Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
Johann Wolfgang rehabilitierte Hans Sachs und dessen Knittelverse 1776 in seinem Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische SendungErklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung. In Richard WagnersWagner, Richard MeistersingerMeistersinger (1868) schließlich erfährt der Dichter Hans Sachs seine romantischeRomantik Idealisierung. Der neben LessingLessing, Gotthold Ephraim wichtigste Fabeldichter der Aufklärung Christian Fürchtegott GellertGellert, Christian Fürchtegott setzt der Nachtigall, die mit ihrem mythologischen Namen Philomele angesprochen wird, in seinem Gedicht Die Nachtigall und die LercheDie Nachtigall und die Lerche (1746) ein poetisches Denkmal:
„Die Nachtigall sang einst mit vieler Kunst;
Ihr Lied erwarb der ganzen Gegend Gunst,
Die Blätter in den Gipfeln schwiegen,
Und fühlten ein geheim Vergnügen.
Der Vögel Chor vergaß die Ruh,
Und hörte Philomelen zu.
[…]
O Dichter, denkt an Philomelen,
Singt nicht, so lang ihr singen wollt.
Natur und Geist, die euch beseelen,
Sind euch nur wenig Jahre hold.
Soll euer Witz die Welt entzücken:
So singt, so lang ihr feurig seid,
Und öffnet euch mit Meisterstücken
Den Eingang in die Ewigkeit.
Singt geistreich der Natur zu Ehren,
Und scheint euch die nicht mehr geneigt:
So eilt, um rühmlich aufzuhören,
Eh ihr zu spät mit Schande schweigt.
Wer, sprecht ihr, will den Dichter zwingen?
Er bindet sich an keine Zeit.
So fahrt denn fort, noch alt zu singen,
Und singt euch um die Ewigkeit.“256
Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird das Stadtleben der Nachtigallen eingehend nur noch ornithologisch erforscht.257
KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR
Voraussetzungen
Mit einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur wird die Diskussion im Fach über die Möglichkeiten einer kulturgeschichtlichen Germanistik weiter fundiert. Ausgehend von einem ursprünglich sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Paradigma, wie es in der Germanistik von den 1970er-Jahren bis über die Jahrtausendwende hinaus methodologisch diskutiert1 und dessen Ende immer wieder konstatiert wurde, nehme ich in dieser Kulturgeschichte der Literatur eine Erweiterung und Neufundierung der theoretischen Rahmenbedingungen sowie eine inhaltliche Ausweitung vor. Die Kulturgeschichte der Literatur ist das Ergebnis des Selbstverständnisses von LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als einer Kulturwissenschaft (cultural turn). Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur leistet für das Fach Neuere deutsche LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft einen entscheidenden Beitrag zu diesem Paradigma.
Die vorliegende KULTURGESCHICHTE DER LITERATURKULTURGESCHICHTE DER LITERATUR hat mit den im Fach bekannten wissenschaftshistorischen Formen einer Kulturgeschichtsschreibung nichts gemein. Die Kulturgeschichten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts bis nach 1945 sind Beispiele dafür, wie Kulturgeschichte heute nicht mehr zu schreiben ist. Ich habe mich in diesem Werk für die Neukonzeption einer Kulturgeschichte an den Leitbegriffen von PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis von LiteraturLiteratur entschieden, da jeder Text den Bedingungen und Möglichkeiten seiner Herstellungsmodi, seiner Wirkungsmodi und seiner Wahrnehmungsmodi unterliegt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der historischen Entwicklung der deutschsprachigen Literatur mit Blick auf ihre kulturgeschichtliche Bedeutung und Funktion. Einblicke in die antikeAntike griechische Literatur und in die französische und die lateinamerikanische Literatur dienen der Bestätigung des wissenschaftlichen Befunds. Der Locus classicus bei der Frage nach der Übertragung der griechischen, hermeneutischen Homerphilologie auf die frühchristliche HermeneutikHermeneutik findet sich im Brief des Apostels PaulusPaulus an die Galater, wo es heißt: „ἄτινά ἐστιν ἀλληγορούμενα“ „átiná estin allēgoroúmena“ [„das ist bildlich zu verstehen“] (Gal 4, 24).2 Die Frage nach der Bildlichkeit der Literatur, nach AllegorieAllegorie und SymbolSymbol und die vielen historischen Debatten um ihre richtige AuslegungAuslegung haben die LiteraturLiteratur im Dickicht der Theorien durch alle Zeiten begleitet. Wenn nach PlatonPlaton die Philosophie auf Staunen beruht – so kann man das sinngemäß ergänzen –, muss sich die PhilologiePhilologie auf Zweifel gründen. Zweifel an dem, was als verbürgte Sicherheit und Wirklichkeit gegeben ist und Zweifel an dem, was als deren richtige Auslegung in Anspruch genommen wird.
