Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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      Unsichtbar dich umschweben mein irrer Geist,

      Wenn du im schattenreichen Thale

      Schwebenden Ganges auf Blüten wandelst,

      Von jungen Zweigen dir auf den Pfad gestreut:

      Wenn du der Pracht der schönen Natur dich freust,

      Biß aus versilberten Gewölken

      Freundlich der leuchtende Mond hervorglänzt.

      Dann wandeln schnell dich düstre Gedanken an

      Von Tod und Trennung, und von der Vergänglichkeit:

      Du kehrst mit ahndenden Gefühlen,

      Traurig gen Hauß und voll stummer Wehmut.

      Ein unbekandter Schauer durchbebt dein Herz:

      Der Menschen Anblik, der dir sonst theuer war,

      Wie Frühethau der Rosenknospe,

      Tauschtest du gerne mit tiefer Stille,

      Dort ungesehn zu weinen, biß sanft der Schlaf

      Auf deine Augen Körner der Ruhe streut:

      O, dann erschein’ ich dir im Traume,

      Strahlend in himmlischem Glanzgewande,

      Und nenne Braut dich, halte den Hochzeitkranz

      Dir dar: du kränzest, freudig dein Haupt damit.

      Dann führ’ ich dich zum Traualtare,

      Wo uns die segnende Hand des Tods

      Auf ewig bindet. Freundin! du bebest ihm?

      Vielleicht ist’s Vorgefühl der Unsterblichkeit!

      O des Erstaunens, wenn du aufwachst:

      Leb ich noch, bin ich schon hingeschlummert?

      Du Heißgeliebte! nahe schon rauschet Dir

      Sein kühler Fittig! freue dich, wenn dein Geist

      Sich von der schönen Hülle losreißt,

      Glänzet ein Tag dir, der nimmer Nacht wird.

      Dann lieben erst sich zärtliche Herzen ganz,

      Wo blaße Scheelsucht nimmer im Dunkeln laurt,

      Wo kein Verhältniß mehr Gebürge,

      Unüberfliegbar der Sehnsucht, hinthürmt.“12

      Die Historisch-Kritische Hölderlin-Ausgabe (auch Frankfurter Ausgabe FHA) liest allerdings den Titel als An Morna. Möglicherweise erinnert HölderlinHölderlin, Friedrich in seinem LutherLuther-Text an diese geliebte und bedichtete Frau aus den Studientagen im Tübinger Evangelischen Stift. Gemeinhin wird in der Hölderlin-Forschung Morea indes als ältere Bezeichnung für die griechische Halbinsel Peloponnes gelesen. Zu Hilfe nimmt man dabei Namensnennungen in Hölderlins Roman HyperionHyperion (1797/99) und in seinem Gedicht Der RheinDer Rhein (1801 entstanden, 1808 gedruckt), worin „die Küsten Moreas“ erwähnt werden – wie auch im Hyperion – und sich dies dann unzweideutig auf die griechische Halbinsel beziehen lässt.13

      In seinem LutherLuther-Gedicht setzt HölderlinHölderlin, Friedrich vor Morea das Wort „Patmos“ (V. 59). Er hat dieser Insel ein eigenes Gedicht mit dem gleichnamigen Titel gewidmet, die verschiedenen Fassungen sind nach 1802/03 entstanden. Die Insel Patmos liegt an der Schwelle zwischen Abendland und Morgenland, kennzeichnet also einen entscheidenden kulturellen Übergang, der als Thema für Hölderlins lyrisches Werk bedeutend ist. In religionsgeschichtlicher Hinsicht – und darauf bezieht sich ja Hölderlins Gedicht – ist die Insel insofern von Interesse, als sich der Evangelist Johannes dort aufhielt und seine Visionen empfing, die als Offenbarung des Johannes in den Bibelkanon eingegangen sind.14

      Patmos kann nun schlicht als jener Ort in Hölderlins Gedicht gelesen werden, der für den Empfang religiöser Offenbarungen ebenso steht wie für die Verschriftlichung dieser spirituellen Kraft. Damit kehrt Hölderlin die Bedeutung des Worts hervor, auf der Autorebene bedeutet das: des Dichters Wort. Auf der Inhaltsebene eröffnet Hölderlin dadurch den Blick auf Luther und wirft indirekt die Frage auf, wo LuthersLuther, Martin Ort ist, das Wort Gottes in das rechte Menschenwort zu überführen? Und dieser Patmos-Ort Luthers ist die Wartburg als dem Ort von Luthers Bibelübersetzung. Mag es Zufall sein, dass auch Zacharias WernerWerner, Zacharias in seinem LutherLuther-Drama Patmos als religionsgeschichtliche und dogmatische Referenz benennt. Aber dadurch wird noch einmal der literarische Gegensatz zwischen appellativem Trivialbild wernerscher Provenienz und hymnischem Sinnverweis bei Hölderlin erkennbar. Bei Werner berichtet Staupitz davon, wie Luther mit der gewählten Einsamkeit als Junker Jörg zurechtkommt. Er wolle seine Verbannung verlassen, nur mit Mühe sei es gelungen,

