslos.
Das Scheitern aller Regierungen legt den beschränkten Handlungsspielraum der Politik offen, ja ihre Machtlosigkeit. Das ist fatal für die Republik, denn das Land ist, im Unterschied zur deutschen Kulturnation, eine Staatsnation: Der Staat hat die Nation überhaupt erst geschaffen. Er ist die primäre Identifikationsgröße und ein idealistisches Projekt. L’État (den man mit großem E schreibt, obwohl die Sprache fast nur Kleinbuchstaben verwendet) soll den Franzosen Rechte und somit die Freiheit geben, nach ihrer Fasson zu leben; er soll umverteilen und dadurch Gerechtigkeit schaffen; und er soll die Bürgerinnen und Bürger «zusammenführen» (das Zauberwort rassembler), das heißt sie miteinander verbrüdern. Dazu gehört das in der französischen Verfassung verankerte Recht auf Arbeit, das auf die sozial-republikanische Revolution von 1848 zurückgeht. Aber wozu ist dieser Staat noch gut, wenn er die Lebensrealität der Franzosen nicht mehr zu gestalten und die Rechte, die er festschreibt, nicht durchzusetzen vermag?
DER 21. APRIL
So kam es 2002 zu dem Tag, der als le 21 avril in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Der sozialistische Kandidat Jospin, der gegen Amtsinhaber Jacques Chirac antritt, erhält bei der Präsidentschaftswahl im ersten Durchgang lediglich 16 Prozent der Stimmen. Der Kandidat des rechtspopulistischen Front National, der rechtskräftig verurteilte Antisemit Jean-Marie Le Pen, zieht in den zweiten Wahlgang gegen Chirac, der mit knapp 20 Prozent selber ein lamentables Ergebnis erzielt hat. Viele Franzosen erleben den Tag als nationales Trauma. Zwei Wochen später gewinnt Chirac den zweiten Wahlgang mit 82 Prozent der Stimmen, die Wahlbeteiligung liegt bei fast 80 Prozent.
Romane, Filme und unzählige Sachbücher haben seither das «politische Erdbeben» vom 21 avril aufgegriffen und zu deuten versucht. Das einhellige Urteil: Es lag an der desolaten wirtschaftlichen Lage.
Das im deutschen Sprachraum meistgelesene (wiewohl in Frankreich kaum bekannte) Buch zu der These «Armut schafft Unmut» ist Didier Eribons halb autobiographische, halb soziologische Studie Rückkehr nach Reims, 2009 erschienen. Der Marxist Eribon, der wie Macron aus dem deindustrialisierten Norden stammt, erläutert anhand seiner Familiengeschichte, warum vormals links wählende Arbeiter zum Front National (heute Rassemblement National) gewechselt sind.
Die Erklärung des Soziologen: Die linken Parteien verstünden Politik nicht länger als Klassenkampf; sie verfolgten einen wirtschaftsliberalen Kurs, sie hätten die Arbeiter fallengelassen. Es gebe mehr Armut und darum mehr Front-National-Wähler, so die schlichte These, verkürzt sie doch den Rechtspopulismus auf eine rein ökonomische Frage. Liberale und Rechte bleiben ihrerseits in dieser Logik gefangen, wenn sie die Gegenthese vertreten und die missliche Lage am Arbeitsmarkt auf die «Reformblockade» der Linken zurückführen.
Doch wirtschaftliche Aspekte sind offensichtlich nur ein Teil der Erklärung. Von Dänemark über die Schweiz und Österreich bis nach Ungarn und Polen: In den wirtschaftlich erfolgreichsten und sozial mobilsten Ländern Europas sind Rechtspopulisten zum Teil noch erfolgreicher als in Frankreich. Autoritarismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sind für viele Zeitgenossen auch dann attraktiv, wenn sie gute Chancen auf eine sichere Stelle und sozialen Aufstieg haben. Eribon lässt dies übrigens selbst anklingen. Das Arbeitermilieu, dem er als Homosexueller nach Paris entfloh, sei dem konservativen Gesellschaftsbild der Rechten schon immer nahe gewesen, schreibt er. In der patriarchalen Arbeiterwelt mit sexistischen und rassistischen Reflexen sei der Kampf der Linken für die Rechte von Ausländern oder sexuellen Minderheiten auf Unverständnis gestoßen.
Trotz des ganzen Kraftaktes einer Post-Rationalisierung des Aufstiegs des Front National durch Frankreichs Intellektuelle: Richtig verarbeitet haben sie das «Erdbeben» trotzdem nie. Chirac, Sarkozy und Hollande: Seit dem 21 avril agierten auch Frankreichs Präsidenten in steter Angst vor den Rechtspopulisten. Und viele Franzosen fühlen sich als Opfer einer nicht enden wollenden Farce. Präsidenten kommen und gehen. Doch egal, wen das Volk wählt, ob links oder rechts, jede Regierung sieht sich gezwungen, wegen des wachsenden Schuldenbergs und der anhaltenden Schwäche der Wirtschaft Einschnitte am Sozialstaat hier und Abstriche an den Arbeitnehmerrechten dort vorzunehmen.
