Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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– als die man die Mikrologen verstehen kann – gutzuheißen, sondern mikrologische Lektüre heißt Tiefenlektüre. Und genaue LektüreLektüre heißt nicht, sich vom Murmeln des TextesText einlullen lassen. Die Mikrolektüre des Textes setzt sich fort in der Makrolektüre des Kontextes. Heinrich von KleistKleist, Heinrich von schreibt in seinem 1805/06 entstandenen und zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim RedenÜber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir […], mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht ein scharfdenkender Kopf zu sein […]. Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen“222. Das anagrammatische Lesen setzt sich in Dialog mit dem eigenen Anderen, es stellt sich dem Paradox der Unlesbarkeit des Lesbaren. Und lesbar ist alles, was der Fall ist. Das bedeutet, die wahrheitswillige Lesbarkeit von Welt aufzugeben. Paul CelanCelan, Paul nennt dies in seinem Gedicht UnlesbarkeitUnlesbarkeit die „UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt.“223 Unica ZürnZürn, Unica spricht in ihrem Gedicht Das Geheimnis findest Du in einer jungen StadtDas Geheimnis findest Du in einer jungen Stadt von der „Geheimsignatur? Jadestein? Du findest den SinnSinn.“224 Ist anagrammatisches Lesen demnach also eine Geheimsignatur, welche die Unlesbarkeit der Welt und ihre Doppelcodierung von eigentlicher und uneigentlicher Rede weihevoll zelebriert, die lesbar macht das Unlesbare, die Sinn erschließt, wo Sinn erwartet wird? Über den Sinn oder genauer über den „Unsinn, Text auf ein Sinnkonstrukt zu reduzieren“225, also über den Unsinn, über den Sinn zu reden, wäre zu reden. „Der Sinn, das ist das Unmögliche für das mögliche Denken“, meint René MagritteMagritte, René, und weiter: „Auf die Frage: ‚Was ist der ‚Sinn‘ dieser Bilder?‘ antworten zu können, hieße so viel wie den Sinn, das Unmögliche, auf ein mögliches Denken zurückzuführen. Auf diese Frage antworten zu wollen, hieße, anzuerkennen, daß sie einen gültigen ‚Sinn‘ hat“.226 In diesem Zusammenhang sei auch an das Wort des NovalisNovalis erinnert: „Der SinnSinn der Welt ist verlohren gegangen. Wir sind beym BuchstabenBuchstaben stehn geblieben“227. Auf Sinn zu verzichten rührt an die Grundfesten jenes Textverständnisses, worauf wir konditioniert sind, durch kulturellen Gebrauch, durch schulische Bildung und durch Hochschulausbildung. Aber Philologen sind keine Apportierhunde, die nur das aus dem Text heraustragen und dem Leser zu Füßen legen zum geflissentlichen Gebrauch, was dieser zuvor mit seiner Deutungsbüchse erlegt hat. Um wiederum ein Paradox zu bemühen, denn all unser linguistisches, literaturwissenschaftliches, sprachphilosophisches, ja empirisches Wissen spricht dagegen: In der literaturwissenschaftlichen Praxis ist Sinn die Abwesenheit von BedeutungBedeutung. So stellt sich die Frage (in schillerscherSchiller, Friedrich Abwandlung): Was ist und zu welchem Ende betreibt man anagrammatischesAnagrammatik Lesen? Das anagrammatische LesenLesen macht die Verschiebungen und Verwerfungen deutlich, die der Text in unserem Diskurs über den TextText aufdeckt. Es verzichtet darauf zu fragen, was der Autor gemeint habe, es zerbricht die Vorherrschaft der Autorintention und hört stattdessen darauf, was der Text in uns zum Sprechen bringt. Die Frage nach der Autorintention ist ohnehin eine Erblast des hermeneutischen Sündenfalls, sie unterschlägt, dass Intentionalität literarisch als Rollenspiel inszeniert wird, denn in der Literatur ist nichts Zufall, außer der Zufall selbst.

      Seiner rhetorischen Bedeutung nach erfüllt das klassische AnagrammAnagramm, das so alt ist wie die Schriftkultur selbst, die Funktion des delectare, der Unterhaltung, ebenso wie des Änigmatischen, des Rätselhaften, des Verweisens auf Horizonte, die nie begangen, die nie verstanden werden können, deren Vorhandensein aber der Anagrammatiker annimmt. Der Begriff des Anagramms sichert somit auch die Bedeutung der ästhetischen Lust für das LesenLesen. Roland BarthesBarthes, Roland spricht von Textlust und Textbegehren, an diese Denktradition gilt es wieder anzuknüpfen. „Lesen heißt, das Werk begehren“228, schreibt er in Kritik und WahrheitKritik und Wahrheit. Anagrammatisch lesen bedeutet, diesem BegehrenBegehren eine Sprache verleihen. Die Frage heißt nun nicht mehr: was sagt uns der TextText, sondern sie lautet: was sagen wir zu einem Text? Was lässt der Text in uns sprechen? Welche historischen Voraussetzungen und Verschränkungen nehmen wir wahr, welche Bezüge vermögen wir herzustellen? Welche Digressionen werden sichtbar? FoucaultFoucault, Michel spricht davon, dass es darum gehe zu erkennen, „was im Text als Loch, als Abwesenheit, als Lücke markiert ist“.229

