Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Bildern, Skulpturen, Texten vor Augen führt – in eine ÄsthetikÄsthetik der Bedeutungsoffenheit über. Wenn man noch einmal einen textualistischen KulturbegriffKulturbegriff bemühen will, so kann man auch von einer Textur der Bedeutungsoffenheit sprechen, die demnach auch Handlungen etc. miteinschließt und ihren performativen Charakter betont.

      EcoEco, Umberto unterscheidet zwischen dem freien Gebrauch eines Textes und dessen InterpretationInterpretation. Aus Sicht des Semiotikers ist ein Text „nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner […] Interpretationen konstituiert“29. Für diese Begrenzung des Diskursbereichs muss man aber einen Gestaltungswillen annehmen, der ein Autorwille, ein Textwille (möglicherweise gegen den Autorwillen) oder ein Leserwille sein kann, ließe sich einwenden. Eco beschreibt an anderer Stelle das Zusammenwirken von intentio operis und intentio lectoris als ein dialektisches Verhältnis. Im Unterschied zur Leserintention sei es unmöglich genau anzugeben, was eine Textintention meinen könne, da die Intention eines Textes niemals offen zutage liege.30

      Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich (1772–1829) bietet in den Heften zur PhilosophieHefte zur Philosophie (1794–1818), Philosophische Fragmente. Zweite Epoche I drei Aphorismen, die eine hermeneutischeHermeneutik Selbstzufriedenheit herausfordern. Nr. 1515 lautet: „Die Frage, was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die was das Werk sei, nicht“31, Nr. 1503: „Das Verstehen mit dem Sinn ist ein Aneignen des Keims, ein Empfangen, Wachsen, Blühen. Können alle Früchte auf jedem Boden wachsen? – Mitnichten!“32 Und Nr. 984: „Der Buchstabe jedes Werks ist Poesie, der Geist Philosophie.“33 Das korreliert durchaus mit Schlegels Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 93: „Die Lehre vom Geist und BuchstabenBuchstaben ist unter andern auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann.“34 Mit der Zeitschrift Athenäum hatten die Brüder August WilhelmSchlegel, August Wilhelm und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich zusammen mit dem Theologen Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834) ein Forum für die Diskussion und Verbreitung romantischen Denkens und Schreibens geschaffen. Ihr damit verknüpfter Anspruch war kein geringer. Friedrich Schlegel schreibt am 31. Oktober 1797 an seinen Bruder:

      „Denk Dir nur den unendlichen Vortheil, daß wir alles thun und lassen könnten, nach unserm Gutdünken. […] Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, daß wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5–10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde zu richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen andren Zweck hätte als Kritik“35.

      Im Gespräch über die PoesieGespräch über die Poesie (1800) heißt es mit Blick auf die „Einteilung in Geist und BuchstabenBuchstaben“, es sei nicht einzusehen, weshalb man sich nur an den „Buchstaben des Buchstabens“ halten solle und nicht auch der allegorischen Deutungallegorische Deutung Raum zugestehen könne.36 Damit ist wieder die Spannung von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und symbolischer Deutungsymbolische Deutung umschrieben.

