Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
einem LutherischenAin gesprech eins Evangelischen christen mit einem Lutherischen erschienen 1524. Überdauert hat einzig sein Spruchgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall, das fest verwurzelt ist in der Geschichte der deutschen Literatur.
Das Walt got ist als Meisterlied einer strengen Form unterworfen. Jede der drei Strophen gliedert sich wiederum in drei Teile. Die Stollen in diesem Lied sind fünfzeilig, die beiden Stollen A und A, die dem gleichen Reimschema folgen, enden also mit der zehnten Zeile, dann beginnt der aus sieben Zeilen bestehende Abgesang (B). Dieses Meisterlied ist ein religiöses Tageslied, Sachs nennt sie die ‚morgenweis‘, die er 1518 erfunden hatte. Die Nacht symbolisiert die Sünden, das Tageslicht das Evangelium, die Sonne ist Christus. Es beginnt mit diesen Worten:
„Wacht auf wacht auf es taget
Ein nachtigal die waget
ir stim mit suessem hal
ir thon durchclinget perg vnd thal.“244
Walther von der VogelweideWalther von der Vogelweide hat im 12. Jahrhundert den Gesang der Nachtigall mit der Begegnung zweier Liebenden lyrisch miteinander verknüpft. Dieses Tier gehört also zu jenen Tierarten, die emotional positiv besetzt sind und die durchweg gute menschliche Eigenschaften symbolisierensymbolisieren. Bei SachsSachs, Hans findet sich die AllegorieAllegorie der Nachtigall schon in diesem Meisterlied. In der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte taucht sie in dieser Bedeutung erstmals in der Mitte des 14. Jahrhunderts auf im Buch der NaturBuch der Natur (1349/50) des Konrad von MegenbergMegenberg, Konrad von (1309–1374), der sich wiederum auf Plinius den ÄlterenPlinius der Ältere stützt. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auch auf OvidsOvid MetamorphosenMetamorphosen verwiesen, worin sich im sechsten Buch die Geschichte der Verwandlung von Philomela und Procne in Nachtigall und Schwalbe finden würde, doch ist dies so nicht stimmig. Ovid spricht nur von einer allgemeinen Verwandlung in Vögel. Die Nachtigall wird indes in einem anderen Überlieferungszweig, der auf SophoklesSophokles zurückgeht, konkret benannt. Entscheidend ist, dass die Gelehrten des MittelaltersMittelalter die Überlieferung aus der Plinius-Tradition kannten.245 Bei dem italienischen RenaissanceRenaissance-Gelehrten Lorenzo VallaValla, Lorenzo (ca. 1405–1457) findet man in seinem Buch De voluptateDe voluptate (gedruckt 1519) die zweigeteilte Vogelallegorie von der Schwalbe als Redekunst und der Nachtigall als Dichtkunst. Die Schwalbe repräsentiert demnach die städtische Beredsamkeit, wie es bei Valla heißt, die Nachtigall hingegen die Beredsamkeit der Dichter.246 Vallas Bücher waren in den europäischen, humanistischen Gelehrtenbibliotheken des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts vorhanden, nicht ausgeschlossen ist also – freilich auch nicht nachweisbar –, dass Hans SachsSachs, Hans in einer der Bibliotheken auf dieses Werk stieß.
Die Vorstellung, wonach die Nachtigall sowohl den Künstler als auch den Liebenden verkörpert, war allerdings ohnehin verbreitet. Bei Konrad von MegenbergMegenberg, Konrad von erleidet die Nachtigall lieber den Tod, als dass sie aufs Singen verzichten wolle: „und welt ê den tôt, ê daz si von irm gesang lâz“247 („sie wählt lieber den Tod, als daß sie von ihrem Gesang abläßt“248). Da ornithologisch gesehen die Nachtigallenmännchen während der Paarungszeit nachtaktiv sind und am liebsten in den frühen Morgenstunden singen, wird die Nachtigall insgesamt kulturgeschichtlichKulturgeschichte auch zur sanglichen Begleiterin all jener, die die Nacht zum Studium der LiteraturLiteratur und zum wissenschaftlichen Arbeiten nutzen. Ihr Gesang verkündet den Morgen und den neuen Tag, noch bevor der Sonnenaufgang sichtbar ist. Konrad von Megenberg schreibt: „Pei der nahtigal verstên ich die rehten maister der geschrift, die tag und naht mit übrigem grôzem gelust lesent die geschrift und tihtent new lêr […]“249 („unter der Nachtigall verstehe ich die wahren Schriftgelehrten, die Tag und Nacht mit übergroßer Begierde die Schrift lesen und mit solchem Eifer neue Unterweisungen ersinnen […]“250). Damit ist das nächtliche Studium der Heiligen Schrift und der antikenAntike Autoren gemeint, das sogenannte Lukubrieren. Medial vorbildhaft in Szene gesetzt wird diese KulturtechnikKulturtechnik des Wissenserwerbs von Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam, der 1516 seine Schrift Lucubrationes veröffentlicht, und von Martin LuthersLuther, Martin Lucubrationes in Psalmum XXILucubrationes in Psalmum XXI, die 1522, also ein Jahr vor der Wittenbergischen NachtigallDie Wittenbergisch Nachtigall des Hans Sachs, erschienen waren.