„Seyn Sie also auf Ihrer Hut, und gewöhnen Sie sich nur, immer selbst zu denken und selbst zu untersuchen“3. Das war 1790 in einer Schrift des Philologen, Verfassers von sprachhistorischen Arbeiten und Gründervaters der Nordistik Friedrich David GräterGräter, Friedrich David (1768–1830) zu lesen. Gräter beklagt eingangs das Dilemma zwischen einer „statarischen InterpretationInterpretation“ und einer „cursorischen Lectüre“4 und beschreibt damit ein grundsätzliches Dilemma der PhilologiePhilologie. Der Lust am Verweilen beim Einzelnen steht der Zwang zur LektüreLektüre des Allgemeinen, und der Lust an der Lektüre des Allgemeinen steht der Zwang zum Verweilen beim Einzelnen gegenüber. Das gleicht einer Dopplung des hermeneutischen ZirkelsHermeneutik, ein Entrinnen hieraus scheint es nicht zu geben. Letztlich läuft dies auf die Antinomie von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und DeutungDeutung hinaus, die sich stets am SymbolhaftenSymbol orientiert. Man muss es freilich nicht so handhaben, wie GoetheGoethe, Johann Wolfgang das Auslegen in seinen Zahmen Xenien IIZahme Xenien II (1821) etwas ironisch beschrieben hat:
„Im Auslegen seid frisch und munter!
Legt ihrs nicht aus, so legt was unter.“5
Was Goethe meint, ist fast schon ein running gag geworden. Doch dabei bleibt meist unbemerkt, dass ja bereits das Unterlegen ein AuslegenAuslegen bedeutet und letztlich die angenommene Binarität von Auslegen und Unterlegen als eine tautologische Figur ins Leere läuft. In der Lesart dieses Xenions heißt das, Unterlegen ist Auslegen, und wenn man nicht auslegt, so legt man aus. Auslegen ist also Auslegen. Und in der Tat, der am häufigsten erhobene Einwand, gar Vorwurf den Interpretationen von Texten gegenüber ist derjenige der Willkür. Bei aller hermeneutischen und auch antihermeneutischen Raffinesse ist es kaum je gelungen, die Gegner von Textinterpretationen durch Argumente entlang hermeneutischer Schritte davon zu überzeugen, dass es den Text an sich, den reinen Text oder wie auch immer dieses Phantasma genannt werden sollte, nicht geben kann.
Eine kulturwissenschaftliche Germanistik fragt nach Wissens- und Diskursformationen, die einen kulturellen Aussagewert haben, sie untersucht die Bedeutung von LiteraturLiteratur als Medium anthropologischer Selbstreflexion und sie analysiert kulturelle VerhaltensstandardsVerhaltensstandard und BewusstseinsformenBewusstseinsformen, sie fragt nach kulturellen Codierungen und Normen.
Beim Deuten eines Textes gelangt man stets, wie es SchillerSchiller, Friedrich in seinem letzten Brief an GoetheGoethe, Johann Wolfgang vom 29. April 1805 festgehalten hat, zu einem „heteros logos“, der einen „beim Lesen“ einfalle, also zu einem anderen Gedanken.6 Der textualistische Kulturbegriff begreift das Zeichengeflecht von KulturKultur als ein Textgewebe. Damit kann es textwissenschaftlich entsprechend gedeutet werden. Ist die Wirklichkeit also ein TextText, so kann er stets anders geschrieben und auch anders gelesen werden. Welche Probleme diese unterschiedslose Fiktionalisierung von Leben und Literatur aufwirft, ist besonders in der Literatur der klassischen ModerneModerne nachzuvollziehen, und schon Heinrich HeineHeine, Heinrich beschreibt in seinem Gedicht BelsatzarBelsatzar (1827) das Dilemma, dass selbst Magier vor einer Schriftdeutung kapitulieren müssen:
„[…] doch keiner verstand
Zu deuten die Schrift […]“7.
Letztlich