Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
heißen wird, sind aber, um wiederum ein Wort HölderlinsHölderlin, Friedrich aus seinem Gedicht Die TitanenDie Titanen (1802/06) aufzunehmen, „Unendlicher Deutung voll“75. Allerdings eröffnet dieser Hölderlin seine Hymne MnemosyneMnemosyne (1802/06) auch mit den Worten: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“76. Diese anthroposemiotische Erweiterung, wonach wir Menschen selbst nicht deuten können – andererseits kann man sich aber mit NovalisNovalis auch die Frage stellen: „Ist nicht jeder Leser ein Philolog?“77 – konfrontiert uns mit einem logischen Problem. Selbst wenn wir deutungslose Zeichen sind, können wir dennoch gedeutet werden, da Zeichen extrinsisch immer deutbar sind, sonst wären sie als ein semiotisches Objekt nicht zu erkennen. Wir sind also Objekte der DeutungDeutung und zugleich sind wir auch als Deutende deren Subjekte. Objekt und Subjekt fallen in eins, das ist nicht nur ein logischer Widerspruch, sondern führt uns an die Grenzen des Vorstellbaren. In Analogie verhält es sich ebenso mit Texten. Wenn TexteText deutungslos wären, könnten sie von uns dennoch gedeutet werden. Anders als Menschen sind Texte aber niemals selbst Subjekte der Deutung, sondern immer nur deren Objekt.
SchlegelsSchlegel, Friedrich Aphorismen kann man durchaus als ein Plädoyer für die Deutungsvielfalt von Texten verstehen. Um also SinnSinn erfassen zu können, muss gelesen werden. Deshalb widmet sich Schlegel in den nachfolgenden Aphorismen dem LesenLesen als Rezeptionsakt. Lesen ist für ihn schlechthin eine philologische Haltung (vgl. Nr. 74), ein kontemplatives Lesen kennt er nicht. Im Gegenteil, Schlegel argumentiert in Nr. 82 und Nr. 83 wiederum anthropologisch, wenn er bemerkt, dass das Lesen nichts anderes bedeute, als den philologischen Trieb zu befriedigen und man nur aus Langeweile oder aus philologischem Interesse heraus lese. Für ihn ist klar, „ohne Philologie kann man wohl nicht lesen“78. Und dass Schlegel die Rezeptionsseite der LiteraturLiteratur durchaus im Blick hat, geht aus Aphorismus Nr. 155 hervor. Dort heißt es, es sei keine allgemeine Sache, zu bestimmen, wer das Publikum eines Textes gewesen sei. In Nr. 80 schreibt er: „Lesen heißt sich selbst philologisch affiziren, sich selbst philologisch beschränken, bestimmen.“79 In der PhilologiePhilologie dürfe man nicht nur textkritisch emendierend, sondern man müsse auch kursorisch lesen (vgl. Nr. 212).
In seinen Nachlassnotizen mit dem Titel Wir PhilologenWir Philologen (1875) geht Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich in wiederholten Anläufen mit dem Berufsstand der Philologen nicht nur hart und polemisch ins Gericht, sondern er vermag den „Geburtstag der Philologie“80 auch exakt anzugeben, es sei der 8. April 1777, an diesem Tag habe Friedrich August WolfWolf, Friedrich August das Kürzel studiosus philologiae (stud. phil.) erfunden.81 Dem Philologen – und das Fach PhilologiePhilologie meint bei ihm stets Altphilologie – bescheinigt NietzscheNietzsche, Friedrich zwar eine große Bescheidenheit, aber Konjekturalkritik und Emendationen sieht er, selbst Altphilologe, skeptisch. „Texte verbessern ist eine unterhaltende Arbeit für Gelehrte, es ist ein Rebusrathen; aber man sollte es für keine zu wichtige Sache ansehen“82. Zu dieser Art der Philologie, die dem Stufenschema von Textkritik, TextsinnTextsinn und Textdeutung folgt, gehört auch in Schlegels Verständnis vor allem die klassische Philologie oder Altphilologie. Sie richtet ihren Blick auf die Bedeutung der klassischen, antiken Texte, die stets zum Vergleich mit den modernen Texten herangezogen werden müssten (vgl. Nr. 53, 56 und Nr. 73). Diese Arbeit des Vergleichens hat SchillerSchiller, Friedrich einer harschen Kritik unterzogen. Unter Hinweis auf HerderHerder, Johann Gottfried schreibt er über das Geschäft der hämischen Vergleichung 1801 an GoetheGoethe, Johann Wolfgang, „dieses erbärmliche Hervorklauben der frühern und abgelebten Litteratur, um nur die Gegenwart zu ignorieren oder hämische Vergleichungen anzustellen!“83
