Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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und die damit verbundene öffentliche Debatte um seine Person. Jauß selbst hat zu Lebzeiten ein autopersuasives Narrativ gepflegt, das mit den inzwischen bekannten Dokumenten nicht in Einklang zu bringen ist. Wichtige Dokumente wie seine Tagebuchaufzeichnungen aus der Internierungszeit, die Feldpostbriefe und anderes hat er 1995 verbrannt, „wohl wissend, dass die Briefe und Dokumente unschätzbares Material für die Mentalitätsgeschichte des Dritten Reichs gewesen wären“7. Dass es sich beim Denkmodell einer kommunikativ strukturierten RezeptionRezeption nach Jauß keineswegs um ein gänzlich neues Theorem handelte, war auch dem Autor selbst bewusst. In seiner Abschiedsvorlesung hat er auf diesen Umstand hingewiesen und dabei auch die historische Verwurzelung der Rezeptionstheorie hervorgehoben. Jauß zitiert aus den EssaisEssais (1580/85) des Michel MontaigneMontaigne, Michel de: „Ein gebildeter Leser entdeckt in den Texten oft andere Vollkommenheiten als solche, die der Autor selbst in sie gelegt oder an ihnen bemerkt hat. Und derart verleiht der Leser dem alten Text immer reicherePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Bedeutung und Gesichter“8.

      1982 veröffentlichte Jauß sein Hauptwerk Ästhetische Erfahrung und literarische HermeneutikÄsthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, das auf zahlreichen Vorarbeiten beruht und sie zusammenfasst. Ihm geht es darin um den Aufriss einer Theorie und Geschichte der ästhetischen Erfahrungästhetische Erfahrung, wie eine Kapitelüberschrift heißt, und um die entsprechenden literaturwissenschaftlichen und textanalytischen Exemplifizierungen. Die ästhetische Erfahrung, also der rezeptive Zustand in der Wahrnehmung von Kunst, hat sowohl einen prognostischen als auch einen retrospektiven Aussagewert. Ästhetische Erfahrung kann demnach im utopischen Vorschein ebenso zur Geltung kommen wie in einer Wiedererkenntnis, die in die Geschichte zurückverlängert wird. Damit werden Momente vergangener ästhetischer Erfahrung bewahrt und zugleich Momente zukünftiger ästhetischer Erfahrung neu entworfen. JaußJauß, Hans Robert bezeichnet als das eigentümliche, gleichwohl spezifische Merkmal der ästhetischen Erfahrungästhetische Erfahrung, dass darin das ästhetische Sinnverstehen eine freiwillige Leistung der Kunst sei, was ihren emanzipativen Charakter unterstreiche.9 Dass hier Zweifel kaum aus dem Weg zu räumen sind, ob Kunst tatsächlich sich je und stets Dogma und Logik entzieht, und ob Kunst tatsächlich immer und zu jeder Zeit durch Freiwilligkeit gekennzeichnet ist, muss skeptisch beurteilt werden. Denn der historische Prozess macht deutlich, dass die Geschichte der Funktionalisierung der Kunst mindestens ebenso lang ist und reich an Beispielen wie die Geschichte ihrer proklamierten Unabhängigkeit.

      Jauß wirft AdornoAdorno, Theodor W., nicht ganz unbegründet, „ästhetische[n] Snobismus“10 vor, wenn dieser die KatharsisKatharsis rundweg ablehne. Denn für die RezeptionstheorieRezeptionstheorie ist gerade die kommunikative Leistung der Kunst durch eine primäre, emotionale Identifikation (Lachen, Weinen, Bewundern, Rühren), die sich von der sekundären ästhetischen Reflexion unterscheidet, bedeutsam. Jauß bündelt diesen komplexen Vorgang im Begriff der Katharsis. Die Katharsis ist der Ort, wo sich „der Umschlag von ästhetischer Erfahrung zu symbolischersymbolisch oder kommunikativer Handlung“11 vollzieht. Katharsis ist Kommunikation zwischen Kunstwerk und Rezipierenden, ohne die sich ästhetische Erfahrung nicht konstituiert. Die ästhetische Identifikation dient als ein kommunikativer Vollzugsrahmen, der Verhaltensmuster überliefert oder neu generiert, der aber auch Handlungsnormen übersteigen und negieren kann.12 Jauß spricht von „meinen fünf Ebenen der Rezeption“, die er als einen „Zusammenhang von Funktionen der ästhetischen Erfahrung“ verstanden wissen will.13 Im Einzelnen sind dies die assoziative Identifikation, die admirative Identifikation, die sympathetische Identifikation, die kathartische Identifikation und die ironische Identifikation.14 Diese FunktionenFunktion kennzeichnet, dass sie alle von der Rezeption her gedacht sind und somit rezeptive Einschreibungen darstellen. Damit fallen sie als wesentliche BeschreibungsmöglichkeitenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) von Jauß’ PoiesisPoiesis und AisthesisAisthesis aus. Der ästhetische Genuss – und Jauß blendet die Frage nach dem ästhetischen Verdruss aus, die möglicherweise über den Begriff der Kontraidentifikation hätte reflektiert werden können – geht der KatharsisKatharsis voraus und ist ein Selbstgenuss im Fremdgenuss. Mit dieser Formel betont JaußJauß, Hans Robert die Seite der Erfahrung seiner selbst im Zustand der ästhetischen Erfahrung. Katharsis, PoiesisPoiesis und AisthesisAisthesis bestimmt er als die drei Grundkategorien des ästhetischen Genießens. Kritisch anzumerken ist dabei, dass die Katharsis auf diese Weise die Basis ihrer selbst wird, also Katharsis die Grundlage für Katharsis ist, was sich logisch nicht erschließt. Im Grunde genommen hätte Jauß auf die Bestimmung des ästhetischen Genießens als Voraussetzungskategorie für Poiesis, Aisthetis und Katharsis verzichten können, da ihr die intrinsische Begründung fehlt.