      „Ihn zu besänftigen, und jetzo lebt er

      Zufrieden dort auf seinem schönen Pathmos,

      Den Studien obliegend und der Jagd,

      Die ihn in müß’gen Stunden baß ergötzt“15.

      Wie weit ist dieser Text von der dichten Hymnik Hölderlins entfernt, und doch sind beide Texte nahezu zeitgleich entstanden. HölderlinHölderlin, Friedrich hingegen stellt mit nur einem einzigen Wort (nämlich Patmos) die Analogien zwischen der Insel Patmos und der Wartburg her, zwischen Johannes und LutherLuther, Martin und zwischen dem Offenbarungswort des Johannes und dem übersetzten Wort Gottes Luthers. Luthers Patmos ist die Wartburg, Luther und die Reformation insgesamt bekommen damit einen kulturellen Stellenwert in der Neuzeit, der dem kulturellen Stellenwert des Johannes im „Reich der Kunst“ (V. 4) des antiken Griechenlands entspricht. Die Frage bleibt erklärungsbedürftig, was dem Reich der Kunst in der Neuzeit auch tatsächlich korrespondiert, welche kulturgeschichtliche Auslegung also die Reformation durch Hölderlins Gedicht erfährt?

      Um sich einer Antwort zu nähern, muss man nun die Verse 60 bis 71 heranziehen. Der Satz und die einzelnen Satzteile werden durch eine Implikation, eine wenn-dann-Klammer zusammengehalten: „wenn die Glocke lautet [lies: läutet]“ (V. 64) bis „dann kommt das Brautlied des Himmels“ (V. 71). Bevor geklärt werden kann, was das Brautlied des Himmels bedeutet, müssen nun die Verse 60 bis 64 betrachtet werden. Sie geben den entscheidenden Hinweis. „Die Eule […] / Spricht“ (V. 60f.), heißt es dort. Die Eule wiederum ist nicht nur SymbolSymbol der Weisheit – am bekanntesten in der Gestalt der Eule der Minerva und der eulenäugigen Göttin Athene –, sondern auch das Symbol des von Adam WeishauptWeishaupt, Adam 1776 gegründeten Illuminatenordens, eines Geheimbundes. Ob Hölderlin an dieser Stelle seines Gedichts tatsächlich einen freimaurerischen Querverweis in seinen Text eingefügt hat? So gelesen würde demnach auch der Name Morea eine weitere Bedeutungsebene entfalten, Morea ist nämlich der Illuminaten-Ordensname für die „Badische Lande“16. Belegen lässt sich diese Querverbindung nicht, widerlegen aber auch nicht.17 Die Eule ist „wohlbekannt den Schriften“ (V. 60) – aber welche Schriften sind gemeint? Die Literatur, die Wissenschaft allgemein? Oder bestimmte Schriften?

      Die hier vorgeschlagene Lesart bezieht die im Gedicht angesprochene Erhaltung des SinnsSinn auf die Schriften. „Aber die erhalten den Sinn“ (V. 61), heißt es bei HölderlinHölderlin, Friedrich. Die Schriften bewahren – welche Schriften auch immer – Sinn, aber welchen Sinn? Der Leser ist durch die Dunkelheit des Gedichts gedrängt, Fragen aufzuwerfen, ohne Antwort heischen zu können, und aus diesem Verfahren der Fragenketten entsteht letztlich die Situation des Nichtwissens, des Nicht-mehr-lesen-Könnens, unmittelbar daraus „Entstehet Sprachverwirrung“ (V. 63). Hölderlin umspielt mit diesem Wort nicht die biblisch erzählte babylonische Sprachverwirrung, sondern er zielt tiefer, auf eine Sinnschicht im Text, welche die Übertragung der historischen, religiösen und mythologischen Anspielungen auf die erzählte Gegenwart des Gedichts erlaubt. Und diese erzählte Gegenwart ist eine doppelte, einmal betrifft sie die Reformation, zum anderen erzählt sie von der Biografie des Autors. Wenn die Weisheit spricht und Schriften den Sinn des gesprochenen Worts bewahren, dann bedeutet das für das LutherLuther, Martin-Thema Folgendes:


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