Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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eine Gattungspoetik und wurde als solche bis ins 18. Jahrhundert hinein rezipiert.34 In der Forschung hat sich längst die Einsicht durchgesetzt, dass Aristoteles in seiner Poetik weder ausschließlich normativ noch ausschließlich deskriptiv verfährt.35 In einer Anmerkung zur Übersetzung wird erklärt: „Jammer und Schaudern bewirken also, dass der Zuschauer von Erregungszuständen wie Jammer und Schaudern gereinigt, d.h. von ihrem Übermaß befreit wird“36. Ob die Wiedergabe des griechischen Pathos-Begriffs mit Erregungszustand besser getroffen ist als mit Leidenschaft, soll hier nicht entschieden werden. In der DeutungsgeschichteDeutungsgeschichte der aristotelischen Tragödiendefinition jedenfalls wurde nahezu ausnahmslos der Begriff der Leidenschaft gebraucht. Verfolgt man die Geschichte der Einschreibung des KatharsisKatharsis-Diskurses in den allgemeinen literarischen, historischen Leidenschaftsdiskurs, so ergibt sich beispielsweise für die aufgeklärte Literatur des 18. Jahrhunderts, dass Katharsis immer etwas mit LeidenschaftenLeidenschaften zu tun hat, was auch schon für die antike Tragödie galt. Damit zeichnet sich eine diskurshistorisch relevante Frage ab: Wie kam es, dass sich über das Verhältnis von LiteraturLiteratur und LeidenschaftLeidenschaft ein eigenständiger Diskurs entwickelte, der seinen Ausgangspunkt von der Katharsis-Stelle der aristotelischen Poetik nahm? Weshalb wurde die Formel der KatharsisKatharsis von Leidenschaften ungeachtet der verschiedensten Auslegungen stets als Skandalon empfunden?

      Die Formulierung Reinigung der Leidenschaften („tōn toiūton pathemáton kátharsin“, Poetik 1449 b 27f.)37 lässt drei unterschiedliche Deutungen des Genitivs zu: 1.) als Genitivus subjectivus, die Leidenschaften selbst reinigen etwas oder jemanden, die Leidenschaften sind das Subjekt der Katharsis; 2.) als Genitivus objectivus, die Leidenschaften werden von etwas oder jemandem gereinigt, die Leidenschaften sind das Objekt der Katharsis; und 3.) alsPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Genitivus separativus, die Leidenschaften werden im Reinigungsakt separiert, wobei die Leidenschaften entweder vollständig beseitigt oder nur gemäßigt werden. Mit dieser grammatikalischen Differenzierung ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob die Katharsis ethisch oder medizinisch verstanden wird, ob sie also zur Verbesserung der moralischen Disposition der Menschen beiträgt und zur Tugendhaftigkeit anleitet, oder ob sie nur als therapeutischer Akt das psychisch-physische Wohlbefinden des Einzelnen fördert oder wiederherstellt.38 Der wichtigste Vertreter einer medizinischen Deutung der Katharsis, der dem altphilologischen Katharsis-Diskurs im 19. Jahrhundert wesentliche Impulse verliehen hat, ist Jacob BernaysBernays, Jacob, der Bruder des Literaturwissenschaftlers Michael BernaysBernays, Michael und Onkel von Sigmund FreudsFreud, Sigmund Braut Martha. Die Katharsis definiert er in seiner Arbeit Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der TragödieGrundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, die er erstmals 1857 als unselbstständige und 1858 als selbstständige Publikation veröffentlichte, wie folgt: „Eine von Körperlichem auf Gemüthliches übertragene Bezeichnung für solche Behandlung eines Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu verwandlen oder zurückzudrängen sucht, sondern es aufregen, hervortreiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will.“39 Eine Gelenkstelle der antiken und neuzeitlichen ÄsthetikÄsthetik in den Deutungshorizont von medizinischer und psychisch-therapeutischer Abfuhr zu stellen, galt Mitte des 19. Jahrhunderts als Sakrileg. Die Pathoskultur der AufklärungAufklärung, wie sie in ihrer LiteraturLiteratur zum Ausdruck kommt, nimmt gerade diese Stelle der Poetik zum Ausgangspunkt einer umfassenden Diskursivierung von LeidenschaftenLeidenschaften. Die Erinnerung daran geht im kulturellen Gedächtnis sukzessive verloren. Auch BernaysBernays, Jacob steht, wie jede andere Auslegung der Katharsis, in einer langen Tradition, die sich auf antike und neuzeitliche Quellen mit Fug und Recht berufen kann.40 Bei AristotelesAristoteles selbst sind – je nach Lesart – beide Deutungen als medizinische oder als ethische Reinigung angelegt. Der wohl prominenteste Vertreter einer ethischen Deutung der Katharsis und Verfechter des Genitivus objectivus ist LessingLessing, Gotthold Ephraim. Die Verfechter einer medizinisch-psychotherapeutischen Deutung der Katharsis berufen sich vornehmlich auf Textstellen aus dem achten Buch der PolitikPolitik des AristotelesAristoteles, wo die kathartische WirkungWirkung von Musik beschrieben wird, die Verfechter einer ethischen oder moralischen Deutung hingegen auf seine Nikomachische EthikNikomachische Ethik.41 Lessing selbst hat in seiner Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) im fünften Aufzug, fünfter Auftritt auf das Problem der Externalisierung dessen, was dem aufgeklärten Menschen Angst macht, hingewiesen: „Wie schlau weiß sich der Mensch zu trennen, und aus seinen Leidenschaften einPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) von sich unterschiedenes Wesen zu machen, dem er alles zur Last legen könne, was er bey kaltem Blute selbst nicht billiget“42. Und dem bürgerlichenbürgerlich Subjekt machten die schwer zähmbaren, menschlichen LeidenschaftenLeidenschaften Angst. Die WirkungWirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und ohne Schauspieler zustande (vgl. Poetik 1450 b 18f.). Selbst das bloße Hören einer Tragödie, ohne die Aufführung sehen zu können, erzeugt den kathartischen Effekt (vgl. Poetik 1453 b 5f.). Das führt unweigerlich zu der zentralen Frage, welche Rolle das LesenLesen einer Tragödie einnimmt. AristotelesAristoteles spricht in Poetik 1462 a 12 von der „bloßen Lektüre“43 einer Tragödie. Danach erziele die Tragödie „auch ohne bewegte Darstellung“44 ihre Wirkung, vergleichbar der Epik, im Übrigen würden auch Tänzerinnen und Tänzer eine KatharsisKatharsis erfahren, da sie Handlung nachahmten.45 Bereits die bloße Lektüre zeige, von welcher Beschaffenheit eine Tragödie sei und damit welche Wirkungsmöglichkeiten sie habe. Es ist hier nicht der Ort, darüber zu entscheiden, ob das entsprechende griechische Wort (vgl. Poetik 1462 a 12) mit bloßer Lektüre korrekt übersetzt ist. Entscheidend ist, dass die Tragödie in allen drei ästhetischen Erfahrungsmodi von LiteraturLiteratur, nämlich dem Sehen, Hören und Lesen, ihre kathartische Wirkung entfaltet. Dieser Gedanke wird auf das kulturgeschichtlicheKulturgeschichte Modell von POIKAIPOIKAI übertragen.

