Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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der Linguistik bezeichnet, kann ohne weiteres als das generelle Selbstverständnis der PhilologiePhilologie begriffen werden, denn „BedeutungBedeutung wird zur Denkweise der modernen Welt“130.

      AdornoAdorno, Theodor W. hatte in seiner aus dem Nachlass herausgegebenen Ästhetischen TheorieÄsthetische Theorie (1970) ebenfalls den Geist bemüht, um das Nichtfaktische an der Faktizität der Erscheinung des Kunstwerks hervorzuheben. Zwar gibt er zu bedenken: „Der ästhetische Begriff des Geistes ist arg kompromittiert nicht nur durch den Idealismus[,] sondern auch durch Schriften aus den Anfängen der radikalen Moderne“131. Dabei bewegt sich die Argumentation oft zirkulär nach dem Muster, wenn vom Geist eines Kunstwerks die Rede sein kann, dann muss es auch den Geist eines Kunstwerks geben. Die weitere Schlussfolgerung aber, die Adorno daraus zieht, offenbart das ganze Dilemma dieser Reflexion, die er in der Behauptung zuspitzt, „es sei nichts an den Kunstwerken buchstäblich, am letzten ihre Worte; Geist ist ihr Äther, das, was durch sie spricht, oder, strenger wohl, zur Schrift sie macht“132. Auf diese Weise wird die BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit liquidiert, um die Herrschaft des Geistes auszurufen. Mehr noch, hier steht der Monarchie des Signifikanten die freie Republik der BedeutungenBedeutung unversöhnlich gegenüber. Bezogen auf die Weisen des VerstehensVerstehen führt dies zu problematischen Verallgemeinerungen, wie sie etwa in Hinsicht auf KleistsKleist, Heinrich von Erzählung Das Erdbeben in ChiliDas Erdbeben in Chili (1807) vorgetragen wurden; „um der Einheit der Erfahrung willen“ würden Interpretationen Fakten „im Hinblick auf ihre transzendente Bedeutsamkeit auslegen“.133

      Die Reflexion der Begriffe SymbolSymbol und AllegorieAllegorie führt unweigerlich zu Paul de ManMan, Paul de (1919–1983) und zum Dekonstruktivismus. Nicht aber, um die Gemeinsamkeiten zu betonen, die ich im Übrigen auch gar nicht sehe, sondern um die Unterschiede herauszuarbeiten zwischen einer dekonstruktivistischen Lektüredeutung und einer POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, wie sie hier vorgestellt wird. „Wo immer der LiteraturtheorieLiteraturtheorie ein Schritt gelingt, ist es ein Schritt aus der Reihe ihrer eigenen kanonischen Verfahren“134. Mit diesen Worten wird die Einleitung unter dem Titel Unlesbarkeit zu de MansMan, Paul de Buch Allegorien des LesensAllegorien des Lesens (1979) eröffnet. Damit wird inkludent angenommen, dass der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft innerhalb literaturtheoretischer kanonischer Verfahren kein Schritt gelingen könne, also kein Fortschritt möglich sei. Das ist Ausdruck einer Voreingenommenheit, die weit vor einer empirischen Evidenz liegt. Mit dem Vorwurf, die Literaturwissenschaft produziere Gewaltverhältnisse, „wenn sie ihre Form-, Geschichts- und Sinnbegriffe auf den Korpus der Literatur appliziert“135, sieht sich diese auf solche Art gescholtene Wissenschaft konfrontiert. Wenn aber jegliche Arbeit mit dem Text als Ausdruck eines Gewaltverhältnisses verdächtigt wird, gelingt es nicht mehr, in irgendeiner Form gewaltfrei mit dem Text zu arbeiten. Selbst die bloße LektüreLektüre, das bloße Rezitieren eines Textes wäre demnach bereits Ausdruck dieses Gewaltverhältnisses, da dem Rezeptionsakt ein Verstehenswille zugrunde liegt. Das entspricht durchaus einem klassischen Totschlagargument, um sich den Weg frei zu machen für die Behauptung und die Beanspruchung des einzig wahren und einzig richtigen Umgangs mit Texten.