      Die Aphorismen und Notizen Aus den Heften zur Poesie und LiteraturAus den Heften zur Poesie und Literatur (1796–1801) enthalten in dem Teil Zur Philologie. I (1797) zahlreiche zentrale Bestimmungen für Schlegels PhilologieverständnisPhilologie. Das reicht vom an Kalauer grenzenden Feuilletonismus bis hin zum philosophischen Scharfsinn. In Nr. 61 notiert SchlegelSchlegel, Friedrich: „Man wird zum Philologen gebohren […]“37, und nahezu wörtlich wiederholt er das im Athenäums-Fragment Nr. 404: „Zur Philologie muß man geboren sein […]. Es gibt keinen Philologen ohne Philologie in der ursprünglichsten Bedeutung des Worts, ohne grammatisches Interesse. Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstück der Philosophie“38. Hier schwingt noch nach, was seit den Tagen des Dionysios ThraxThrax, Dionysios (ca. 170–90 v. Chr.), der die erste abendländische Grammatik vorlegte, als der Versuch gilt, Philologie inhaltlich auf den Begriff zu bringen und bis ins 19. Jahrhundert hinein Verständnis und Selbstverständnis der Philologie geprägt hat: „Philologie ist eine durch Empirie gewonnene Kunde dessen, was von Dichtern und Prosaschriftstellern in der Regel gesagt wird“39. Schlegel stellt Offenbarung gegen Philologie und bezeichnet die Offenbarung als das Ende der eigentlichen Philologie, da Gott über Grammatik und Kritik erhaben sei.40 Besondere Aufmerksamkeit kommen seinen Notizensammlungen Zur Philologie. I und Zur Philologie. II (1797) aus den Heften zur Poesie und Literatur zu. Als das subjektive Fundament der Philologie bezeichnet er dort die PhilologiePhilologie selbst in ihrer BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit, also als Liebe zum Wort oder, wie er es nennt, als „historischer Enthusiasmus“41. Diese Begeisterungsfähigkeit für das Wort ist Voraussetzung für die Arbeit am Wort und muss nicht durch vermeintliche oder tatsächliche wissenschaftliche Gelehrsamkeit neutralisiert werden. Damit wird unmerklich dem Recht auf den subjektiven Faktor das Wort geredet und der Vorstellung einer objektiven Philologiesierung des VerstehensVerstehen, letztlich dem alleinigen und wahren Verstehen eines Textes das Wasser abgegraben. Auch SchlegelsSchlegel, Friedrich Hinweis, die PhilologiePhilologie sei nur eine Art des Philosophierens (vgl. Nr. 80), ändert daran nichts. Schlegel entwickelt sogar das Verb „philologiren“42, das sich zwar nicht durchgesetzt hat, das er aber als Analogiebildung zu philosophieren verstanden wissen will. Das Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 391 lautet: „Lesen heißt den philologischen Trieb befriedigen, sich selbst literarisch affizieren. Aus reiner Philosophie oder Poesie ohne Philologie kann man wohl nicht lesen“43, was aber allein schon durch die fortlaufende Geschichte des Buchmarkts schlichtweg widerlegt wird. Doch Schlegel spricht nicht aus, was zwischen den Zeilen steht, es geht ihm um das richtige, das verständige LesenLesen, das er vom falschen, dem unverständigen Lesen unterscheidet, auch wenn diese Begriffsopposition so nicht wörtlich auftaucht. Dabei gruppieren sich die Themenfelder von SinnSinn, InterpretationInterpretation, Moral und Geschichte heraus. Schlegel formuliert einen „hermeneutischenHermeneutik Imperativ“44 – so wie er auch von einem „Imperativ der Progressivität“45 spricht –, der aber im Detail unausgeführt bleibt. Vielleicht hatte Schlegels Freund SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst diese Art von kategorischer Philologie im Sinn, die den Imperativ ‚Verstehe!‘ setzt, ohne ihn zu erklären, als er in seinem Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren VerächternÜber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) in der dritten Rede schrieb: „Mit Schmerzen sehe ich es täglich, wie die Wut des Verstehens den SinnSinn gar nicht aufkommen läßt“46. Und wenig später ist gar vom „Joch des Verstehens“47 die Rede, das der moderne Mensch zu tragen habe.48 Möglicherweise spielt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst mit der Formulierung Joch des VerstehensVerstehen

      auf eine ähnliche Bemerkung LessingsLessing, Gotthold Ephraim an. Dieser hatte in seiner ersten Schrift mit dem Titel Eine ParabelEine Parabel (1778) gegen den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior GoezeGoeze, Johann Melchior, der bekanntlich 1774 ein Verbot von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Epochenroman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers gefordert hatte, emphatisch LutherLuther, Martin als Zeugen mit den Worten angerufen:

      „O daß Er es könnte, Er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! – Luther, du! – Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt, als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreiend aber gleichgültig daher schlendern! Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde! Wer – –.“49

      Bei Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich können wir im Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 267 lesen: „Je mehr man schon weiß, je mehr hat man noch zu lernen. Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen in gleichem Grade zu, oder vielmehr das Wissen des Nichtwissens“50. So gesehen seien Fragmente „Randglossen zu dem Text des Zeitalters“51. Schlegel geht immer davon aus, dass es ein besseres Verstehen gibt, das über dem Selbstverstehen des Autors liegt und das durch Kritik erschlossen werden kann.52 Er warnt an anderer Stelle im Athenäums-Fragment Nr. 25 davor, dass das Auslegen oft auch ein „Einlegen des Erwünschten oder des Zweckmäßigen“53 sei, und greift damit einen Generaleinwand gegen jegliches symbolischesymbolisch


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