Das gibt Nahrung für das in Frankreich sehr präsente Narrativ eines déclassement: eines französischen Abstiegs in die zweite oder dritte Liga. Frankreich werde abgehängt, dem Land gehe es schlecht, so die von Buch zu Buch und von Leitartikel zu Leitartikel bekräftigte Dauermeinung. Streitschriften wie Der französische Selbstmord: 40 Jahre, die Frankreich zerstört haben30 werden zu Bestsellern. Jede literarische Saison bringt immer neue Variationen des Themas: Das französische Malheur, Frankreich stürzt ab, Besessen vom Niedergang — die Liste ist endlos. Rundfunksendungen widmen sich Fragen wie: «Kann es einem gut gehen in einem Land, dem es schlecht geht?»
Deutschland kommt hier eine besondere Rolle zu. Permanent wird der Vergleich mit dem großen Nachbarn am anderen Ufer des Rheins gesucht, ob es denn um Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, die Zahl der jährlichen Streiktage oder die der Patentanmeldungen geht. Rundum scheint die Bundesrepublik besser abzuschneiden. Selbst bei den Geburtenziffern — lange Frankreichs Stolz — holt der Nachbar allmählich auf.
PERMANENTER AUSNAHMEZUSTAND
Das mediale Narrativ eines nationalen Versagens spiegelt die trübsinnige Grundstimmung in der Bevölkerung. Seit Jahrzehnten bestätigen Umfragen, dass die Franzosen die Zukunft besonders pessimistisch einschätzen.
2019 glaubten 73 Prozent, Frankreich sei im Niedergang begriffen (und historisch gesehen ist das ein eher tiefer Wert!).31 Nur gerade 34 Prozent der Franzosen befanden im Sommer 2020, die Lage im Land sei «gut»: In der Bundesrepublik waren es 73 Prozent. Und 76 Prozent der Franzosen, aber bloß 43 Prozent der Deutschen bezeichneten die wirtschaftliche Lage als schlecht.
Gefragt, ob ihre nationale Kultur anderen überlegen sei, stimmen in einer anderen Umfrage 36 Prozent der Franzosen zu — im Vergleich zu 45 Prozent der Deutschen und 50 Prozent der Schweizer.32 Sage noch einer, die stolzen Franzosen seien chauvinistisch! Sie gehen unbarmherzig mit sich selbst ins Gericht.
Das hat nicht nur mit dem Auf-der-Stelle-Treten der Wirtschaft zu tun. Frankreich kommt seit Jahren einfach nicht zur Ruhe. Zum einen sind da die Terror-Anschläge: die Bluttat in der Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo und die Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt am 7. Januar 2015; das Massaker im Pariser Konzerthaus Bataclan und auf zwei Barterrassen am 13. November 2015, während zur selben Zeit ein Anschlag auf das Freundschaftsspiel Deutschland–Frankreich im Stade de France fehlschlägt; die Lastwagen-Attacke am Nationalfeiertag 2016 auf der Promenade des Anglais in Nizza; die Attacke auf den Straßburger Weihnachtsmarkt am 11. Dezember 2018. Dazwischen traumatisieren immer wieder Messer-Attentate mit meist zufälligen Opfern — auf der Pariser Prachtstraße Champs-Élysées, aber auch in mittleren Städten und kleinen Ortschaften in der Provinz. Schockierend sind auch die zielgerichteten Morde an Juden, Priestern und Soldaten. Einer der jüngsten Anschläge in dieser Reihe ist die Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty am 16. Oktober 2020. Er hatte in einer Unterrichtsstunde zum Thema Meinungsfreiheit Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt.
Seit 2015 hat die Republik 31 solcher Terroranschläge erlebt, zuzüglich einer Vielzahl verhinderter Attentate. Zehntausend Soldatinnen und Soldaten der «Opération Sentinelle» patrouillieren jahraus, jahrein in Frankreichs Bahnhöfen, Gotteshäusern und Einkaufsstraßen. Man hat sich vollkommen daran gewöhnt, am Eingang eines Einkaufszentrums einen in Camouflage gekleideten Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag zu sehen. Nicht nur die Straßen sind militarisiert: die Geheimdienste haben freie Hand, Anti-Terror-Gesetze werden laufend verschärft. Individuelle Freiheit hin oder her: In der Krise setzen die Franzosen auf den Staat und erwarten, dass er sie mit seiner geballten Kraft beschützt. Die Armee (85