Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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können auf manche Arten verstanden und mißverstanden werden. In den meisten Fällen ist der Verfasser einer Dichtung nicht die Instanz, welcher eine Entscheidung darüber zusteht, wo bei deren Lesern das Verständnis aufhöre und das Mißverständnis beginne. Schon mancher Autor hat Leser gefunden, denen sein Werk durchsichtiger war als ihm selbst. Außerdem können ja auch Mißverständnisse unter Umständen fruchtbar sein.“12

      An anderer Stelle im Roman selbst führt Hesse aus, dass MusikMusik und Dichtung von einer „Sprache ohne Worte“ träumten, „welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt“13. Was dem Autor Hesse längst bekannt war, hat der 2016 verstorbene italienische Semiotiker und Romancier Umberto EcoEco, Umberto systematisch ausgearbeitet. 1962 veröffentlichte er sein Buch Opera apertaOpera aperta, das unter dem Titel Das offene KunstwerkDas offene Kunstwerk in deutscher Übersetzung vorliegt. Darin entwickelt er eine „Poetik des ‚offenen‘ Kunstwerks“14, und es ist nun zu zeigen, worin der Unterschied zwischen einer Poetik des offenen Kunstwerks und einer POETIKPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, für die ich hier plädiere, besteht.Bedeutungsoffenheit15 Die in seinem Buch versammelten Aufsätze will Eco als Beiträge zur abendländischen KulturgeschichteKulturgeschichte verstanden wissen, die auch eine Geschichte der Poetiken beinhalte.16 EcoEco, Umberto denkt eine KulturgeschichteKulturgeschichte unter dem besonderen Gesichtspunkt der Poetiken, wobei Poetik als ein „Operativprogramm“17 verstanden wird. In seinem Eingangsessay Die Poetik des offenen Kunstwerks umreißt er am Beispiel der modernen MusikMusik von StockhausenStockhausen, Karlheinz, BerioBerio, Luciano, PousseurPousseur, Henri und BoulezBoulez, Pierre, was Offenheit bedeutet. EcoEco, Umberto reklamiert die Freiheit des Interpreten bei der Aufführung bestimmter, moderner Musikstücke als eine Offenheit, die dem Kunstwerk eignet. Ästhetikgeschichtlich gesehen hat hier eine Verschiebung hin zur ausschließlichen Dominanz der RezeptionRezeption in der ästhetischen Erfahrung stattgefunden, denn es geht nicht mehr um eine InterpretationInterpretation, also DeutungDeutung, eines Kunstwerks durch verschiedene Aufführungstechniken oder persönliche Überzeugungen und kontextuelle Bedingungen, sondern es geht bei Eco um die kreative Mitarbeit des Interpreten in der Aufführung. Die freie Willkürlichkeit in der Aufführung wird dadurch aber begrenzt, dass die Stücke selbst der Logik einer kombinatorischen Struktur folgen. Diese Kombinatorik, die in anderen Fällen in einer AleatorikAleatorik aufgeht, ist eine Art Grundregel dieser Offenheit. Diese offenen Kunstwerke werden erst durch den Interpreten „vollendet“18. Heutzutage sei diese Offenheit Teil des produktiven Programms eines Kunstwerks. Diese Passage in Ecos Buch bleibt historisch unscharf. Gesetzt den Fall, dass eine Interpretin ein Kunstwerk interpretiert, das nicht erklärtermaßen diese Grundregel der Kombinatorik und des produktiven Programms verfolgt, ist dieses Kunstwerk dann nicht offen? Mit Eco gegen Eco ließe sich sagen: „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt“19. Doch die Beispiele, die Eco wählt, sind alle der modernen Musik oder der LiteraturLiteratur der ModerneModerne entnommen. Obwohl Eco bereits zu Beginn seines Buchs die Kategorie der Offenheit „im Sinne einer fundamentalen Ambiguität der künstlerischen Botschaft“ als eine „Konstante jedes Werkes aus jeder Zeit“ begreift,20 verliert sich dieser Aspekt zunehmend.

      Wenn nun alles Zeichen ist und der Mensch als symbolischesSymbol Wesen begriffen wird, so wäre die Ausweitung der Semiotik zu einer KultursemiotikKultursemiotik nur schlüssig.21 Demgegenüber behauptet eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT die Unabhängigkeit der Offenheit von kontingenten historischen oder poetologischen Normen. Jedes Kunstwerk wird erst im Akt der Wahrnehmung, dem Zustand der ästhetischen Erfahrung, als Kunstwerk realisiert. Die mittelalterliche Theorie der AllegoreseAllegorese, wonach die InterpretationInterpretation biblischer Texte (und mutatis mutandis der Literatur und der bildenden Kunst) stets die DeutungDeutung im Hinblick auf den buchstäblichenbuchstäblich SinnSinn, den allegorischenallegorisch Sinn, den moralischen Sinn und den anagogischen Sinn verfolgt, unterliege einer begrenzten und streng definierten Offenheit. Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang jene Textstelle aus dem zwischen 1316 und 1320 entstandenen Schreiben an Cangrande della ScalaSchreiben an Cangrande della Scala des Dante AlighieriAlighieri, Dante (1265–1321), wo er im 20. Abschnitt über seine Divina commedia (1307/1321) darlegt:

      „Zur Verdeutlichung des zu Sagenden muß man deshalb wissen, daß dieses Werk nicht eine einfache Bedeutung hat, vielmehr kann es polysem genannt werden, das heißt mehrdeutig. Denn die erste Bedeutung ist jene, die es durch den Buchstaben hat, die andere ist jene, die es durch das vom Buchstaben Bezeichnete hat. Und die erste wird die buchstäbliche genannt, die zweite aber die allegorische oder moralische“22.

