Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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und der Diskursverbreitung in der ModerneModerne grundlegend geändert haben. Jegliche Form von Biografismus wird nebensächlich angesichts der Aufwertung einer interpretativen Interaktion zwischen TextText und Lesenden. Donald DavidsonDavidson, Donald bringt dies zugespitzt auf den Punkt mit der Bemerkung: „Man kann zwar glauben, SchillerSchiller, Friedrich sei nicht der Autor der RäuberDie Räuber, ohne daran zu zweifeln, daß Schiller Schiller ist“102.

      Es mag banal klingen, aber wir kommen nicht umhin, Texte zu deuten und sollten uns von daher nicht von SchillersSchiller, Friedrich englischer Königin Elisabeth seines Dramas Maria StuartMaria Stuart (1800) ängstigen lassen, die ausruft:

      „Nichtswürdiger! Du wagst es, meine Worte

      zu deuten? Deinen eignen blutgen Sinn

      Hinein zu legen?“ (V. 3982ff.)

      Auch der möglicherweise gut gemeinte Rat aus Robert WalsersWalser, Robert Roman Jakob von GuntenJakob von Gunten (1909): „Ah bah, laß das Deuten“103, hilft nicht wirklich. Denn selbst wenn man das Deuten ablehnt, muss man zuvor wenigstens angenommen haben, dass es ein Deuten gibt. Die Alternative zum Deuten ist, nicht zu deuten und nicht das Nicht-Deuten, ohne dass man sich dabei dem Verdacht eines verkrampften Suchens, eben dem walserschen „Hände-Ausstrecken nach einer Bedeutung“104, aussetzt. Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria hat 1893 anlässlich der Interpretation von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Gedicht Der WandrerDer Wandrer dies so formuliert: „Aber ich möchte mich verleitet fühlen, diesem Gedichte noch eine andere symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung zuzusprechen“Lappenberg, Samuel Christiansymbolische BedeutungsymbolischLambert, Johann Heinrich105, obwohl er weiß, wie er in der Ersten Duineser ElegieErste Duineser Elegie (1923) schreibt:

      „daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind

      in der gedeuteten Welt.“106

      Die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ihrerseits ist dieser anderen, symbolischen Bedeutungsymbolische Bedeutung in der symbolischen Deutungsymbolische Deutung je auf der Spur.

      Im zweiten Teil seines Buchs Kritik und WahrheitKritik und Wahrheit (1966) schreibt Roland BarthesBarthes, Roland (1915–1980) über die Offenheit eines literarischen Werks:

      „Das Werk besitzt gleichzeitig mehrere Bedeutungen, und zwar aufgrund seiner Struktur, nicht infolge eines Unvermögens derer, die es lesen. Darin ist es symbolisch: nicht das Bild ist das SymbolSymbol, sondern die Vielfalt der BedeutungenBedeutung.

