Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
von mimeῑsthai im vorplatonischen Sprachgebrauch heißt es: „sinnlich-konkrete Äußerungen belebter (bes. menschlicher) ‚Wesen‘ (unter Ausnutzung einer vorhandenen Ähnlichkeit) sinnlich-konkret (für jemanden) erscheinen lassen bzw. wiedergeben“54. Somit kann man vor allem das schöpferische Moment des Mimesis-Begriffs festhalten. Mimesis bedeutet in diesem Sinne das Darstellen und Gestalten von etwas, Mimesis ist gleichermaßen figuratio (Darstellung) und formatio (Gestaltung). Mit Blick auf das Modell POIKAIPOIKAI betreffen PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis den Außenbezug von LiteraturLiteratur als den basalen kulturellen Bedingungen der Geschichtlichkeit eines Textes, während Mimesis nur auf den Binnenbezug eines Textes referiert.
In PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) 1454 b 16 spricht AristotelesAristoteles von den aisthéseis (den „Sinneseindrücken“55), die notwendigerweise mit der Dichtkunst verknüpft seien. Man kann dies folgendermaßen verallgemeinern: Literatur wird sinnlich wahrgenommen, mehr noch, Literatur muss wahrgenommen werden, um überhaupt eine WirkungWirkung entfalten zu können. Wirkung (Katharsis) und Wahrnehmung (Aisthesis) sind miteinander verschränkt. Das Substantiv aísthesis (vgl. Poetik 1451 a 7) taucht im siebten Kapitel auf und wird mit dem „äußeren Eindruck“56 einer Aufführung wiedergegeben, im 16. Kapitel wird das substantivierte Verb von Aisthesis (vgl. Poetik 1454 b 37) mit dem „Anblick“57, also auch der Inszenierung einer Tragödie übersetzt. Die Aisthesis geht damit über die sinnliche Wahrnehmung hinaus, der äußere Eindruck ist die LektüreLektüre der äußeren Textur, die den Zugang zur inneren Textur eröffnet. Ob nun Sinneseindruck, äußerlicher Eindruck oder Anblick die adäquaten Übersetzungsmöglichkeiten darstellen, stets geht es um die Wahrnehmung von LiteraturLiteratur.
Die poíesis ist sicherlich der am weitesten generalisierte Begriff, der aus der aristotelischenAristoteles Poetik übernommen wird. Dort bedeutet er schlicht die Dichtung. Im Modell POIKAIPoiKAi wird er aber in einem allgemeinen Sinn als das Machen von Literatur, als deren Hervorbringung verstanden und schließt die Bedingungen ihrer historischen Wirksamkeit mit ein. Das POIKAI-Modell orientiert sich an einer Theorie des Textus receptusTextus receptus. Der englische Philosoph Francis BaconBacon, Francis spricht in seinem Novum organum scientiarumNovum organum scientiarum (1620) von der „philosophia recepta“58, was mit „den herkömmlichen philosophischen Ansichten“59 übersetzt wird. Das deckt sich nur zum Teil mit dem Wortverständnis von Textus receptus, wie es in der Theologie, genauer in der theologischen Textkritik der Evangelien entwickelt wurde. Dort meint Textus receptus denjenigen Text, dessen Textkonstitution angesichts konkurrierender Handschriften und Drucke als verbindlich gilt. Dem Textus receptus kommt ein autoritativer Status zu, und beginnt mit der Bibelausgabe von 1516 des Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam. Der Theologe Hermann von SodenSoden, Hermann von bezeichnete die Denkfigur eines Textus receptus, was ja die Textgestalt einer allgemein anerkannten Textkonstitution bedeutet, als „Buchhändlerreklame“60, aus der schließlich ein Dogma gemacht worden wäre, das in einem Epitaphium endete. Für POIKAIPOIKAI ist demgegenüber ausschließlich entscheidend, dass der rezipierte Text wirkt, auch wenn sich die WirkungWirkung als Ergebnis einer auf falscher Textannahme basierenden Fehllektüre herausstellt. Der Wahrnehmung von Literatur geht die Wirkung von Literatur voraus und diese ist wiederum abhängig davon, dass überhaupt etwas geschaffen und Literatur entstanden ist. Poiesis betrifft das Machen von Literatur, KatharsisKatharsis betrifft das Wirken von Literatur und AisthesisAisthesis betrifft das Wahrnehmen von Literatur. So erklärt sich die Verschränkung von Poiesis, Katharsis und Aisthesis im Modell von POIKAIPOIKAI, die zugleich die kulturellen Bedingungen von Literatur bedeuten.
