Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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die Deutung als ein bautechnisches Handwerkszeug, als ein Winkelmesser, sofern man die Verbindungslinie zwischen rechtem Winkelpunkt und der Basislinie als eine abstrakte, weil nicht gebogene, imaginäre Angabe zur Winkelgröße denken will. Es kann aber auch als ein P gelesen werden, was einem Monogramm als dem grafischen SymbolSymbol von KleesKlee, Paul Vornamen gleichen würde, was mir die plausibelste DeutungDeutung ist, statt eines scripsit bzw. pinxit oder einer Künstlersignatur erscheint dieses transformierte P. Ebenso gut kann das Dreieck die Notation einer Tanzbewegung meinen, wenn man das Bild Offenes BuchOffenes Buch mit Klees Bild Abstraktes BallettAbstraktes Ballett von 1937 kontextualisiert, auf das die als P gelesene geometrische Linie dann vorausweisen würde.7 In diesem Bild findet sich dieselbe geometrische Grundfigur, dort stellt sie aber eine choreografische Zeichenschrift dar, neben den geometrischen Grundformen von Rechteck, Quadrat, Dreieck, Fünfeck, Kreis und Linien.8 KleeKlee, Paul stellt sich damit in die Tradition der modernen Ausdruckskunst und ihrer Notation, wie er sie bei Oskar SchlemmerSchlemmer, Oskar, Theo van DoesburgDoesburg, Theo van, Giacomo BallaBalla, Giacomo und Wassily KandinskyKandinsky, Wassily findet. Übertragen auf sein Bild Offenes BuchOffenes Buch heißt dies: Das wahre Buch würde ein neues Zeichensystem erfordern, das selbst aber auch aus Regularien der NotationNotation erwächst. Folgt man dieser DeutungDeutung, ergibt sich auch inhaltlich eine Weiterung. Die Begegnung mit offenen Büchern im buchstäblichenbuchstäblich oder im metaphorischen Sinn, was nicht unbedingt dem LesenLesen von Büchern gleichen muss, transformiert diejenigen, die sich dem offenen Buch zuwenden, aus der einen WirklichkeitWirklichkeit in eine andere Wirklichkeit. Die Buchstabenbuchstäblichkeit des Alphabets wird in eine andere Bedeutungs- und Zeichensprache überführt, es entsteht ein anderes Zeichen für P. Der linke, äußere Punkt des Dreiecks beginnt auf der gedachten Linie einer Verlängerung der darüber abgebildeten Buchseite. Was aber bedeutet dieser rätselhafte Tropfen unter dem P, zu dem sich keine Erklärung findet? Wenn es ein Tropfen wäre, fiele er verkehrt herum; deshalb ähnelt diese Figur eher einem aufsteigenden Ballon. Oder ist es ein spinnenartiges Lebewesen, das von oben betrachtet werden muss? Somit ergäben sich auf engstem Raum für den Betrachter oder die Betrachterin mehrere Perspektivenwechsel, die Klee als möglich, aber nicht als notwendig offeriert.

      Den größten Raum nimmt die Darstellung des offenen Buches selbst ein. Es scheint sich offensichtlich um die ersten Seiten eines einzigen Buches oder mehrerer Bücher zu handeln, wenn man den rechten Buchseitenblock dem linken äußeren, einzelnen Blatt gegenüberstellt. Dass es sich um die räumliche Darstellung eines offenen Buchs handelt, ist unzweifelhaft. Die Seiten umgibt ein schraffierter Strahlenkranz, der die räumlich-kontrastive Wirkung verstärkt, der aber auch als ein Verweiszeichen darauf gedeutet werden kann, dass diese Seiten etwas Helles, Strahlendes, jedenfalls Bedeutendes enthalten. Allerdings können die Betrachtenden Klees Buch nicht lesen, zumindest nicht im wörtlichen Sinn, denn es enthält keine Buchstabenzeichen. Die elf, eher winzigen Quadrate auf der zentralen, kleinen Buchseite in der Mitte sind die einzigen Zeichen, die zudem in Form und Größe variieren. Verweisen sie auf die Bedeutung des Bilds als das Buch des Lebens?9 Vom linken Buchrand aus betrachtet sind sieben einzelne Buchseiten zu erkennen, die ebenfalls in Form und Größe unterschiedlich sind, wobei nur die innere und kleinste Seite ein Dreieck bildet, die anderen Seiten sind Vierecke. Auffallend ist dabei, dass sich zwischen dem dritten und dem vierten Blatt eine tiefschwarze Hintergrundfläche öffnet, die suggestiv so wirkt, als sei die vierte Seite an dieser Stelle aus dem Buch herausgetreten oder gar herausgeschnitten. Die rechte Buchbildseite wird von dem Eindruck beherrscht, als seien zwei, möglicherweise auch drei Seiten geknickt und gefaltet. Das wären dann eindeutige Gebrauchsspuren, das BuchBuch und seine Seiten wurden benutzt, Leser*innen haben die Seiten bearbeitet. Der bräunlich gehaltene Farbton kann die gebräunten Seiten eines alten Buches suggerieren, die Punkte glichen sogar dessen Stockflecken; der Braunton am Rand changiert ins Gelbliche und gegen die Bildmitte hin ins Graubraune. Dies kann auch auf eine Erdverhaftung hinweisen, wonach ein Buch erdet, demnach Lesen erdet, demnach Fantasie und Fiktionalität erden.10 Vergleicht man KleesKlee, Paul Bild mit der barockenBarock Darstellung eines geöffneten Buchs, so ergeben sich bereits auf den ersten Blick die entscheidenden Differenzmerkmale, da die barocke Ikonografie in der Regel das Vanitas-Motiv zitiert, was bei KleeKlee, Paul völlig fehlt, es sei denn, man will den schwarzen Hintergrund der zentralen Buchseiten als eine gähnende Leere und als Ausdruck des Horror vacui lesen.11 Nimmt man beispielsweise das Buchbild Liber vitaeLiber vitae aus der Schule von Michael PacherPacher, Michael um 150012 oder das Stillleben mit geöffnetem BuchStillleben mit geöffnetem Buch13 eines anonymen deutschen Malers aus dem 16. Jahrhundert als Referenzbild, so wird deutlich, dass die dort noch lesbare Schrift der aufgeblätterten Buchseiten die Sicherheit einer Zeichenordnung repräsentiert, die bei Klee verloren gegangen ist. Im Offenen BuchOffenes Buch ist keine Schrift mehr lesbar. Klees Bild verwirft das Stillleben, es erschöpft sich aber auch nicht, wie Carl EinsteinEinstein, Carl in seiner Kunst des 20. JahrhundertsKunst des 20. Jahrhunderts meinte (1926, 3. Aufl. 1931), darin, dass es Erlebnisse kontrolliere und sie bauhaften Formen einordne.14 Vielmehr repräsentiert das Offene BuchOffenes Buch einen modernen Lebensstil, der auf die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnissicherheiten der Geschichte verzichten kann.