      Das Symbol ist konstant.“107

      BarthesBarthes, Roland führt weiter aus, im MittelalterMittelalter sei die Freiheit des Symbols in der Theorie von den vier Bedeutungen (wörtlich, allegorischAllegorie, moralisch, anagogisch) kodifiziert worden, die KlassikKlassik habe sie eingeschränkt, und jede Einschränkung sei bis heute eine gesellschaftlich indizierte. Darin drücke sich kein strukturales, sondern ein institutionelles Problem aus: „was auch die Gesellschaften denken oder verfügen, das Werk reicht über sie hinaus […]: ein Werk ‚dauert‘, […] weil es einem einzigen Menschen verschiedenartige Bedeutungen nahelegt, weil es immer die gleiche Symbolsprache durch verschiedenartige Zeiten hindurch spricht. Das Werk denkt, der Mensch lenkt.“108 In dieser Zuspitzung liegt natürlich der verführerische Gedanke einer Ontologisierung des Kunstwerks; an anderer Stelle spricht Barthes von einer „Ontologie der Bedeutung“109. Doch geht es ihm nicht um diese Gefahr einer falsch verstandenen Metaphysik des Textes, sondern um die BedeutungBedeutung und die Rolle des Lesers, sofern er sich nicht „durch die Zensurmaßnahmen der BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit“110 einschüchtern lasse. Über die Wissenschaft von der Buchstäblichkeit schreibt er: „Die PhilologiePhilologie hat den Zweck, die wörtliche Bedeutung einer Aussage zu fixieren; über die zweiten Bedeutungen hat sie jedoch keinerlei Macht“111. Um diese Aussagen einordnen zu können, ist es unerlässlich, Barthes’ kritische Essays heranzuziehen. So unterscheidet er etwa in der Rhetorik des BildesRhetorik des Bildes (1964) zwischen dem buchstäblichenBuchstäblichkeit und dem symbolischen LesenLesen eines Bilds, der Buchstaben eines Bildes sei dessen „buchstäbliche Botschaft“112 im Unterscheid zu dessen symbolischersymbolisch Botschaft. „Die buchstäbliche Botschaft erscheint als der Träger der ‚symbolischen‘ Botschaft“113. Und um die symbolischesymbolisch Botschaft decodieren zu können, bedarf es kulturellen Wissens. In Analogie zur Textdeutung lässt sich somit behaupten: Die BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit eines TextesText ist die Trägerin von dessen symbolischer Deutungsymbolische Deutung. BarthesBarthes, Roland differenziert in dem Essay Der dritte SinnDer dritte Sinn (1970) drei verschiedene Sinnebenen am Beispiel eines Fotogramms von EisensteinEisenstein, Sergej. Die informative Ebene, die symbolische Ebene (die gleichbedeutend ist mit dem entgegenkommenden SinnSinn) und den stumpfen Sinn. Die informative Ebene ist durch Kommunikation gekennzeichnet und wird von Barthes nicht weiter ausgeführt. Die zweite, symbolische Ebene ist die Ebene der BedeutungBedeutung. Barthes unterscheidet zwischen einer referenziellen Symbolik, einer diegetischen Symbolik und einer historischen Symbolik. Hier fließen „die Wissenschaften des Symbols (Psychoanalyse, Ökonomie, Dramaturgie)“114 mit ein. Die dritte Sinnebene ist die Ebene des symbolischen Sinns, der „intentional“ ist, „es ist ein Sinn, der mich, den Adressaten der Botschaft, das Subjekt der Lektüre, sucht, ein Sinn, der […] auf mich zugeht“115. Diese Intentionalität schränkt Barthes allerdings auf die Autorintention ein und lässt somit das Problem, dass der Text etwas anderes aussagen kann als sein Autor will, unkommentiert. Da dieser Sinn oder diese Botschaft vom Text aus auf mich zugeht, nennt Barthes diesen Sinn den mir als Leser entgegenkommenden Sinn. Der stumpfe Sinn hingegen erstrecke sich über KulturKultur, Wissen und Information und sei von moralischen und ästhetischen Kategorien unberührt.116 Dieser stumpfe Sinn enthält einen Anpassungsmodus, da er die Lektüre „abgleiten“117 lässt und einer kulturell genormten RezeptionRezeption anpasst. In dem Essay Der Geist des BuchstabensDer Geist des Buchstabens (1970) fragt Barthes unter Anspielung auf die für das neutestamentliche Textverständnis zentrale Bibelstelle: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor 3, 6)118, nach der Dialektik von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und DeutungDeutung. „Der Buchstabe tötet, und der Geist belebt? Das wäre einfach, wenn es nicht einen Geist des Buchstabens gäbe, der den Buchstaben belebt; oder: wenn der Buchstabe als solcher nicht das äußerste Symbol wäre“119. „Die ganze Welt fließt in den Buchstaben ein, der Buchstabe wird zu einem Bild im Teppich der Welt“120. Dieses Bild hebt die Bedeutung der Vernetzung von BuchstabenBuchstaben und SymbolSymbol hervor. Der Teppich der Welt ist ein Gewebtes und erfüllt damit die buchstäbliche wie die symbolische Bedeutung des lateinischen Worts textus als Gewebe, der TextText ist aus Buchstabe und Symbol gewebt. Der Buchstabe sei im Grunde nur ein „Brückenkopf, weil der Diskurs beginnen muß“121. In dem Essay Erté oder An den BuchstabenErté oder An den Buchstaben (1973) kommt BarthesBarthes, Roland darauf noch einmal zurück und spitzt nun zu, dass die Aufgabe des Buchstabens darin bestehe, „jede Symbolik zurückzuweisen“122. Die PhilologiePhilologie sei die strenge Hüterin eines wahren, kanonischen Sinns und ihre „erste leugnende Aufgabe“123 bestehe darin, keine symbolische Deutungsymbolische Deutung zuzulassen. Dass diese Beurteilung nicht nur historisch unpräzise ist und keineswegs für die Philologie in Gänze gilt, sondern allenfalls für eine bestimmte philologische Haltung, ist an dieser Stelle nicht entscheidend. Den Geist versteht Barthes nicht als Raum des Symbols, sondern des SinnsSinn. „Der Geist eines Phänomens, eines Worts, ist einfach sein Recht, mit dem Bedeuten zu beginnen (während die Buchstäblichkeit die Weigerung ist, sich auf einen Bedeutungsprozeß einzulassen)“124. Der Geist sichert ein „Recht auf Interpretation“125, das die Nacktheit des Buchstabens will. In der ModerneModerne wird der Buchstabe ein „Schnittpunkt von Symbolen“126. Barthes spricht von einem „Empirismusjoch“127, das Sprache lediglich als Instrument der Kommunikation begreife und, so kann man ergänzen, über den ästhetischenÄsthetik, also symbolischen Mehrwert hinwegsieht. Denn jeder Buchstabe ist „der Ausgangspunkt für ein symbolisches Abenteuer, für das der Leser […] in sich Spielraum lassen muß“128. Dieses Abenteuer benennt Barthes in einem Vortrag von 1974 auch als das semiologische Abenteuer, das letztlich immer darauf abziele, in das System des Sinns „Risse zu schlagen“ und aus dem „abendländischen Gehege“ herauszukommen.129 Sind es die Machenschaften


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