      Der Katharsis-Stelle in der Poetik geht unmittelbar ein weiterer, kulturgeschichtlich gesehen problematischer Begriff voraus, wenn Aristoteles die Tragödie als Nachahmung (MimesisMimesis) von Handlung erklärt. Mit dem Mimesis-Begriff ist das Hoia an genoito verknüpft. Hier liegt der Ursprung des Modalitätenproblems in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. In Poetik 1451 a 37 spricht Aristoteles von der Aufgabe der Dichtung, die nicht das zu schildern habe, was ist, sondern das, was sein könnte („hoῑa àn génoito“). Das Verständnis von Mimesis ist in der WirkungsgeschichteWirkungsgeschichte des Begriffs mit der Diskursgeschichte des Möglichkeitsbegriffs verknüpft. In der bedenkenlosen Übersetzungs- und RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte des Begriffs wurde MimesisMimesis mit Nachahmung wiedergegeben, und die Modalkategorie der Möglichkeit wurde diskreditiert, indem sie in das Reich der Dichtung verbannt und schließlich durch den vermeintlich aussagekräftigeren Begriff der FiktionFiktion ersetzt wurde.46 Man kann durchaus von einer Geschichte des Mimesis-Desasters in Poetik und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft sprechenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles), das auf seine Weise aber wieder produktiv und kreativ gewirkt hat. Die Bestimmung der Kunst als Gestaltung wird nicht vom Mimesis-Begriff her gewonnen, und Mimesis bedeutet keineswegs irgendeine Art von „Reproduktion der Wirklichkeit“47. Robert MusilMusil, Robert aktualisierte das Modalitätenproblem aus der aristotelischenAristoteles Poetik, was auch weiterführend als Chance zur Neubelebung der Diskussion modaltheoretischer Probleme in der Literaturwissenschaft insgesamt gesehen werden kann. Schon HorazHoraz nennt den guten Dichter einen „doctum imitatorem“48, einen kundigen Nachahmer. Das ist eine Bestimmung, die, obwohl sie bis heute gebräuchlich geblieben ist, mit dem aristotelischen MimesisMimesis-Begriff nur schwer in Einklang zu bringen ist. Die Wiedergabe von dessen Mimesis-Begriff mit Nachahmung ist inadäquat und führt notwendigerweise zu Fehldeutungen.49 Die altphilologische Forschung konnte zeigen, „daß mίmēsis ‚Nachahmung‘ bedeuten kann, daß das Wort aber im übrigen ein ganz anderes Bedeutungsfeld besitzt als die Ausdrücke ‚Nachahmung‘, ‚imitatio‘. Sein Bedeutungszentrum liegt im Tanz“50. Das Verb zu mίmēsis heißt mimeῑsthai und ist ein ausdruckstheoretischer Begriff mit der „Grundbedeutung ‚tänzerische Darstellung‘ […]. Nur von diesem Ausgangspunkt her ist die Aufspaltung der Bedeutungen in ‚nachahmen‘ und ‚darstellen‘ sprachlich einwandfrei, nicht aber, wenn wir ‚nachahmen‘ zum Ausgangspunkt nehmen“51. Der MimesisMimesis-Begriff der aristotelischenAristoteles Poetik orientiert sich „in aktiver Auseinandersetzung“ an dem alten Mimesis-Begriff, „der seinerseits von der


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