      Sinnlos ist nicht sinnfrei und sinnlos ist nicht sprachlos. Sinnfrei ist demnach nicht nicht-sprachlich. Ersetzen wir sinnfrei durch un-sinnig. Un-Sinn ist durchaus sprachlich. In der herkömmlichen Ordnung des Textes und seiner Auslegungen wird diese Sinnfreiheit als Un-Sinn begriffen. Die Sprache ist nicht an die Leibeigenschaft des Sinns gekettet. Der SinnSinn ist der Effekt, den Sprache in der Ordnung des Textes freisetzt und zugleich zeitigt. Es gibt aber einen Sinn diesseits der Sprache, der genauso wenig zu begreifen nötig ist wie die physische Präsenz eines Sprechers oder Schreibers oder die Annahme einer Autorinstanz. DescartesDescartes, René können wir lesen, ohne dass Descartes anwesend ist. Vielleicht meint das Roland BarthesBarthes, Roland, der im Text „eine menschliche Form“ sieht, „er ist eine Figur, ein AnagrammAnagramm des Körpers“.230 Wir haben lediglich im Laufe der Zeit gelernt, geschickt, gekonnt, vertraut mit diesen Annahmen umzugehen, sie als unverzichtbare Voraussetzungen von Textverstehen dauerhaft zu inthronisieren. Das anagrammatische Lesen überführt die Logizität der Zeichen in die Zeichenhaftigkeit der Un-Logik. Anagrammatisches Lesen verzichtet auf die Sinnannahme. Das andere Signifikat, welches das Signifikat des Anderen ist, das nicht im Text sich verborgen hält, wie SaussureSaussure, Ferdinand de, de ManMan, Paul de, DerridaDerrida, Jacques und auch BaudrillardBaudrillard, Jean annehmen, konstituiert sich erst im anagrammatischen Lesen. Und anagrammatisches Lesen lässt sich nur in der Abweichung vom vorgegebenen Signifikanten, im Willen zum Signifikat des Anderen ins Werk setzen. Dies ist das ThaumaThauma des Textes, nach jenem griechischen Wort, das Verwunderung und Erstaunen bedeutet. Ein TextText – und nicht nur ein lyrischer – versetzt uns in Erstaunen, da er uns zu zwingen vermag, mit ihm zu kommunizieren, obgleich wir wissen, dass wir nur mit uns selber sprechen. Das Zwiegespräch mit dem TextText ist ein Dialog mit uns selbst als einem fiktiven Anderen.

      Ein anderer Theorieansatz bringt das anagrammatische Lesen in Bewegung. Die Art von historischer Diskursanalyse, wie sie FoucaultFoucault, Michel in den beiden Vorträgen Was ist ein Autor?Was ist ein Autor? (1969) und Die Ordnung des DiskursesDie Ordnung des Diskurses (1970) skizziert, „enthüllt nicht die Universalität eines Sinnes, sondern sie bringt das Spiel der […] aufgezwungenen Knappheit an den Tag“231, worunter Foucault die Reduktion auf einen SinnSinn oder auf wenige verbindliche Sinnauslegungen versteht. Er spricht in diesem Zusammenhang kritisch von der Monarchie des Signifikanten, der man sich verweigern müsse. Dieser Aufruf zum hermeneutischen Jakobinismus, der Zweifel am Absolutismus der Textdeutung hegt, hat bis heute nichts von seinem Charme verloren. Dieser Zweifel ist Voraussetzung für Textarbeit. Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich beispielsweise ist ein solcher Zweifler, unendlich und unabschließbar seien die DeutungenDeutung, Unendlichkeit also das Geschäft des PhilologenPhilologie, die Frage nach der intentio operis sei, im Gegensatz zur Frage nach dem Autorwillen, unerschöpflich.232 Gilt also das Interesse der Philologie dem Werk, so ist ihr Geschäft unabschließbar. Man kann dies zuspitzen, der Autor als Subjekt muss den Philologen nicht interessieren. Diese Arbeit überlassen wir den Biografisten. Das scheint BarthesBarthes, Roland gemeint zu haben, als er schrieb: „ganz verloren mitten im Text (nicht hinter ihm wie ein Deus ex machina) ist immer der andere, der Autor“, und ergänzend oder vielmehr metaphorisch überspitzt er: „Als Institution ist der Autor tot: als juristische, leidenschaftliche, biographische Person ist er verschwunden“.233 Und schon gar nicht darf dem Werk ein Subjektstatus verliehen werden, da dies eben jenen Abweichungscharakter von Texten auslöscht. Viel eher muss die Fragestellung umgekehrt werden: Weshalb interessieren wir uns so stark für eine, weshalb verbeißen wir uns regelrecht in eine Textsinnsuche, weshalb bedürfen wir eines Subjekt gewordenen Textes? Der Verdacht drängt sich auf, dass dieser Subjektsuche die Projektion eines Wahrheitswillens zugrunde liegt. Erschöpft sich die Bedeutung des Textes also nur in einer philologischen Erlösungsfantasie? FoucaultFoucault, Michel spricht in der Ordnung des DiskursesOrdnung des Diskurses vom „großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses“, er nennt es auch „das große Wuchern“.234 Was aber ist das Andere des Diskurses, welches das Rauschen bricht, es überhaupt


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