Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Sinn. Aus der Sicht der bisherigen hermeneutischen Textverstehensverfahren wird versucht, den eigentlichen Sinn des figürlichen Sinns zu decodieren. Derrida setzt dem eine radikal andere Sicht entgegen. Der eigentliche Sinn „müßte als die Metaphorizität selbst bestimmt werden“152. Somit wäre der eigentliche Sinn ebenfalls ein figürlicher Sinn und in der Summe gäbe es lediglich diesen einen, figürlichen Sinn eines TextesText, da der eine, figürliche SinnSinn, der ursprünglich der eigentliche Sinn war, nicht mehr vom anderen, figürlichen Sinn getrennt werden kann. Das Problem von DerridasDerrida, Jacques Ansatz liegt darin, dass er sein Kunstverständnis auf literale Zeichen stützt. Nicht-sprachliche und nicht-schriftliche Zeichen werden nicht berücksichtigt. Sein Arbeitsvorhaben umschreibt er mit dem Willen, „die Dekonstruktion der größten Totalität – den Begriff der episteme und die logozentrische Metaphysik – in Angriff zu nehmen. In ihr sind, ohne daß die radikale Frage nach der Schrift je gestellt worden wäre, alle abendländischen Methoden der Analyse, der Auslegung, der Lektüre und der Interpretation entstanden“153. Das Signifikat sei „ursprünglich und wesensmäßig“154 Spur und befinde sich seit jeher in der Position des Signifikanten. Ist diese Kampfansage an die logozentrische, abendländische Metaphysik aber nicht auch schon ein metaphysischer, logozentrischer Akt, der das voraussetzt, was er zum Gegenstand seiner Dekonstruktion erhebt? Ausgehend von einer intensiven Rousseau-Lektüre kommt Derrida zu dem Schluss, „ein Text-Äußeres gibt es nicht“155. Eine extrinsische Wirklichkeit – Derrida führt das am Beispiel von RousseausRousseau, Jean-Jacques Begriff der wirklichen Mutter aus – gibt es nicht, sondern Sinn und Sprache offenbaren die Schrift „als das Verschwinden der natürlichen Präsenz“156, das Verschwinden dessen, was die Wörter wirklich bedeuten. Derrida betont explizit, dass er es für unmöglich hält, durch eine Interpretation oder einen Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen, denn so würde die Schrift durch die Lektüre-Schrift zerstört.157 Die LiteraturLiteratur habe sich aber immer dieser „transzendenten Lektüre“158, die die Erforschbarkeit des gerade infrage gestellten Signifikats darstelle, gewidmet. Derrida zitiert einen Aphorismus von Edmond JabèsJabès, Edmond: „Der Garten ist Worte; die Wüste Schrift. In jedem Sandkorn ein überraschendes Zeichen“159. Vielleicht hat Martin WalserWalser, Martin recht, wenn er meint: „Wir sind alle immer mit der Sinnlieferung beschäftigt […]. Die ganze Welt ein Sinnlieferungsgetobe […]. Die Welt will alles sein, aber nicht sinnlos.“160 Wir müssen den Signifikanzen eines TextesText nicht folgen, aber wir sollten sie zum Anlass nehmen, über die Bewahrung dieses Textimpulses nachzudenken.

      Eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT muss eine versuchsweise Klärung des Symbolbegriffs herbeiführen, und damit ist auch eine Reflexion des Begriffs der Allegorie notwendig, da beide Begriffe begriffsgeschichtlich gesehen zusammengehören. Die AllegorieAllegorie wurde treffend als „Agentur des Doppelsinns“161 bezeichnet. Man kann es auch so formulieren, die Allegorie folgt einer Poetik, einer Festlegung der BedeutungenBedeutung. Das SymbolSymbol hingegen ist offen, festlegungsoffen, es repräsentiert BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit, und es geht dabei nicht um eine Theorie des Symbols, sondern um symbolische Deutungsymbolische Deutung, also eine DeutungDeutung, die sich unablässig der Bedeutungsoffenheit des TextesText versichert. Während die Allegorie festgelegt ist auf definierte bzw. kulturell codierte Deutungsperspektiven und somit objektverhaftet ist, kennzeichnet die Bedeutungsoffenheit gerade die Inkongruenz von Ausdruck und Bedeutung, sie ist subjektverhaftet. In Darstellungen zur Geschichte des Allegoriebegriffs wird regelmäßig auf Walter BenjaminsBenjamin, Walter Allegorieverständnis verwiesen.162 Dabei ist seine Festlegung entscheidend: „Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten“163. Diese Offenheit für die Bedeutungsoffenheit ist Grundvoraussetzung, um die Geschichte der Allegorie und auch der Allegorese verstehen zu können. Benjamin spricht von den „Requisiten des Bedeutens“164, Allegorie sei sowohl Konvention als auch Ausdruck. Doch jenseits der historischen Ableitung sind Benjamins Ausführungen über die Allegorie für eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, die sich mit einer symbolischen Deutbarkeit von Texten befasst, nicht zielführend. Theagenes von RhegionTheagenes von Rhegion schrieb gegen Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts ein Buch über HomerHomer, worin er Homer gegen Missdeutungen verteidigte, indem er die Allegorese zur Anwendung brachte.165 Die antikeAntike Begriffsbestimmung von AllegorieAllegorie stammt von HeraklitHeraklit, der knapp und präzise in seinen Quaestiones HomericaeQuaestiones Homericae aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert erklärt: „Eine Wendung, die zwar eine Sache benennt, aber auf eine andere Sache verweist als sie sagt, wird dem Begriff entsprechend Allegorie genannt“TertullianOrigenesPaulus166. Über die diversen Lehren der differenten Schriftsinne, die von der dogmatischen Prämisse einer kanonisierten Wahrheit ausgehen, kann man resümieren: „Da der zu eruierende SinnSinn verborgen, verschlüsselt, geheim sein soll, wohnt allen Interpretationspraktiken diesen Typs zudem eine fragwürdige Tendenz zum Elitismus inne. […] Bekanntlich sind derlei Elitismen zu ständigen Begleitern der Geschichte der Interpretationspraxis und der Hermeneutik geworden“167.

