Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Possenspiel“.202 Ein Philologe sei „ein Lehrer des langsamen Lesens […]. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes“203, mitten im Zeitalter von Hast und Eile sei das gute LesenLesen und das bedeutet für ihn das langsame Lesen unverzichtbar. Und wenn Nietzsche im Nachlass schreibt: „Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam […]“204, so lässt sich mit einem Zitat von Roland BarthesBarthes, Roland daran anknüpfen: „Ich schreibe, weil ich gelesen habe“205, und da ich schreibe, lese ich. Immerhin attestiert Nietzsche allen Philologen einen „Sinn für das Symbolische“206, wie er auf einem Nachlassblatt notiert. Schon NovalisNovalis hatte eine einfache Definition empfohlen: „Alles was von Büchern handelt ist philologisch“207. Demnach ist auch alles, was Texte interpretiert, philologisch, auch wenn in dem Wirtembergischen Briefe vom 10. März 1780 in SchillersSchiller, Friedrich Wirtembergischen Repertorium der LitteraturWirtembergisches Repertorium der Litteratur (1782) gewarnt wurde, die Philologie sei „keine Brodwissenschaft“208. Vielleicht sollten wir uns an den amerikanischen Philosophen Nelson GoodmanGoodman, Nelson (1906–1998) halten, er nennt den Begriff SymbolSymbol einen farblosen Ausdruck, der „nichts Gewundenes oder Geheimnisvolles“209 an sich habe. „Die vieldiskutierte Frage, ob ein Kunstwerk ein Symbol ist, scheint mir daher besonders fruchtlos zu sein. Ein Werk kann […] auf verschiedenartige Weise etwas anderes symbolisieren“210. Und die Tatsache, dass es beispielsweise das Bild eines Pegasus gibt oder es einen solchen repräsentiert, erlaubt nicht den Schluss, dass es etwas gibt, das ein Pegasus ist oder es einen solchen repräsentiert, ihn also auch wirklich gibt.211 Die Kontroversen in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft um die eine, richtige InterpretationInterpretation können nicht verbergen, dass sie stets Interpretationen eines einzigen Textes sind. Konfligierende Interpretationen eines Textes, so GoodmanGoodman, Nelson in dem Kapitel Die richtige Interpretation, beziehen sich auf denselben TextText, sie verleihen ihm SinnSinn. Aber ein „Werk zu verstehen, kann etwas anderes sein als zu verstehen, was der Autor mit ihm beabsichtigte“212. Goodman bringt es auf die pragmatische Formel: „Literarische Texte sind offen für eine Vielzahl von Interpretationen“213. Worauf er hinaus will, ist dies: Das Werk ist nicht seine Interpretation.

      Erste Fuge – Das Problem der Interpretation, genauer das Problem der Angemessenheit differenter Deutungen eines Textes tritt besonders augenfällig bei der DeutungDeutung religiöser und nicht-religiöser Texte hervor. Sechs Thesen, die das Reflexionsfeld abstecken, lassen sich dazu generieren.

      These eins: Eine falsche Analogie ist es, wenn man Theologie und LiteraturLiteratur auf dieselbe Ebene stellt und antinomisch oder komplementär versteht. Eigentlich müsste es heißen: Religion und Literatur oder Theologie und Literaturwissenschaft, aber nicht Religion und Literaturwissenschaft oder Theologie und Literatur. Das bedeutet, die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Texten begegnet der wissenschaftlichen Beschäftigung mit paganen, eben nicht religiösen Texten. Und diese Fragestellung sucht vordringlich nicht nach der Bibelrezeption in der LiteraturLiteratur, nach dem Gottesbild in der Dichtung oder der Rezeption des Christentums bei einzelnen Autoren. Berechtigt sind diese Fragen natürlich allemal und in ihren Ergebnissen auch durchaus interessant. Aber unsere erste Frage lautet: Was geschieht, wenn ich mit den Mitteln der theologischen Textdeutung einen nicht-religiösen Text lese, und die zweite Frage heißt: Was geschieht, wenn ich mit den Mitteln der Literaturwissenschaft einen religiösen Text lese? Kann ich die Bibel wie einen Roman oder ein Gedicht oder einen dialogischen Text interpretieren? Es geht also nicht darum, dass die Theologie in Historie oder in LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft aufgelöst werde.214

      These zwei: Obwohl immer wieder behauptet, ist LiteraturLiteratur keine eigene, spezifische Erkenntnisweise, möglicherweise eignet ihr eine eigene Erkenntnisweise. Diejenigen, die jene Ansicht vertreten, sind die Beweise schuldig geblieben, und selbst die Philosophie hielt es für unnötig, sich mit dieser Fragestellung weiter zu befassen. Fiktionalität, wenn wir so Literatur verstehen, ist keine eigene Erkenntnisform, sondern eine Erfahrungsweise und zwar die Erfahrungsweise einer wirklichen Erfahrung insofern, als die Fiktion uns lehrt, es gibt ein Denken jenseits mathematisch-naturwissenschaftlicher Gegebenheiten. Und eine mögliche Erfahrungsweise insofern, als Fiktion Erfahrung zu beschreiben vermag, die noch nicht stattgefunden hat, aber möglich ist.

