Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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daliegen, bey mehrerer Freyheit und Muse den letzten Fleiß zu wenden, und in glücklicher Stimmung die unvollendeten zu vollenden. Allein dieß scheinen in meiner Lage fromme Wünsche zu bleiben; ein Jahr nach dem andern ist hingegangen, und selbst jetzt hat mich nur eine unangenehme Nothwendigkeit zu dem Entschluß bestimmen können, den ich dem Publiko bekannt gemacht wünschte.“11

      Die drei Hauptteile PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis sind in sich chronologisch geordnet, nicht nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern hinsichtlich ihres Themas. Das erklärt, weshalb sich auch innerhalb der einzelnen Teile durchaus Härten und Überschneidungen finden. Und das bedeutet auch, dass das Buch keine Geschlossenheit in sich suggeriert, sondern durchaus auch nach thematischen oder textlichen Schwerpunkten gelesen werden kann. Der römische Dichter MartialMartial schreibt zu Beginn des zehnten Buches seiner EpigrammeEpigramme: „nota leges quaedam, sed lima rasa recenti“ (V. 3), „manches Bekannte wirst du lesen, aber es ist mit frischer Feile geglättet“12, ohne aber seine Herkunft oder Entstehungszeit verbergen zu wollen. In jedem Fall teile ich die Erfahrung von Moses MendelssohnMendelssohn, Moses, die er LessingLessing, Gotthold Ephraim in einem Brief am 11. August 1757 mitteilt: „Ich werde aber die Stellen […] aufsuchen, die ich eigentlich meine, und alsdenn werde ich mich selbst besser verstehen, und also besser erklären können“13. Gleichwohl steht über allem LesenLesen und DeutenDeuten LuthersLuther, Martin Mahnung: „Und es ist leicht möglich, dass du, weil du ein Mensch bist […] weder recht verstehst noch sorgfältig genug beachtest“14.

      Ich bin im Laufe meines Wissenschaftlerlebens vielen Menschen begegnet, die mich nachhaltig bereichert und beeinflusst haben. Die Wertschätzung, die ich durch sie erfahren habe, hat mich stets darin bestärkt, auch gegen große institutionelle und personelle Widerstände, die sich alle als ephemer erwiesen haben, dieses Projekt weiter zu verfolgen. Da dieses Buch über viele Jahre hinweg entstanden ist, haben natürlich verschiedene Generationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern daran mitgewirkt. Zuletzt waren dies bis zur Fertigstellung meine Assistentin Dr. Lisa Wille, die entscheidend mit dazu beigetragen hat, dass das umfangreiche Projekt überhaupt einen Abschluss finden konnte; ihr danke ich für viele produktive Gespräche. Nadine Dietz, Dr. Grit Dommes, Laura Löbig und Isabelle Wagner haben Vorbildliches geleistet und viel Geduld gezeigt, als es darum ging, die schier unübersehbare Menge an Quellen- und Forschungsliteratur zusammenzutragen und die einzelnen Kapitel redaktionell einzurichten, den Druck vorzubereiten sowie die Register zu erstellen. Alle zusammen haben mich beim Korrekturlesen selbstlos unterstützt.

      „Ich komme endlich auf die Anmerkung mit welcher ich schließen will“15, so lässt sich LessingLessing, Gotthold Ephraim in der Rettung des CardanusRettung des Cardanus (1754) vernehmen, und diese Anmerkung ist mir die wichtigste. Dieses Buch ist meiner Frau Silvia, den Kindern Yolanda, Seraphina, Rahel, Sarai und den Enkelkindern Rafael, Nikolai, Mats, Carlotta, Magdalena, Anton und Florin gewidmet. Sie alle geben mir den Rückhalt, ohne den eine so lange Wegstrecke nicht zu bewältigen ist. Ihnen bin ich aus tiefstem Herzen dankbar.

      Am Ende bleibt mir die allerletzte Zuflucht zu einem anderen Klassikerzitat. Laurence SterneSterne, Laurence lässt in seinem epochalen Roman Leben und Ansichten von Tristram Shandy, GentlemanLeben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (1759/67) seinen Protagonisten notieren: „Ich meinesteils bin entschlossen, mein Lebtag lang kein ander Buch mehr zu lesen als nur mein eignes“16. Das kann ich entschieden zurückweisen und mit Lessing schließen, der am Ende seiner Abhandlungen zur FabelAbhandlungen zur Fabel (1759) lakonisch bemerkt: „– Ich breche ab!“17 Dem habe ich nichts weiter hinzuzufügen.