      Dante weist auf die etymologische Herkunft und Bedeutung des Wortes AllegorieAllegorie hin, das im Griechischen und Lateinischen Anderes oder Verschiedenes bedeute und verweist damit auf den Bedeutungshorizont der Anders-Rede.23 EcoEco, Umberto betont nun, die Rezipienten könnten lediglich zwischen jenen vier Textsinnebenen wählen. Damit würden sich die vier Lesemöglichkeiten eines mittelalterlichenMittelalter und frühneuzeitlichenFrühe Neuzeit, allegorischen, geschlossenen Kunstwerks von den zahlreichen möglichen Interpretationen eines modernen, offenen Kunstwerks unterscheiden. Historisch ist dies exakt argumentiert, aber wenn man jenseits einer historisierenden Deutung die grundsätzliche BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit eines Kunstwerks annimmt, verliert Ecos Aussage an Stichhaltigkeit.

      EcoEco, Umberto bringt nun den literarischen SymbolismusSymbolismus ins Spiel, der erstmals eine bewusste Form einer Poetik des offenen Kunstwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Als Beispiel wählt er das Gedicht Art PoétiqueArt Poétique (1882) von Paul VerlaineVerlaine, Paul (1844–1896). Stéphane MallarméMallarmé, Stéphane (1842–1898) ginge noch radikaler vor, seine Poetik lasse sich in einem Satz zusammenfassen: „Es muß vermieden werden, daß ein einziger SinnSinn sich aufdrängt“24, dies generiere eine Poetik des Andeutens. Ein Großteil der modernenModerne LiteraturLiteratur beruhe, so führt Eco weiter aus, auf dem Gebrauch des SymbolsSymbol und er nennt – neben James JoyceJoyce, James und dessen UlyssesUlysses-Roman – als Beispiel Franz KafkasKafka, Franz Werk. „Im Unterschied zu den allegorischen Konstruktionen des Mittelalters [sind] die mitschwingenden Bedeutungen hier nicht in eindeutiger Weise vorgegeben“25. Verwandlung, Verurteilung, Schloss und Prozess gehören bei Kafka als Generalsymbole dazu. An dieser Stelle greift Eco auf den Begriff der Ambiguität zurück und grenzt nun die Kategorie der Offenheit entscheidend ein. Er übernimmt den Begriff der perzeptiven Ambiguität aus Psychologie und Philosophie.26 Der Mangel dieses Begriffsgebrauchs liegt aber darin, dass er in der Regel die Doppeldeutbarkeit eines Textes meint, nicht aber die Bedeutungsoffenheit. Galt diese bislang dem Kunstwerk schlechthin, so wird sie nun zum Signum des ausschließlich modernen Kunstwerks, das die aktive Mitarbeit der Rezipierenden bedingt. Offenheit charakterisiert die Gegenstandsseite der rezeptiven Erfahrungsseite des deutenden Subjekts.

      Ecos Bemühen, das offene Kunstwerk weiter einzugrenzen und den Term Kunstwerk in Bewegung einzuführen kann hier vernachlässigt werden. Denn legt man seine strengen Definitionen von Permutation und Kombinatorik als Maßstab zugrunde, so trifft dieser Begriff des Kunstwerks in Bewegung nur auf einen sehr kleinen Kreis ausgewählter, experimenteller Literatur zu. An anderer Stelle habe ich diese Art von Literatur die aleatorische Literaturaleatorische Literatur genannt und an Beispielen nicht nur aus der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ausgeführt.27 Die populärsten Beispiele sind sicherlich Andreas OkopenkosOkopenko, Andreas Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden RomanLexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden Roman (1970) und die Hunderttausend Milliarden GedichteHunderttausend Milliarden Gedichte (1961) in Lamellenform als kombinatorisches Ergebnis der zugrunde liegenden zehn Sonette von Raymond QueneauQueneau, Raymond in der Übersetzung von Ludwig HarigHarig, Ludwig aus dem Jahr 1984.

      Die Poetik des Kunstwerks in Bewegung (und damit teils die Poetik des offenen Kunstwerks) schaffe völlig neue „praktische Probleme dadurch, daß sie kommunikative Situationen und eine neue Beziehung zwischen Betrachtung und Verwendung des Kunstwerks“28 generiere. Allerdings ist, das lässt sich kritisch einwenden, die Funktionalität und die Funktionalisierbarkeit eines Kunstwerks etwas völlig anderes als seine BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Außerdem kann dem entgegengehalten


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