      These drei: Theologie und Literaturwissenschaft haben eines gemeinsam, beide Wissenschaften müssen Texte deuten. Das Deuten literarischer TexteText ist kein AusdeutenAusdeuten von historischen Fakten, kein Erbsenzählen biografischer Einzelheiten. Das mag zwar alles auch zur Textdeutung zählen, aber die Textdeutung einzig und allein darauf zu reduzieren hieße, Literatur als eine andere Form von Dokumenten zu verstehen. Wer heißt uns literarische Texte als historische Dokumente lesen? Wer heißt uns die Fiktionalität eines Textes ignorieren? Wer heißt uns dem Dichter den Willen zur freien Gestaltung abzusprechen? Wer heißt uns davon auszugehen, dass ein Text nur eine einzige Bedeutung habe?

      These vier: Die Literaturwissenschaft arbeitet in der Regel wie die Theologie mit der Lehre von einem zweifachen TextsinnTextsinn. In dieser Hinsicht ist das Selbstverständnis beider Wissenschaften der HermeneutikHermeneutik verpflichtet, die alle antihermeneutischen Rempeleien und Affekte unbeschadet überstanden hat. Wie anders wäre sonst zu erklären, dass immer noch über Texte, biblische wie literarische, geredet wird? Die Lehre vom mehrfachen SchriftsinnSchriftsinn geht davon aus, dass jedem Text (profaner oder religiöser Natur) ein buchstäblicherbuchstäblicher Sinn Sinn (Sensus litteralis) und ein übertragener SinnSinn (Sensus spiritualis) eingeschrieben ist. Je nach philologischer oder theologischer Schule können durchaus mehrere SchriftsinneSchriftsinn entwickelt werden. Für unseren Zusammenhang sind die beiden genannten wichtig. Folgen wir dem buchstäblichen SinnSinn eines Textes, so erschöpft er sich im Begreifen der Siginfikantenketten, also der Abfolge der Materialität der Zeichen. Der Sensus spiritualis hingegen intendiert eine symbolische Bedeutungsebenesymbolische Bedeutung des Textes, die sich eben nicht in der Materialität der Zeichen erledigt. Von dieser Grundunterscheidung lebt jegliche Textinterpretation, RilkeRilke, Rainer Maria hatte dies die symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung genannt.215 So kann beispielsweise die Prometheus-Figur in GoethesGoethe, Johann Wolfgang PrometheusPrometheus-Gedicht im buchstäblichen Textsinnbuchstäblicher Sinn als Göttersohn und damit als mythologische Figur verstanden werden. Im übertragenen TextsinnTextsinn kann Prometheus modellhaft als Künstler und Vertreter einer Genieästhetik begriffen werden. Die kräftige Bildsprache der LiteraturLiteratur, die Möglichkeit zur AllegorisierungAllegorisierung in einem literarischen oder einem religiösen Text, leistet ihr Übriges, mehr als nur eine einzige Eindeutigkeit des Textsinns zu behaupten. So lässt sich SchlegelsSchlegel, Friedrich Aphorismus verstehen, wonach die Frage, was ein Werk sei, unendlich ist216.

      These fünf: Man darf sich einer Frage des Philosophen Martin HeideggerHeidegger, Martin erinnern, die er anlässlich seiner Lektüre von HölderlinsHölderlin, Friedrich Gedicht AndenkenAndenken aufgeworfen hat: „Weshalb sollen die geschichtlichen Bedingungen historisch zugänglicher sein als das geschichtlich Bedingte?“217 Auch wenn man Heideggers Philosophie im weiteren Verlauf nicht mehr folgt, so bleibt in dieser fast schon rhetorisch zu nennenden Frage doch eine entscheidende Erkenntnis. Der Glaube an eine alleinige Wahrheit in der Geschichte entspricht dem Glauben an eine alleinige Wahrheit im Text. Die Theologie beansprucht im Wort Gottes diese Wahrheit, die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft weist diesen Anspruch im paganen Text zurück. Beide Wissenschaften begegnen sich dort wieder, wo es um die Rekonstruktion der Eindeutigkeit der Wahrheit oder des Wortes Gottes geht und in der Erkenntnis, dass diese Eindeutigkeit, sobald Menschen sie zu erkennen beginnen, stets mehrdeutbar wird. Das wiederum belegt die Geschichte, die eine Geschichte unterschiedlichster Deutungen bleibt. In der Bedeutung eines Textes steckt bereits dessen DeutungDeutung – und dies nicht nur sprachlich. Und wenn ein Text vielerlei Bedeutung beansprucht, dann kann er durchaus auch vielerlei Deutungen hervorbringen. Oder anders: Wenn ein TextText vielerlei Bedeutungen hervorbringt, dann kann er auch vielerlei Deutungen beanspruchen. Man muss den Text von seinem Autor entkoppeln, will man die Vielfalt der Deutungen erkennen. Einen Text nur mit der Brille seines Autors zu lesen, dieser biografische Zugang zur Textlektüre ist legitim und mag verlockend


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