      Im Fahrwasser einer dekonstruktivistischen Lektüre eines Textes kann es kein gelingendes InterpretierenInterpretieren geben. Was ein TextText sage, sei nicht das, was er bedeute, wird behauptet.136 Aber wie soll man das Sagen und das Bedeuten voneinander trennen können? Kann eine Aussage frei von Bedeutung sein, also B/bedeutungs-los? Die Semiotik könnte hier die nötige Erdung schaffen.137 Dem Bemühen des Interpretierens geht es in erster Linie nicht um den Anspruch, eine Erkenntnistheorie zu liefern, obwohl auch das immer wieder von der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft selbst behauptet oder bestenfalls ihr unterstellt wird. Und damit ist bereits ein entscheidender Widerspruch zu de ManMan, Paul de formuliert, eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT beansprucht nicht, Erkenntniskritik zu generieren. Zudem argumentieren de Man und der literaturtheoretischeLiteraturtheorie Dekonstruktivismus auf der Basis der abendländischen binären Logik, wonach es nur wahr und falsch, nur ein Eines und ein Anderes gibt, nicht aber Zwischenräume, Grauzonen, Terrae incognitae. Das ist mit DerridasDerrida, Jacques philosophischem Dekonstruktivismus als der Referenzbasis dieser Argumente nur schwer zu vermitteln.Hermeneutik138 De Man gehe es um die „Entdeutung der einzelnen Bedeutungselemente sprachlicher Äußerungen“139, Texte „arbeiten“140 bereits selbst an ihrer Dekonstruktion, heißt es. Wie aber kann ein Text arbeiten, ohne ihm nicht a priori einen Subjektstatus zu prädizieren? Die dekonstruktive Lektüre zeige: „Text und Lektüre kommunizieren nicht im Medium der Bedeutung, sondern dort, wo sie aussetzt“141. Wo es aber keine BedeutungBedeutung gibt (oder geben soll), kann auch nicht bedeutungsvoll kommuniziert werden. Der Ausdruck Unlesbarkeit wird einem Gedicht Paul CelansCelan, Paul entlehnt und dahingehend generalisiert, dass das Gedicht „unlesbar, unübersetzbar in ein Bedeutungskontinuum […] und also lesbar nur in seiner Unlesbarkeit“142 sei. Wenn aber LiteraturLiteratur auf diese Weise als unlesbar bezeichnet wird, stellt sich doch die Frage, wie kann derjenige, der das sagt, von der Literatur wissen, dass sie unlesbar ist? Die These von der Unlesbarkeit findet spätestens dort ihre Grenze, wo es nicht mehr nur um das traditionelle Geschäft der Literaturwissenschaft, sondern um Handlungen, Gesten, künstlerische Ausdrucksformen oder andere Zeichensysteme wie beispielsweise die Brailleschrift oder die Notenschrift etc. geht, die alle gelesen werden können, da sonst keine Kommunikation statthat. In seinem Gedicht Ein LeseastEin Leseast schreibt CelanCelan, Paul:

      „Ein Leseast, einer,

      die Stirnhaut versorgend – als schriebst du

      Gedichte –“143.

      Das Bild eines Astes evoziert das Bild eines Baums, dessen Teil der Ast ist oder gewesen ist. Der unbestimmte Artikel kann auch als ein Indefinitpronomen im Sinn von irgendeiner oder auch als ein Zahlwort gelesen werden. Unlesbar ist selbst jene DeutungDeutung nicht, die dies leugnen würde. Es gibt mehr als nur einen Horizont des Autors und einen Horizont des Lesers, sondern – um es nochmals mit Celan auszudrücken – zahlreich sind die „Binnenland-Horizonte“144.

      De MansMan, Paul de Verdienst wird darin gesehen, dass sich seine Arbeiten am konsequentesten von „subjektivitäts- und sprachontologischen Restriktionen befreien“145 würden, um dann aber durch die Hintertür neue ontologische Behauptungen einzuführen, wie unter anderem die Ausführungen zur Allegorie belegen. „Die Sprache der Allegorie“, so wird de Man interpretiert, sei die „Rhetorik einer Ontologie des endlichen Seins“.146 Ist aber ein literarischer TextText tatsächlich eine Allegorie seiner eigenen Unlesbarkeit, erzählt die AllegorieAllegorie des LesensLesen ernsthaft von der, wie de Man meint, „Unmöglichkeit des Lesens“147? Zustimmen kann man de Mans Zweifel daran, dass es nicht einfach nur zwei Bedeutungen eines Wortes oder eines Textes gebe, die er die buchstäbliche Bedeutungbuchstäbliche Bedeutung und die figurative Bedeutung nennt.148 Rhetorik sei die „radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung“149. Verirrung ist aber nur dort möglich, wo über Richtigkeit und Wahrheit ein Urteil herrscht. De ManMan, Paul de reklamiert somit das für sich, was er den HermeneutikenHermeneutik aller Zeiten vorwirft, den Anspruch auf Wahrheit zu erheben und den Thron des richtigen VerstehensVerstehen zu besetzen. Dekonstruktion zeigt sich somit nicht als revolutionäre Basisdemokratie, sondern als Verfechterin monarchischen Kalküls. An die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft adressiert meint de Man, die Differenz zwischen ihr und der Literatur sei „Trug“150. Wenn es demnach keinen Unterschied – wobei zu fragen wäre: in welcher Hinsicht? – zwischen LiteraturLiteratur und Literaturwissenschaft gibt, ist in der Binnensicht der Dekonstruktion auch die Literaturwissenschaft unlesbar, B/bedeutungs-los, eben kommunikationslos. Den Gegenbeweis tritt de Man aber unwillentlich selbst an, indem er nämlich über diese ‚Losigkeit‘ schreiben kann und zwar sehr beredt.

      Der Philosoph Jacques DerridaDerrida, Jacques (1930–2004) entwickelt unter anderem in seiner GrammatologieGrammatologie (1967) ein Verfahren zum Textverstehen, das er Dekonstruktion nennt. Seine Ausführungen sind vor allem eine gründliche Reflexion der Voraussetzungen und Begleitumstände eines solchen Verfahrens in erkenntnistheoretischer Absicht. Der Philosoph verfolgt mithin ein anderes Ziel als ein Literaturwissenschaftler wie de Man. Der ‚eigentliche‘ SinnSinn der Schrift (Derrida setzt das Epitheton selbst in Anführungszeichen)


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