Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


Скачать книгу
wie der inneren Wirklichkeit zu erneuern (Aisthesis), und schließlich – damit öffnet sich die subjektive auf intersubjektive Erfahrung – in der Beipflichtung zu einem vom Werk geforderten Urteil oder in der Identifikation mit vorgezeichneten und weiterzubestimmenden Normen des Handelns“23.

      PoiesisPoiesis, AisthesisAisthesis und KatharsisKatharsis sind bei JaußJauß, Hans Robert drei Grundkategorien von ästhetischer Erfahrungästhetische Erfahrung, die in ihrem Zusammenwirken nicht hierarchisch, sondern funktional gedacht werden müssen. In der weiteren, hermeneutischenHermeneutik Reflexion auf diese Basisbestimmung entfaltet Jauß den zentralen rezeptionsästhetischen Bezugspunkt. Das Kunstwerk offenbare in der fortschreitenden Aisthesis und damit in seiner AuslegungAuslegung eine solche Bedeutungsfülle, dass der historische Horizont seiner ProduktionProduktion deutlich überstiegen werde. Jauß beschreibt die von ihm vertretene Rezeptionstheorie mit dem Hinweis, sie könne die Rekonstruktion des zeitgenössischen Erwartungshorizonts unter den Bedingungen der Produktion eines Kunstwerks historisch einholen und rekonstruieren, wodurch der (historische) Text und die Gegenwart der Rezipierenden in ein dialogisches Verhältnis träten, um in der hermeneutischen Praxis nicht nur jenen Sinn zu finden, der als Verstehen in den TextenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) nicht nur die Darlegung eines impliziten Sinns sucht, sondern wonach VerstehenVerstehen bedeute, einen bislang unbewussten SinnSinn bewusst machen zu helfen. Und mehr noch, Jauß sieht den Vorzug der Rezeptionsästhetik darin, dass sie das Verstehen von Sinn auch dort begründen könne, wo der oder die Rezipierende „sich des Sinnes, der sich im Vollzug einer Handlung zeigt, selbst gar nicht bewußt ist“24. Wirkung wird als das durch den TextText bedingte und RezeptionRezeption als das durch den Adressaten „bedingte Element der Konkretisation von Sinn“25 verstanden. Die literarische Kommunikation eröffne einen Dialog zwischen Kunstwerk und Rezipierenden, der die Wahrheit oder Falschheit einer DeutungDeutung darin zeige, ob sie in der Lage sei, „den unausschöpfbaren Sinn des Kunstwerks weiter zu entfalten“26. Das erklärt allerdings nicht, wer darüber entscheidet, was SinnSinn ist. Das Kunstwerk enthält demnach etwas, was es von Beginn an enthält und das lediglich in der RezeptionRezeption sichtbar gemacht wird. Das wiederum bedeutet, der Sinnfülle des Kunstwerks einen ontologischen Status zuzusprechen, den dieses unabhängig von seiner Rezeption enthält. Genau hieran sind Zweifel angebracht. Und das Problem dieses Vorverständnisses von Sinn wird auch in der RezeptionstheorieRezeptionstheorie nicht gelöst. Zu Recht wurde in der Kritik betont, dass JaußJauß, Hans Robert mit der Installation eines Erwartungshorizonts in seiner Rezeptionsästhetik27 die Vorstellung einer „Art objektivierbare[n] Bezugssystem[s]“28 verknüpft habe. Harald Weinrich hat in einer Rezension mit Blick auf Jauß’ Buch einst davon gesprochen, dass es zwei grundverschiedene Verstehensmuster in der deutschen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft gebe, eine evangelische Literaturwissenschaft und eine katholische Literaturwissenschaft, die evangelische werde in Göttingen mit aller Strenge der Buchstabengläubigkeit betrieben, und die deutungsfreudige, katholische sei die der Konstanzer Papisten.29 Dass dies schon seinerzeit eine Zuspitzung war, versteht sich von selbst. Und aus der historischen Distanz betrachtet wird deutlich, dass dies im Kern weder richtig war noch richtig ist. Denn sowohl Textualisten wie Kon-Textualisten ringen je um eine überzeugende Deutung von TextenText. Mit welcher Verve, ist eine Frage der beteiligten Emotionen und weniger der Argumente.

