Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
was nicht deutbar, dennoch deuten,
Was nie geschrieben wurde, lesen“8.
Die allegorischeAllegorie Schriftauslegung hat eine lange abendländische Geschichte. Ihr Ursprung liegt in der Tradition der jüdisch-rabbinischen Schriftauslegung und in der griechischen, platonischen und alexandrinischen Philologenschule.9 Und der lateinische allegorische Interpretationsgebrauch kennzeichnet bis ins MittelalterMittelalter auch die Geschichte der Bildenden Kunst. Die Überschneidungen zwischen Kunstgeschichte und LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte in der KulturgeschichteKulturgeschichte sind an solchen historisch kontingenten Schnittpunkten augenfällig. Um es mit Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich zu sagen: „Auch in dem was reine Darstellung und Thatsache scheint, hat sich Allegorie eingeschlichen“10. Das DeutenDeuten von LiteraturLiteratur ist aber weniger gefährlich als die Literatur selbst. Denn wie sehr sie Leib und Leben bedrohen kann, zeigt folgendes Beispiel. Der Landgraf Ludwig VIII. von Hessen-DarmstadtLudwig VIII., Landgraf von Hessen-Darmstadt, gerade 78 Jahre alt, starb während einer Aufführung von George LillosLillo, George Bürgerlichem TrauerspielBürgerliches Trauerspiel The London MerchantThe London Merchant (1731) am 17. Oktober 1768 in Darmstadt. Sein plötzlicher Herztod wird auf die durch das Stück evozierte große affektive Anteilnahme des Aristokraten zurückgeführt. Die Konsequenz, die daraus gezogen wird, ist bemerkenswert, nämlich das Theater wird geschlossen; zu gefährlich ist ein Bürgerliches Trauerspiel für das höfische Publikum. In einem Brief wird darüber berichtet:
„Es rührte ihn sehr, wie natürlich und ihm gewöhnlich; er fand es schön, erwähnte gegen den Prinzen George die darin steckende Moralen und bemerkte die guten Stellen; er klatschte in die Hände, und plötzlich sank er tot, unter einem Bravo! in die Arme des Prinzen George. Die große Rührung machte also ohne Zweifel seinen sonst öfters gehabten Zufall so gefährlich und tödlich. Auf diesen Fall gerieth alles in die äußerste Bestürzung und Schrecken. Die jetzige Frau Landgräfin, welcher ein heftiges Weinen zu Hülfe kam, war die einzige, welche sich nicht des andern Morgens krank befand, ich meine von den fürstlichen Personen. Sie hat das Comödien-Haus zunageln lassen, wie es heisst, und will nie wieder Comödien in Darmstadt spielen lassen.“11
Und um noch einmal auf Friedrich SchillerSchiller, Friedrich zurückzukommen, er schreibt in seinem Essay Über das ErhabeneÜber das Erhabene von 1801: „Kultur soll den Menschen in Freyheit setzen“12, und Freiheit gehört zu den höchsten kulturellen Gütern der Menschheit.
Das Projekt einer Kulturgeschichte der Literatur
In den Jahren seit Erscheinen der Studien zur Kulturgeschichte der Literatur (2002)1 sind mehr Bücher zum Thema einer kulturwissenschaftlichen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft erschienen und werden in den Katalogen der Fachverlage weiter angekündigt, als ein einzelner in diesem Zeitraum überhaupt bewältigen kann, nicht zu reden von den zahlreichen unselbstständigen Publikationen. Deshalb will ich mich auf den entscheidenden Impuls des englischen Historikers Peter Burke konzentrieren, der die Frage stellt: „Was ist Kulturgeschichte? Auf diese Frage gibt es ebenso vielfältige Antworten wie auf die Frage: Was ist Kultur?“2 Peter BurkeBurke, Peter bezeichnet es für seine Forschungen erfrischend offenherzig als „zweckmäßig“, KulturgeschichteKulturgeschichte „nur über ihre eigene Geschichte [zu] definieren“.3 BurckhardtsBurckhardt, Jacob und HuizingasHuizinga, Johan Kulturverständnis nennt Burke, Roy Wagner zitierend, die „‚Opernhaus‘-Konzeption von Kultur“4. Kulturgeschichte insgesamt ist für ihn „eine Art kultureller Transfer: Sie übersetzt aus der Sprache der Vergangenheit in die der Gegenwart, aus den Begriffen der Zeitgenossen in die der Historiker und ihrer Leser. Ihr Ziel ist es, die ‚Andersartigkeit‘ der Vergangenheit sichtbar und zugleich verständlich zu machen“5. Bereits mit dieser Metapher sind wir mitten in den Dilemmata einer textualistischen KulturtheorieKulturtheorie. Wird bei Burke Kultur metaphorisch als gesprochene Sprache verstanden, wird dies bei anderen zum Kultur-als-Text-Theorem. Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der in Umlauf befindlichen Argumente für oder wider die eine oder die andere Position macht es schwer, einen Theoriefortschritt genau zu erkennen. Natürlich muss sich eine LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als Kulturwissenschaft diesem Problem stellen. Sie darf aber aus der operativen Begegnung mit diesem Wissenschaftsdiskurs nicht eine Problemfixierung machen, über die hinauszugelangen als unehrenhaft angesehen wird. Besonders ein Paradigma fällt in den Debatten immer wieder auf. Es ist der inzwischen als Kultur-als-Text-Theorem zirkulierende Versuch, einen semiotischen Kulturbegriff in der Diskussion über Themen, Perspektiven und Positionen der Kulturwissenschaft dauerhaft zu implementieren. Ich beschränke mich im Folgenden auf diesen Aspekt. Folgt man den Überlegungen der Kultursemiotiker, dann ist „der erste und einfachste Schritt zur Konstituierung des Kulturbegriffs“ – so heißt es in einem einschlägigen Lehrwerk – die „Anerkennung des zeichenhaften Charakters der Kulturphänomene“.6
Die derzeitige Debatte um KulturKultur in den Wissenschaften, womit man meist deren gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Mehrwert unausgesprochen meint, und Kulturwissenschaft bewegt sich zwischen Feuilletonismus und Heilsversprechen. Einführungsbände für Studierende werden geschrieben, obgleich sich der Begriff Kulturwissenschaft nahezu täglich weiter diffundiert.7 Ist eine KulturgeschichteKulturgeschichte der Kulturwissenschaft eine neue Megadisziplin, die das disziplinär vereint, was different nur schwer nebeneinander bestehen kann? Die Festlegung auf Texte als Träger kultureller Prozesse bedeutet die Rückkehr zu einem (hoch-)kulturellen Textverständnis, ist aber nicht Ausdruck eines textualistischen Kulturbegriffstextualistischer Kulturbegriff.8 Im unmerklichen Wechsel vom Plural Kulturwissenschaften zum Singular Kulturwissenschaft bestätigt sich das alte philologische Gebot der Lectio difficilior. Die schwierigere Lesart ist die ältere, nivellierende Tendenzen in Wahrnehmungsformen und Gestaltungsweisen zeigen sich zuerst im Prozess der sprachlichen Vereinfachung. Auch dies ist bereits ein kulturwissenschaftliches Phänomen.
Quo vadis Kulturwissenschaft? Rätselhaft scheint sie zu sein, diese Wissenschaft von der KulturKultur, rätselhaft und verborgen. Betrachtet man die Hilfsangebote der Nachbardisziplinen, der Philosophie, der Geschichte, der Semiotik, der Soziologie, so ist auch hier eine zunehmende Ausdifferenzierung der Diskurse festzustellen. Oswald Schwemmers explizit so genannte Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften (1987) lässt die Leser ratlos zurück, die sich über die Bandbreite der Kulturwissenschaften informieren, sich ein Bild von einer Theorie der Kulturwissenschaften machen wollen.9 Auch die Kulturwissenschaftliche Hermeneutik (1996) von Roswitha Heinze-Prause und Thomas Heinze trägt zur Klarstellung wenig bei.10 Dieser Ansatz, der auf den Arbeiten des Soziologen Oevermann beruht, verfolgt eine objektiv-strukturale HermeneutikHermeneutik des Textes – wobei als TextText auch sprachliche Interaktion allgemein begriffen wird –, die einen totalen, um nichts weniger autoritativen objektiven Verstehensanspruch jenseits subjektiver und individueller Deutungsvoraussetzungen für sich reklamiert. Applikationen auf die LiteraturLiteratur fehlen. Die Frage, was Kulturwissenschaft ist, bleibt bei der Beantwortung der Frage, was Kultur sei, meist auf der Strecke.
„Kulturwissenschaften sind also diejenigen Denkweisen, die auf redliche Weise begründete Behauptungen zu Kultur als dem grundsätzlich variablen Repertoire an Vorstellungen, Verhalten und Verhaltensprodukten machen, in der Hoffnung, sie mögen auch bei dauerhafter Prüfung plausibel sein, und mit der Bereitschaft, sie bei angekratzter Plausibilität und besserer Begründung zu revidieren“11.
Fraglich bleibt dabei, ob diese Definition wirklich als Arbeitsprogramm taugt. Die meisten Versuche, eine transparente und intersubjektiv überprüfbare Nomenklatur zu finden, scheitern daran, dass Kultur und Kulturwissenschaft deskriptiv, aber nicht normativ definiert werden. Unter dem Stichwort Methodologisches zu den Kulturwissenschaften plädiert Gotthart Wunberg für die Rückbesinnung auf Georg SimmelSimmel, Georg. Wie Simmel vor hundert Jahren die Soziologie als Synthesewissenschaft mitbegründet und ihren eklektischen Charakter zur Stärke der neuen Disziplin gemacht habe, so könne das „Projekt Kulturwissenschaften […] seiner Genese und seinen Gegenständen nach zunächst nichts anderes sein als eine Neuformulierung der einstmals in den Philosophischen Fakultäten institutionell gebündelten Inhalte […]. Sämtliche Disziplinen der alten Philosophischen Fakultät […] sind virtuelle Kulturwissenschaften“.12 Unklar, weil unausgeführt, bleibt die Formulierung, Kulturwissenschaften