Einen Beweis, dass sich Hans Sachs auf diese humanistische Gelehrtentradition der deutschen und europäischen, mittelalterlichenMittelalter Literatur stützt, gibt es also nicht. Vielmehr gestaltet Sachs aus dieser Gemengelage von Motiven seine eigene Deutung. Er folgt nun nicht mehr den Regeln der lehrhaften Dichtung des Mittelalters, sondern für ihn wird die Nachtigall zur AllegorieAllegorie des intelligenten Aufbruchs, wie er selbst die ersten Jahre der Reformation erlebt. LutherLuther, Martin ist die Nachtigall, das erklärt er in seinem Poem Das Walt gotDas Walt got in Vers 35:
„Jst doctor Martinus
Von wittenwerg Her lutherus
Nun hœrt was er verkunde“.
Durch Luthers Wirken – Sachs nennt es die „Ewangelisch ler“ (V. 79) – seien die Menschen zum richtigen Glauben erwacht. Die Allegorisierung von Luthers Lehren und seiner publizistischen Arbeit durch die Nachtigall ist möglicherweise auch ein direkter Reflex auf jene Bemerkung Luthers selbst am Ende seines Büchleins An den christlichen Adel deutscher NationAn den christlichen Adel deutscher Nation (1520), wo er davon spricht, dass er sehr hoch gesungen habe, dass er noch ein Liedlein singen und die Noten aufs höchste stimmen könne. Unverhohlen formuliert Luther diese Metapher als Drohung an den Papst. Er spricht zwar nicht selbst von sich als einer Nachtigall, doch die poetische Verbindung der Lied- und Gesangsmetapher mit der Nachtigall als der Meisterin des Gesangs durch Hans SachsSachs, Hans drängt sich auf, denn die Nachtigall ist es, deren Singen den neuen Tag kündet. Vielleicht hat sich Hans Sachs hiervon zu seiner Nachtigallenallegorie inspirieren lassen. In der Wittenbergisch NachtigallDie Wittenbergisch Nachtigall wählt Sachs schließlich das Tier zur Titelfigur.251 LiteraturgeschichtlichLiteraturgeschichte gesehen taucht die Nachtigall 100 Jahre später an prominenter Stelle wieder auf, diesmal allerdings als Repräsentantin der Dichtung eines katholischen Poeten. Friedrich SpeeSpee, Friedrich (1591–1635) nennt seine 1649 postum erschienene Gedichtsammlung Trvtz-NachtigalTrvtz-Nachtigal und erklärt gleich in Punkt eins seiner knappen Vorrede, was er darunter versteht: „TrutzNachtigal wird das Büchlein genand weil es trutz allen Nachtigalen süß, vnd lieblich singet, vnd zwar auff recht Poëtisch“252. Das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch der Brüder GrimmGrimm, JacobGrimm, Wilhelm erklärt die besondere, dialektal kontaminierte Bedeutung der Präposition trutz. Demnach heißt es so viel wie ‚ebenso wie‘, aber auch ‚besser als‘ und ‚mehr als‘.253 Als Beleg wird unter anderem Spees Gedichtsammlung angeführt. Folgt man dieser Erklärung, so beansprucht der Jesuit und Dichter Friedrich SpeeSpee, Friedrich mit seinem Gedichtband nichts geringeres, als sogar besser singen zu können als Nachtigallen selbst singen. Das bedeutet auf der nicht-buchstäblichenbuchstäbliche Deutung Deutungsebene, dass seine deutschsprachigen Gedichte aus Sicht ihres Autors die Weihe der hohen LiteraturLiteratur erfahren und die Würde höchster künstlerischer Fertigkeit erhalten dürfen. Das ist vor dem Hintergrund der neulateinisch schreibenden Gelehrtenliteratur durchaus ein respektabler und selbstbewusster Anspruch. Seine Nachtigallen, also seine Gedichte, sollen einzig das Lob Gottes verkünden. Diese allegorischeAllegorie Gleichstellung von Dichter und Nachtigall können Hans SachsSachs, Hans wie auch Friedrich Spee aus der neulateinischen Dichtung, die sich an VergilVergil orientierte, oder aus der humanistischenHumanismus Literatur Italiens oder aber auch aus dem VolksliedVolkslied bekannt gewesen sein; wahrscheinlicher ist aber, dass sich Spee zumindest an den mittelalterlichen Christiaden orientiert.254 Die literarische FunktionFunktion der Nachtigall jedenfalls ist unzweifelhaft. Sie ist die direkte Personifikation des Dichters und vermag in beispielhafter und einzigartiger Weise das Lob Gottes zu singen, die Nachtigall ist zur „zentralen Metapher des Ästhetischen“255 und zur AllegorieAllegorie poetischer Existenz auch in Fragen der Theologie geworden. In dem fränkischen Weihnachtslied Lieb Nachtigall, wach aufLieb Nachtigall, wach auf von 1670 aus dem Bamberger GesangbuchBamberger Gesangbuch ist diese Bedeutung der Nachtigall als Sängerin des Gotteslobs bis heute erhalten geblieben. Man darf davon ausgehen, dass Spee das Werk von Hans Sachs nicht gekannt hat. Sachs war im 16. Jahrhundert in