      Das Denkmodell der Rezeptionstheorie nach Jauß suggeriert auf den ersten Blick eine begriffliche Nähe zu dem hier vorgestellten POIKAIPOIKAI-Modell. Allerdings liegt der wesentliche Differenzpunkt darin, dass PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis (Poi-K-AiPoiKAi) in einer KulturgeschichteKulturgeschichte der Literatur als die kulturellen Bedingungen der Geschichtlichkeit von Literatur begriffenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) werden, und sich die Bedingungen kultureller Entstehung (mit den Leitbegriffen von PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis) im Modell POIKAIPOIKAI widerspiegeln (s. Grafik)30. Damit übernehmen sie die Funktion von Dispositiven. In dem berühmten Gespräch Ein Spiel um die PsychoanalyseEin Spiel um die Psychoanalyse von 1977 definiert FoucaultFoucault, Michel das Dispositiv folgendermaßen:

      „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.

      Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch als sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität verschaffen. Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.

      Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion. Das hat zum Beispiel die Resorption einer freigesetzten Volksmasse sein können, die einer Gesellschaft mit einer Ökonomie wesentlich merkantilistischen Typs lästig erscheinen mußte: es hat da einen strategischen Imperativ gegeben, der die Matrix für ein Dispositiv abgab, das sich nach und nach zum Dispositiv der Unterwerfung/Kontrolle des Wahnsinns, dann der Geisteskrankheit, schließlich der Neurose entwickelt hat“31.

      Modell POIKAI

      DarüberPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) hinaus geht es im Modell POIKAIPOIKAI nicht um eine textphilologische Genauigkeit (wie bei JaußJauß, Hans Robert), sondern um die TransformationTransformation dieser Leitbegriffe mit einem theoriestimulierenden Mehrwert. Die Poetik des AristotelesAristoteles kann als ein PermatextPermatext der abendländischen KulturgeschichteKulturgeschichte bezeichnet werden. Einen Permatext zeichnet aus, dass er dauerhaft überliefert wurde und somit auch dauerhaft gegenwärtig bleibt im kulturellen Gedächtnis durch Abschriften, Drucke oder Kommentierungen. Im Fall der Poetik trifft dies insofern zu, als der Text immer wieder gelesen wurde und er Gegenstand unterschiedlicher philologischer und interpretativer Debatten geblieben ist, sofern man vom Verlust des zweiten Teils über die Komödie absieht. Vergleichbare andere Permatexte sind beispielsweise die Bibel, Dramen des SophoklesSophokles, römische Tragödien. Die aristotelische Poetik ist das Grundlagenbuch der abendländischen Poetik- und Dichtungsgeschichte. Sie enthält ein Skandalon, über das bis heute sehr divergierende Auslegungsansichten bestehen, die sogenannte Katharsis-Stelle in der Tragödiendefinition. Dass die Rede von der KatharsisKatharsis die Folgen von Dichtung insgesamt und nicht mehr nur die affektive WirkungWirkung der Tragödie meine, ist die zweifellos richtige, spezifische Wahrnehmung eines Fachdiskurses.32 Der kulturgeschichtliche Blick auf die Poetik, der in diesem Buch im Vordergrund steht, prüft nicht, welche Textschichten sich in der Poetik freilegen lassen. Auch die für die altphilologische Forschung wichtigen Fragen einer ersten und zweiten Bearbeitung, die Frage des Verlustes einiger Textteile, der Umgruppierung ganzer Textsequenzen, die Probleme des Verständnisses der Poetik als einer exoterischen oder einer esoterischen Schrift, die Apographahypothese und ähnliches sind hier nicht entscheidend. Es geht daher auch nicht um die Frage einer vermeintlichen oder tatsächlichen richtigen Übersetzung. Ausgangspunkt einer kulturgeschichtlich-literaturwissenschaftlichenLiteraturwissenschaft Betrachtungsweise ist vielmehr die Tatsache, dass der Text der Poetik in einer bestimmten Gestalt, und dass besonders eine bestimmte Textstelle in je unterschiedlichen Auslegungen in über 2000 Jahren RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte gewirkt haben.

      DiePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) vielzitierte Katharsis-Stelle im sechsten Kapitel der Poetik hat folgenden Wortlaut: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine


Скачать книгу