      Der Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla BalázsBalázs, Béla (1884–1949) veröffentlichte 1924 das für die FilmästhetikFilm des frühen 20. Jahrhunderts wegweisende Buch Der sichtbare MenschDer sichtbare Mensch. Er selbst meint mit Blick auf sein Werk, das er eine Kunstphilosophie des Films nennt,

      „ich weiß, daß die Theorie gar nicht grau ist, sondern für jede Kunst die weiten Perspektiven der Freiheit bedeutet. Sie ist die Landkarte für den Wanderer der Kunst, die alle Wege und Möglichkeiten zeigt, und was zwingende Notwendigkeit zu sein schien, als einen zufälligen Weg unter hundert anderen entlarvt. Die Theorie ist es, die den Mut zu Kolumbusfahrten gibt und jeden Schritt zu einem Akt freier Wahl macht“168.

      Die Theorie verleihe den Dingen erst ihre Würde, eine Würde der Bedeutsamkeit und „Träger eines SinnsSinn“169. Sinngebung sei nicht eine rezeptive Haltung der Wissenschaft und damit Merkmal der ästhetischen Erfahrungästhetische Erfahrung, sondern sie sei „Selbstwehr gegen das Chaos“170. Und diese Selbstwehr gehe vom Künstler aus. Die Sinngebung als Merkmal einer produktionsästhetischenProduktionsästhetik Haltung erfolgt also durch den Künstler bzw. Autor, so lässt sich dies präzisieren. BalázsBalázs, Béla reklamiert das junge Medium des FilmsFilm für eine allgemeine KulturgeschichteKulturgeschichte. Man dürfe keine Kulturgeschichte mehr schreiben, „ohne ein großes Kapitel dem Film zu widmen“171. An die Regisseure „und alle anderen Freunde vom Fach“ gewandt, sagt er: „Ihr schafft den Sinn, ihr braucht ihn nicht zu verstehen“.172 Regie, Inszenierung, Dramaturgie etc. haben demnach dieselben produktionsästhetischen Weihen erfahren wie die Künstler selbst. Im Kapitel Der sichtbare Mensch schreibt Balázs: „Das Wort hat den Stein […] zerbrochen“; so sei aus „dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen KulturKultur eine begriffliche“ geworden.173 Das Wort habe seit der Erfindung des BuchdrucksBuchdruck als mediale „Hauptbrücke“174 in der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch gedient. Wenn wir also, um das Wort von LacanLacan, Jacques aufzunehmen, als das Geschäft der Philologie annehmen, es sei das Steine Klopfen, dann bedeutet das in der Lesart von Balázs, dass nicht wir es sind, die Steine zerbrechen, sondern unsere Worte dies tun. Regisseure und Schauspieler begreift Balázs folgerichtig als „Interpreten eines Textes“175. Im Film habe alles eine „symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung“ – eine Ähnlichkeit mit Erich AuerbachsAuerbach, Erich Begriff der „symbolische[n] Ausdeutung“176 ist nicht gegeben –: „Man könnte einfach ‚Bedeutung‘ sagen. Denn ‚symbolisch‘ heißt ja soviel wie Bedeutung haben, über seinen eigenen SinnSinn hinaus noch einen weiteren Sinn meinen. Das Entscheidende dabei für den Film ist, daß alle Dinge, ohne Ausnahme, notwendigerweise symbolisch sind“177. Alles mache auf uns einen „physiognomischen Eindruck“178, und dieses Physiognomische hafte jeder Erscheinung an. Es sei eine notwendige Kategorie der WahrnehmungWahrnehmung. Anders gesagt wird auf diese Weise das Symbolische zu einer zentralen Bestimmung des rezeptiven Akts. Ästhetische Erfahrungästhetische Erfahrung, so ließe sich verallgemeinern, ist das Medium, Symbolisches zu schaffen. Das SymbolSymbol eignet nicht als Definitionsmerkmal den Objekten selbst, sondern wird zu einer ausschließlichen Bestimmung des deutenden Subjekts. BalázsBalázs, Béla unterläuft allerdings gleich darauf diese begriffliche Bestimmung und semiontologische Reflexion, wenn er festhält, dass die Dinge ihre eigene WirklichkeitWirklichkeit


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