      Kusel / Darmstadt, den 17. Februar 2020

EINLEITUNG – AUFRISS EINER PHILOLOGIE ALS KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR

      „UNENDLICHER DEUTUNG VOLL“. POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITBEDEUTUNGSOFFENHEIT

      „Binnenland-Horizonte“. Paul KleeKlee, Paul Offenes BuchOffenes Buch (1930)

      Im XIV. Abschnitt seines Kunstessays über Wilhelm Tischbeins IdyllenWilhelm Tischbeins Idyllen (1822) schreibt GoetheGoethe, Johann Wolfgang, die schönsten SymboleSymbol seien gerade diejenigen, „die eine vielfache DeutungDeutung zulassen, indes das dargestellte Bildliche immer dasselbe bleibt“1. Und an anderer Stelle, in seinem Brief an Sulpiz BoisseréeBoisserée, Sulpiz vom 16. Juli 1818, liest man, der Ausleger habe „völlig freie Hand, die Symbole zu entdecken, die der Künstler bewußt oder bewußtlos in seine Werke niedergelegt hat“2. Bekannt sind auch Goethes Definitionen von AllegorieAllegorie und Symbol, wie sie in den Maximen und ReflexionenMaximen und Reflexionen (1833) mitgeteilt werden. In Nr. 1112, die wie Nr. 1113 etwa um 1807 entstanden ist, heißt es: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei“3. Und Nr. 1113 lautet: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe“4. Oder Nr. 314: „Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“5.

      Um die Reflexion dieser Verbindung von SymbolikSymbol und vielfacher DeutungDeutung geht es in dieser Einleitung. Das wird besonders sichtbar in einem Bild der klassischen ModerneModerne, das als Umschlagbild dieser KulturgeschichteKulturgeschichte der Literatur dient. Die harten Fakten sind schnell resümiert, der Maler heißt Paul KleeKlee, Paul (1879–1940), das Bild wurde 1930 gemalt; die Maltechnik ist Wasserfarbe und Feder, mit weißer Lackgrundierung auf Leinwand in einem Keilrahmen; die Maße sind 45,7 cm x 42,5 cm, nahezu quadratisch. Das Bild wird im Salomon R. Guggenheim Museum (Nachlass von Karl Nierendorf), New York, aufbewahrt. Der Titel des Bilds wird mit Offenes BuchOffenes Buch, Open book oder Geöffnetes Buch wiedergegeben. Allerdings ist die exakte Titelbezeichnung nicht unerheblich für die DeutungDeutung des Bildes, denn wie in der LiteraturLiteratur kann auch in der bildenden Kunst der Titel eines Kunstwerks eine eigene, nicht unwichtige Signifikanz entfalten. In der Deutung macht es einen erheblichen Unterschied, ob man von einem offenen BuchBuch spricht oder von einem geöffneten Buch. Das geöffnete Buch setzt ein tätiges Subjekt voraus, das das Buch geöffnet hat. Und es drückt implizit aus, dass das Buch zuvor nicht geöffnet, sondern zugeschlagen und verschlossen war. Der Term ‚Das geöffnete Buch‘ denotiert mithin den Wechsel von einem Zustand in einen anderen und transportiert damit unterschwellig eine Dynamik. Anders verhält es sich mit dem Titel Offenes Buch. Redensartlich ist das (offene) Buch aus Sprichwörtern bekannt wie: eine Person oder das ganze Leben ist ein offenes Buch, oder man redet wie ein Buch, bis hin zum metaphorischen Gebrauch, wenn vom Buch des Lebens oder vom Buch der Bücher oder vom Buch der Natur gesprochen wird. In dieser SymbolspracheSymbolsprache steht das Buch in einer langen geschichtlichen Reihe, und die Metaphern von der Welt als Buch und von der Kultur als TextKultur als Text berühren sich hier. Beginnend bei der Bibel als dem Buch der Bücher mit den theologischen Implementen des Buchs der Gerechten und des Buchs des Lebens, sich fortsetzend über eine Art Grammatik des Buchs der Natur mit differenten Lesarten und dem Buch der Schöpfung, und in der Vormoderne und ModerneModerne eine fundamentale Infragestellung im Topos der UnlesbarkeitUnlesbarkeit der Welt erfahrend, gipfelnd wohl in HofmannsthalsHofmannsthal, Hugo von Chandos-BriefChandos-Brief (Ein BriefEin Brief) von 1902, worin es heißt: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen“6; am Ende bleibt Chandos die Erkenntnis, dass die Sprache, die er spricht und in der er denkt, aus lauter unbekannten Wörtern besteht. Allerdings hat das Buch der Natur aus der Sicht von SchillersSchiller, Friedrich Braut von MessinaBraut von Messina (1803) keinen guten Leumund, wenn Isabella dem Chor antwortet: „Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, / […] und alle Zeichen trügen!“ (V. 2392f.)

      Links unten am Rand finden wir Klees Künstlersignatur. Das K des Anfangsbuchstabens von Klee hat eine ähnliche Gestalt wie das darüber befindliche große Dreieck. Die Vertikallinie und die Diagonallinie im oberen Teil des BuchstabensBuchstaben bilden einen ähnlichen Winkel wie das Dreieck darüber. Was bedeutet dieses Dreieck? Es kann zum einen schlicht die geometrische Figur eines Dreiecks


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