Konzentriert sich die Kritik vor allem darauf, ob ein TextText historisch gesichert und textkritisch kommentiert ist, richtet die InterpretationInterpretation ihren Blick auf die Ebene des Textsinns.84 Dazu bedarf es der besonderen Fähigkeit der DivinationDivination. In Christoph Martin WielandsWieland, Christoph Martin Roman Geschichte des AgathonGeschichte des Agathon (2. Tl. 1767) ist im elften Buch das vierte Kapitel überschrieben mit den Worten: „Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte“. Und auch der Philosoph Johann Gebhard Ehrenreich MaaßMaaß, Johann Gebhard Ehrenreich gebraucht den philosophischen Begriff der Divinationsgabe in seinem Buch Versuch über die EinbildungskraftVersuch über die Einbildungskraft (1792). Als die divinatorische Methode bezeichnet wiederum SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst in seinem Buch Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue TestamentHermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament (1838) jenes Vorgehen, das, „indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht“85. Dem korrespondiert die komparative Methode, sie „setzt erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche, indem mit andern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird“86. Durch die DivinationDivination würden das Allgemeine und das Besondere miteinander durchdrungen.87 In der Dritten Rede. Über die Bildung zur Religion schreibt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst über die Wut des VerstehensVerstehen: „Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wut des Verstehens den SinnSinn gar nicht aufkommen lässt, und wie alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt desselben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerückt werde.“88 Und ähnlich heißt es wenig später: „So wurde freilich durch die Dichtung frühzeitig genug der Grund gelegt zu den Usurpationen der Metaphysik über die Religion: aber der Mensch blieb doch mehr sich selbst überlassen, und leichter fand ein gradsinniges, unverdorbenes Gemüt, das sich frei zu halten wusste von dem Joch des Verstehens und Disputierens, in späteren Jahren den Ausgang aus diesem Labyrinth.“89 Die Wut des Verstehens – NietzscheNietzsche, Friedrich wird in seiner MorgenrötheMorgenröthe (1881) von der „Wuth der Ausdeutung und Unterschiebung“90 und auch von der „Unsicherheit der Divination“91 sprechen – hebt sich deutlich von der Wertschätzung des NovalisNovalis ab. Für ihn ist der „Begriff von Philologie […] die geistige Reisekunst – die Divinationskunst“92, obwohl er die PhilologiePhilologie an anderer Stelle skeptisch auch eine „höchst fremde irdische Wissenschaft“Die Christenheit oder EuropaLuther, MartinBuchstaben93 nennt. Die Wut weicht einer Gelassenheit, und das Joch des Verstehens wird abgeschüttelt, wenn SchlegelSchlegel, Friedrich schließlich in seinem Roman LucindeLucinde (1799) fordert: „was man sagen will, darf man auch schreiben können“94. Das gleicht einem wohl kalkulierten Tabubruch.
Das „ἄλλον ὁρῶμεν λόγον“ (állon horōmen lógon, PhaidrosPhaidros 276 a 7) rät SokratesSokrates seinem Gesprächspartner PhaidrosPhaidros in dem gleichnamigen platonischenPlaton Dialog. Zu Deutsch wird dies mit den beiden Varianten wiedergegeben: „Kennen wir nicht eine andere Schrift“95 oder „nach einer anderen Rede sehen“96. Er setzt damit neben der einen noch eine andere Schrift oder neben der einen Bedeutung noch eine andere BedeutungBedeutung an, die von Zeichen generiert wird und die identifiziert werden kann. Letztlich geht es auch darum, das zu „lesen […], was nicht dort steht“97, wie es Gottfried KellerKeller, Gottfried im Brief an Paul HeyseHeyse, Paul vom 27. Juli 1881 umschrieben hat.
Die naheliegende Frage: „Wer spricht da?“98, die man mit BüchnersBüchner, Georg Leonce und LenaLeonce und Lena (1836) stellen kann, würde sogleich die Antwort BeckettsBeckett, SamuelFoucault, MichelTextus receptus99 heraufbeschwören: „Wen kümmerts, wer spricht?“ Damit wäre die Bedeutungslosigkeit dieser Fragestellung unterstrichen. FoucaultFoucault, Michel zitiert eingangs seines Vortrags Was ist ein Autor?Was ist ein Autor? (1969, veröffentlicht 1983) Samuel BeckettBeckett, Samuel, wenn er ihn mit diesen Worten eröffnet: „‚Was liegt daran wer spricht?‘“100, in einer anderen Übersetzung von Foucaults Text wird wiederum diese andere Übersetzung des Beckett-Zitats wiedergegeben: „Wen kümmert’s, wer spricht?“ Diese Frage schlug in den Geistes- und Kulturwissenschaften nachgerade die Karriere eines geflügelten Worts ein. Bei Beckett findet sich das Zitat in seiner Prosa Nouvelles et Textes pour rienNouvelles et Textes pour rien (1958; dt. Erzählungen und Texte um NichtsErzählungen und Texte um Nichts). Darin wird der dritte Text mit den Worten eröffnet: „Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht“101. Am Ende seines Vortrags zitiert Foucault nochmals dieselben Worte Becketts leicht variierend, so dass das Zitat seinen eigenen Text gleichsam einrahmt und leseappellativ zu verstehen ist. Ohne nun auf Foucaults