      Zu KleesKlee, Paul Bild gibt es weder vom Künstler selbst noch von der Klee-Forschung entscheidende Deutungshilfen.15 Lediglich diese knappen Bemerkungen in einem Ausstellungskatalog von 1967 wagen eine Deutungsrichtung: „Klee has arranged geometric forms so that they incline and rotate in a constructed depth“; „Klee tried to visualize his feelings about the book“; „mood with an exotic texture“; „The book is fixed in black mystery and […] we find a triangle with tiny brown squares: the mystery of the printed word“.16 An anderer Stelle ist die Rede davon, dass das Bild ein SymbolSymbol sei „für die Krise der Kultur des Schreibens“17. Das Offene Buch wurde auch vertont, was selbst bereits wieder eine DeutungDeutung darstellt.18

      Das Bild Offenes BuchOffenes Buch stellt für mich zweierlei dar. Zum einen visualisiert es die Unendlichkeit des Buchkosmos (das dunkle, schwarze Weltall).19 Schlage ich als Leser eine Seite auf, öffnet sich sofort eine nächste – es gibt keine abschließende Deutung. Das Buch ist das SymbolSymbol für LiteraturLiteratur schlechthin, und ich lese Klees Bild als ein SymbolSymbol der BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Demnach kann man sagen, Literatur generiert BedeutungsfülleBedeutungsfülle und DeutungsfülleDeutungsfülle. Ob diese abschließbar sind, bleibt offen, wie das Offene BuchOffenes Buch selbst. Zum anderen symbolisiert das Offene Buch als ein offenes BuchBuch das Buch des Lebens. Wir können es aufschlagen und darin lesen, aber wir werden es in der Lektüre nie endgültig vermessen können (darauf würde der Winkelmesser verweisen). Das Offene Buch lässt die Bedeutung eines offenen Geheimnisses assoziieren. Das Bild legt also etwas vor, das öffentlich gemacht werden will, das bekannt werden soll und das sich keineswegs in ein sakrales oder paganes Geheimnis zurückziehen will.

      In seiner Vorlesung vom 11. März 1981 sagte der französische Philosoph Michel FoucaultFoucault, Michel einmal: „Mir scheint, dass die Wirklichkeit, auf die sich ein Diskurs bezieht, welcher es auch sei, niemals den Grund für diesen Diskurs selbst darstellen kann”20. Foucault deutet sehr detailliert das Bild Dies ist keine PfeifeDies ist keine Pfeife (französicher Originaltitel: Ceci n’est pas une pipeCeci n’est pas une pipe) des Malers René MagritteMagritte, René (1898–1967). In seinem Essay Der Sinn der KunstDer Sinn der Kunst (1954) schreibt Magritte: „Der SinnSinn, das ist das Unmögliche für das mögliche Denken“, und: „Die Freiheit des Denkens ist das mögliche Denken des Sinns, das heißt das Denken des Unmöglichen.“21 Am 23. Mai 1966 schickt Magritte einen Brief an Foucault, der 1973 veröffentlicht wird und dem unter anderem eine Reproduktion seines Bilds Dies ist keine Pfeife beiliegt. Magritte notiert auf der Rückseite: „Der Titel widerspricht nicht der Zeichnung; er bestätigt auf andere Art“22. Hier geht es um die BedeutungBedeutung von Sinn bei der Bilddeutung und analog bei der TextdeutungTextdeutung. Magritte meint, sein Bild enthalte einen Sinn, den der Titel des Bilds in BuchstabenBuchstaben nicht wiedergebe. Der Titel Dies ist keine Pfeife entfalte nur in einem bestimmten Kontext Sinn, „der Kontext aber […] kann besagen, daß nichts konfus ist, außer dem Geist, der eine imaginäre Welt imaginiert“23. Foucault hat den Gedankenaustausch mit MagritteMagritte, René zum Anlass genommen, eine grundsätzliche Reflexion über den Status der Realität


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