„EXPERIMENTALphilologie“. „Die Kunst der Fuge mit Wörtern“1
„Ich schlage Ihnen deshalb vor, daß wir uns für die kurze Zeit dieses Gesprächs in einem kleinen Winkel der LiteraturtheorieLiteraturtheorie einrichten; außerdem werde ich diesen Punkt subjektiv abhandeln; ich werde im eigenen Namen und nicht von der Position der Wissenschaft aus sprechen, ich werde mich selbst befragen, ich, der ich die Literatur liebe“2. Diese Worte von Roland BarthesBarthes, Roland will ich mir zu eigen machen und im Folgenden Denkanstöße zu einer „EXPERIMENTALphilologieExperimentalphilologie“ geben, um diesen Begriff und die Denkbewegung Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich aufzugreifen. Er hat in seinen Heften zur Geschichte und PolitikHefte zur Geschichte und Politik als das „eigentliche Problem des Zeitalters“ für „die nächste Epoche (1800–2100)“ „die Wiedergeburth des Wortes“ erkannt.3
Der analytische Philosoph Donald DavidsonDavidson, Donald (1917–2003) bringt das, was Vertreter*innen der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft schon immer tun, auf die knappe Formel: „Das Ziel der InterpretationInterpretation ist nicht Übereinstimmung, sondern VerstehenVerstehen“4. „Metaphern sind die Traumarbeit der Sprache“5, schreibt Davidson im Kapitel Was Metaphern bedeuten. Traumarbeit der Sprache kann aber selbst schon wieder als Metapher verstanden werden, demnach wäre eine Metapher eine Metapher, ein zirkulärer Schluss. Davidson bringt aber eine wichtige Korrektur am semiologischen Diskurs über das eigentliche und das uneigentliche Sprechen an, denn seine These heißt: „Metaphern […] bedeuten, was die betreffenden Wörter in ihrer buchstäblichenbuchstäblich Interpretation bedeuten, sonst nichts“6. Das setzt aber voraus anzunehmen, dass es a priori eine buchstäbliche BedeutungBedeutung gibt. Wie steht das dann mit Wörtern wie ‚Gott‘, ‚Käse‘ oder ‚cis‘? Worin liegt deren buchstäbliche Bedeutung? Oder wie verhält es sich mit der Zahl 1774, die für die einen eine Zahl ist und für die anderen das Erscheinungsjahr von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Jahrhundertroman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers markiert? Wie verhält es sich mit einem Beispielsatz dieser Gestalt: Müller mahlen Getreide, Maler malen Bilder, beide ma(h)len? Das ist nur lautlich oder phonetisch korrekt wiederzugeben, orthografisch hingegen als Zeichen nicht eindeutig darstellbar.
Als einen Hauptfehler bezeichnet es DavidsonDavidson, Donald, einer Metapher zusätzlich zu ihrer buchstäblichenbuchstäblich BedeutungBedeutung oder ihrem buchstäblichen Sinn (dieses Wort gebraucht Davidson an dieser Stelle) eine weitere Bedeutung oder einen weiteren Sinn zuzuschreiben.7 Er provoziert mit der Feststellung: „Wenn ich recht habe, sagt die Metapher gar nichts, was über ihre buchstäbliche Bedeutung hinausginge (auch wer die Metapher bildet, sagt durch die Verwendung der Metapher nichts, was über das Buchstäbliche hinausgeht)“8. Davidson hat nicht recht. Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft leben nachgerade von der Annahme, dass es jenseits der buchstäblichen Bedeutung eines Worts oder eines Textes auch eine nicht-buchstäbliche Bedeutung gibt. Somit geht es nicht darum, den Beweis erbringen oder nicht erbringen zu können, ob eine Metapher, ob ein Wort eine objektive nicht-buchstäbliche Bedeutung haben könne, sondern es geht allein um die Tatsache der Annahme einer solchen nicht-buchstäblichen Bedeutung.
Über den Vergleich meint Davidson, dass „die Literaturtheoretiker“ nicht annehmen würden, ein Vergleich bedeute etwas anderes, „als was an der Oberfläche der Wörter liegt“.9 Auch wenn sich diese Aussage auf den Vergleich bezieht, so ist doch kritisch festzuhalten, dass selbst ein Vergleich eine Metapher sein kann oder in Davidsons Perspektive ein Vergleich auch eine Metapher gebrauchen kann. Und so betrachtet wird Davidsons Annahme falsch, denn weshalb sollte die LiteraturtheorieLiteraturtheorie eine ‚andere‘ Bedeutung als diejenige, die auf der buchstäblichen Bedeutungsebene eines Wortes oder eines Textes zu erkennen ist, ausschließen oder gar leugnen? Am Ende betont Davidson nochmals, die Annahme, eine Metapher habe einen nicht-buchstäblichen Ausdruck, sei schlicht falsch. Es gebe keine „verborgene Botschaft“10. Somit ist die Eingangsfrage seiner Untersuchung: „Was heißt es, daß Wörter bedeuten, was sie nun einmal bedeuten?“11, dahingehend zu ergänzen, dass man danach fragt: Wer sagt, dass Wörter das bedeuten, was sie nun einmal bedeuten? Diese Bedeutungssicherheit reklamiert einen Wahrheitsanspruch, der sich mit dem Gegenstand der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, der LiteraturLiteratur selbst, nicht verträgt. Denn Literatur geht es nie um Wahrheit, sondern um ästhetischeÄsthetik Schönheit, die jedes Kunstwerk per se für sich reklamiert, wie auch immer und zu welcher Zeit auch immer Schönheit inhaltlich erklärt wird.
Als Hermann HesseHesse, Hermann 1941 ein Nachwort für die schweizerische Ausgabe seines Romans Der SteppenwolfDer Steppenwolf (1927), der in Nazideutschland