      Jauß entwickelt zunächst den Begriff der Poiesis aus der aristotelischenAristoteles Poetik. Ihm geht es dabei um eine möglichst exakte, textphilologische Erklärung. Poiesis definiert er als die „produktive ästhetische Grunderfahrung“15 und beschreibt damit jenen Prozess, in dem die Rezipierenden zu Mitschöpfern des Kunstwerks werden.16 Poiesis ist also ein Verhalten des rezipierenden Subjekts. Besonders nach der Jahrhundertwende 1900 erkennt Jauß einen Bedeutungswandel von Poiesis im Kontext der literarischen Avantgarde. Nun würde die ästhetische Rezeption aus einer durch Kontemplation gekennzeichneten Passivität befreit, indem die Rezipierenden Teil der Konstitution eines Kunstwerks würden. Allerdings mangelt dieser Perspektive, dass die Beteiligung der Leserschaft an der Konstituierung eines Kunstwerks nicht erst ein Kennzeichen der ModerneModerne ist, und dass ferner die Geschichte der ästhetischen Erfahrungästhetische Erfahrung nicht nur durch eine passive und kontemplative Rezeption markiert ist. Denn diese Neuskalierung von RezeptionRezeption beginnt historisch gesehen schon überall dort, wo die Abweichungen zum Normativen gesucht und gefunden werden.

      Den Begriff der Aisthesis übernimmt Jauß ebenfalls aus der aristotelischen Poetik. Seine textphilologischen Erklärungen bleiben freilich hinter dem zurück, was als gräzistisches Basiswissen bezeichnet werden kann. Und auch wenn Jauß selbst die historisch-theoretischen Ansätze zu seiner Rezeptionstheorie in der aristotelischen Poetik sieht, so wurde doch nachgewiesen, welche bedeutende Rolle besonders KantsKant, Immanuel Kritik der UrteilskraftKritik der Urteilskraft (1790) in der Geschichte der theoretischen Reflexion spielt.17 JaußJauß, Hans Robert fasst im Begriff der AisthesisAisthesis als dem zweiten Zustand des ästhetischen Genießens ein Sehen, das Erkenntnis ist, und ein Wiedererkennen (eine Wiedererkenntnis), das Sehen seiner selbst ist. Aisthesis ist, so Jauß weiter, die „rezeptive ästhetische Grunderfahrung“18.

      Auch die KatharsisKatharsis ist ein aristotelischerAristoteles Begriff aus der Poetik. Katharsis sei, so führt Jauß aus, die „kommunikative ästhetische Grunderfahrung“19. Das wird aber dort relativiert, wo er auch der Aisthesis eine kommunikative Leistung zuspricht.20 Und die Frage bleibt unbeantwortetPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles), ob denn die Mitteilung über eine andere Welt oder die Übernahme einer Handlungsnorm in der PoiesisPoiesis auch schon Kommunikation sei.21 Das Andere der Kommunikation bleibt jedenfalls stumm, es spricht stets der oder die Rezipierende, bestenfalls mit sich selbst. Auch die Engführung der Poiesis mit einer grundsätzlich kontemplativen Einstellung ist letztlich zu einseitig, da sich ästhetische Erfahrung nicht in reiner Kontemplation erschöpft.

      Die kommunikative Funktion, kommunikative Grunderfahrung oder kommunikative Leistung der ästhetischen Erfahrungästhetische Erfahrung – Jauß variiert diese Begriffsfolge – wird mit einer dreifachen Präzisierung beschrieben. Zum Ersten müsse die kommunikative FunktionFunktion ästhetischer Erfahrung das enthalten, was AristotelesAristoteles als kathartische Lust beschrieben habe; zum Zweiten sei die augustinische Kritik am Selbstgenuss zu berücksichtigen; und zum Dritten müsse die affektive Bedeutung für den rhetorischen Imperativ der Überzeugung durch Rede, wie sie von GorgiasGorgias her bekannt sei, erkennbar sein. Das hindert JaußJauß, Hans Robert allerdings nicht daran, sein Verständnis von Katharsis zwischen einem „distanzlosen Objektgenuß“ und einem „sentimentalen Selbstgenuß“ mit der Gefahr, dass die RezeptionRezeption ihrer kommunikativen Funktion verlustig geht, aufzuspannen.22 Man kann die RezeptionstheorieRezeptionstheorie in dieser, von Jauß selbst so bezeichneten These, zusammenfassen:

      „Ästhetisch genießendes Verhalten, das zugleich Freisetzung von und Freisetzung für etwas ist, kann sich in drei Funktionen vollziehen: für das produzierende Bewußstein im Hervorbringen von Welt als


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