Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
Kritik Über Matthisons GedichteÜber Matthisons Gedichte (1794) von einem symbolischen Akt, der erforderlich sei, um die Analogie zwischen intrinsischem Eindruck und extrinsischem Ausdruck in einem Werk sichtbar machen zu können. Bei der Gegenüberstellung von MusikMusik und Malerei argumentiert Schiller, dass die künstlerischen Ausdrucksbewegungen in Komposition und Gemälde analog zur inneren Natur des Künstlers dessen innere Verfasstheit wiedergeben, „Notwendigkeit und Bestimmtheit [gehen] auch auf die äußern Bewegungen, wodurch sie ausgedrückt werden, über“180. Musik und Malerei, Schiller grenzt diese sehr stark auf die Landschaftsmalerei ein, seien Künste, welche die „Darstellung des Empfindungsvermögens, mithin Nachahmung der menschlichen Natur“181, zum Gegenstand hätten. Die Übertragung innerer Empfindungen auf die äußeren Ausdrucksbewegungen in der Analogie geschehe mit Hilfe eines „symbolischen Akts“182. Da auch die Dichtung den inneren Menschen „zu seinem Objekt macht“183, gilt dieses ästhetischeÄsthetik Verfahren für die Musik, die Malerei und die LiteraturLiteratur. Anders gesagt: Literatur braucht diesen symbolischen Aktsymbolischer Akt, um das sein zu können, was sie ist, Literatur. Schiller konzediert also der Literatur ihre symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung, da andernfalls die Rede vom symbolischen Akt gegenstandslos wäre, durch den die Literatur ihre symbolische Bedeutung ja erst erfährt. In seinem Essay Über den Gebrauch des Chors in der TragödieÜber den Gebrauch des Chors in der Tragödie (1803), welcher die Braut von MessinaBraut von Messina einleitet, schreibt Schiller kurz und bündig: „alles ist nur ein Symbol des Wirklichen“184.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt die höchst disparate Theorie der symbolischen Deutungsymbolische Deutung eine entscheidende Erweiterung. Durch FreudsFreud, Sigmund TraumdeutungTraumdeutung (1900), von der in den ersten sechs Jahren nach Erscheinen nur 351 Exemplare verkauft worden waren, wird der Begriff des SymbolsSymbol und die Technik seiner DeutungDeutung als ein psychoanalytisches Verfahren fest im Wissenschaftsdiskurs implementiert. So anregend Freuds Buch auch und gerade für die Literatur der Wiener und Berliner ModerneModerne gewesen ist, so klar muss gesagt werden, dass die psychoanalytische, symbolische Traumdeutung wenig mit einer POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT zu tun hat. Legt sich die Traumdeutung auf eine (in der Regel einzige) Deutbarkeit fest, so plädiert die POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT ja gerade für die Vieldeutbarkeit. Damit berührt sie einen Begriff, der in Linguistik, LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und Philosophie Gegenstand zahlreicher Debatten gewesen ist, den Begriff der Ambiguität.185 Als Terminus technicus ist Ambiguität historisch in der antiken RhetorikRhetorik verwurzelt. Die Grenzen der Bedeutungen von Zweideutigkeit und Mehrdeutigkeit sind im geschichtlichen Verlauf fließend, aus Sicht der Rhetorik sollte Ambiguität strikt vermieden werden oder allenfalls in der Gerichtsrede statthaben. Während AristotelesAristoteles – im Gegensatz zu PlatonPlaton, der in seinem Dialog PhaidrosPhaidros die AmbiguitätAmbiguität wie auch die Rhetorik schlechthin einer grundlegenden Kritik unterzieht, worin SokratesSokrates seinen Dialogpartner PhaidrosPhaidros bittet, eine rhetorische Zweideutigkeit im Sinn einer Doppelrede regelrecht zu inszenieren186 – und QuintilianQuintilian (besonders im 9. Kapitel des 7. Buchs seiner Institutio OratoriaInstitutio Oratoria) den Begriff der Amphibolie nahezu synonym mit Ambiguität gebrauchen, verwenden die meisten anderen Rhetoriker, Theologen und Philosophen wie CiceroCicero, Augustin, Erasmus von RotterdamRotterdam, Erasmus von, Blaise PascalPascal, Blaise oder Traugott KrugKrug, Traugott im 19. Jahrhundert den Begriff der Ambiguität. Auch hier liegt das Ziel der Textauslegung in der Überwindung der Zweideutigkeit durch die Suche nach dem wahren SinnSinn eines TextesText. Man kann dies zu Recht als die „philosophische Tradition der Ambiguitätsbändigung“187 bezeichnen. Eine Renaissance erfährt der Begriff im französischen Existenzialismus und schließlich in der Linguistik. Dass die AmbiguitätAmbiguität im Sinne von Mehrdeutigkeit als Merkmal modernerModerne LiteraturLiteratur und Kunst verstanden werden kann, ist unumstritten.188 Die daraus abgeleitete Lesart von Ambiguität als Mehrdeutigkeit eines TextesText wäre unter dem Aspekt einer POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT dadurch zu ergänzen, dass Ambiguität als Mehrdeutbarkeit eines Textes gilt. Mehrdeutigkeit findet in der Kommunikation zwischen Autor*in und Leser*in statt. Hier wäre aber zu präzisieren: die sich tatsächlich in der Kommunikation zwischen Text und Lesern*innen ereignet.AmbiguitätÄsthetik189 Aus dieser hermeneutischen Mehrdeutigkeit in der Interferenz zwischen Autor*in/Text und Leser*in leitete sich bekanntlich die Lehre vom vierfachen SchriftsinnSchriftsinn her.Schriftsinn190 Die HermeneutikHermeneutik der SpätantikeAntike und des MittelaltersMittelalter variierte zwar die Theorien des mehrfachen Schriftsinns und die Anzahl der Sinnebenen, die von dem dreifachen Schriftsinn beim Kirchenvater OrigenesOrigenes (185–254) ihren Ausgang nahm, es blieb aber ein Grundmuster erhalten, das sich in folgendem populären, ursprünglich auf AugustinusAugustinus zurückgehenden Distichon von Nikolaus von LyraNikolaus von Lyra (um 1270/75–1349) in seinem Kommentar zum GalaterbriefGalaterbrief in Form eines Chiasmus widerspiegelt191:
„Littera gesta docet,
quid credas allegoria,
moralis quid agas,
quo tendas anagogia.“192
„Der buchstäbliche Sinn lehrt das Tatsächliche,
der allegorische Sinn das, was du glauben sollst,
der moralische Sinn das, was du tun sollst,
der anagogische Sinn das, wonach du trachten sollst.“193
Die ursprüngliche Formulierung mit einem etwas abweichenden Wortlaut geht auf Augustinus de Dacia, der sie um 1260 zu Papier brachte, zurück.194 Der Kirchenvater CassianCassian (um 360 – um 435) präzisiert die Verstehensweise des vierfachen SchriftsinnsSchriftsinn bei der AuslegungAuslegung biblischer Texte.MittelalterSymbol195 Erstens nennt er die historische Auslegung, die gleichbedeutend ist mit dem wörtlichen, buchstäblichenbuchstäblich Sinn, zweitens den allegorischenAllegorie Sinn, der das jenseits der WirklichkeitWirklichkeit und ihrer Beschreibung im BuchstäblichenBuchstäblichkeit Liegende als ein anderes Geheimnis offenbart, drittens den anagogischen Sinn, der als ein heilsgeschichtlicher Sinn von den Geheimnissen geistlicher Mysterien „zu gewissen höhern und dunklern Geheimnissen des Himmels aufsteigt“196, und der tropologische Sinn, der die moralische Bedeutung des Textes erarbeitet. Die Verschiedenheit dieser vier Textsinnebenen wird in der Regel an einem klassischen Beispiel veranschaulicht, das CassianCassian ebenfalls in den Collationes PatrumCollationes Patrum (14, 8) anführt.197 Im buchstäblichenBuchstäblichkeit Sinn sei Jerusalem eine Stadt, im allegorischenAllegorie SinnSinn bedeute Jerusalem die Kirche Christi, im anagogischen Sinn bezeichne Jerusalem die himmlische Stadt Gottes und im tropologischen Sinn bedeute Jerusalem die Seele des Menschen. Cassian stützt sich bei dieser Auslegung auf den Ersten KorintherbriefErster Korintherbrief des PaulusPaulus, Kapitel 14: „Nun aber, liebe Brüder, wenn ich zu euch käme und redete in Zungen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht mit euch redete in Worten der Offenbarung oder der Erkenntnis oder der Prophetie oder der Lehre?“ (1. Kor 14, 6).198 AlanusAlanus (um 1120–1202) spricht sogar von der „locutio symbolica“199, der symbolischen Redesymbolische Rede.
Der Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris am 15. April 2019 hat die kollektive, mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des SymbolbegriffsSymbol in Erinnerung gebracht. Auf die Frage, was ihm Notre-Dame bedeute, antwortet Peter HandkeHandke, Peter: „Als Symbol ist es ein gewaltiger Verlust. Symbole sind vielleicht die Materie, die nicht wenige von uns noch zusammenhält. Wenn die Symbole zusammenbrechen, dann merkt man auch, was überhaupt zusammenbrechen kann“200. Übertragen auf einen literaturtheoretischLiteraturtheorie relevanten Symbolbegriff kann dies heißen:
„Symbolische Deutungsymbolische Deutung beruht nun auf Grundmaximen literarischer HermeneutikHermeneutik, daß nämlich alle Elemente eines Textes thematisch kohärent sind, daß sie alle Teile eines zugrundeliegenden, regulativen thematischen Prinzips sind, daß sie alle, auch das beiläufigste, bedeutungsvoll sein können und daß mit dem, was in und mit dem literarischen Text gesagt wird, stets auch etwas über die Welt des Menschen, die condition humaine gesagt wird“201.
Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich kritisiert die PhilologiePhilologie des Christentums in der einschlägigen Nummer 84 des ersten Buchs der MorgenrötheMorgenröthe mit heftigen Worten. Bei der christologischen Bibelinterpretation herrsche eine „Willkürlichkeit