Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui
bis zur heutigen Medienkonkurrenz, und sie dürfte durchaus sowohl einen retrospektiv-historischen als auch einen prognostischen Anspruch erheben. Jacob Burckhardt hatte die Frage ‚Was ist Kulturgeschichte?‘ noch definitorisch beantwortet: „Die Kulturgeschichte ist die Geschichte der Welt in ihren Zuständen“82. Eine Kulturgeschichte der Literatur dagegen ist nicht Ereignisgeschichte, sondern Prozessgeschichte. Darin kann sie sich von herkömmlichen LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte unterscheiden. Sie rekonstruiert nicht Literaturgeschichte, sondern fragt nach der BedeutungBedeutung und FunktionFunktion der LiteraturLiteratur im kulturellen Prozess. Darin liegt ihr spezifisches Erkenntnisinteresse.83 Eine kulturwissenschaftliche LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft arbeitet mit am großen unabschließbaren Projekt einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur. Dass eine „brauchbare Literaturgeschichte“ aber nicht nur transdisziplinär arbeiten muss, sondern auch „kulturenübergreifend“ sein soll,84 wie Stephen GreenblattGreenblatt, Stephen meint, ist eine offensichtliche Überforderung. Greenblatts Begriff von LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ist allerdings auch einem eingeschränkten Verständnis verpflichtet, wenn er schreibt: „In der Literaturgeschichte geht es immer um die Beziehungen zwischen den Bedingungen, die das literarische Werk für diejenigen, die es schufen, möglich machten, und den Bedingungen, dies es für uns selbst möglich machen. Insofern ist Literaturgeschichte immer die Geschichte der Möglichkeit von Literatur“85.
Natur metaphorisch als BuchBuch zu lesen ist uns lange geläufig. Nun aber wird dieser Blick umgekehrt, nicht die Natur erscheint als ein Text, sondern das, was der Fall ist, die KulturKultur. Das ist der Blick der ModerneModerne, diesen Blick verstehen zu lernen ist eine genuine kulturwissenschaftliche Aufgabe der Literaturwissenschaft. Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich schreibt im 22. Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment, Projekte seien „Fragmente aus der Zukunft“86. Und um mehr kann es in diesem Buch nicht gehen. Die Literaturwissenschaft ist kein abseits gelegenes, verwunschenes Schloss mehr, sondern eine Metropole, die durch eine Kartografierung nichts von ihrem Charme verliert. Was wir benötigen ist eine Kultur der Wege, welche die geheimnisvollen Seitenpfade, die unerforschten Wege, die Wildnis ebenso mit einschließt, wie die bequem gangbaren, die den Warenverkehr und den Austausch intellektueller Güter fördernden Hauptwege. Eine Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, eine Kulturgeschichte der Literatur appelliert an ein neues Verständnis von Literaturwissenschaft, das sich der PhilologiePhilologie zwar bedient, sich aber nicht darin erschöpft; sie plädiert für eine LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, die nicht vergisst, weshalb sie auf den Wegen zur KulturKultur unterwegs ist, dass Ausgangs- und Endpunkt je die LiteraturLiteratur ist.
Zur Geschichte einer Kulturgeschichte der Literatur
Der Begriff KulturKultur wird längst inflationär gebraucht, ein verbindliches Verständnis darüber, was Kultur ist, gibt es aber nicht. Das betrifft sowohl die Alltagssprache als auch die Fachsprachen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Damit geht auch eine Inflationierung des Begriffs der Kulturwissenschaft einher. Wird schon kulturell gehandelt, wenn von Kultur bloß geredet wird? Ist das Beliefern von Social Medias mit Informationen bereits Ergebnis einer speziellen KulturtechnikKulturtechnik? Im ökonomischen Sektor sind Begriffe wie Unternehmenskultur, Kundenorientierungskultur, Problemlösungskultur, Teamarbeitskultur, Neugierkultur, Lernkultur, Digitalkultur usw. gang und gäbe. Dass es dabei meist nur um die Relevanz des Humankapitals und der unzureichenden Ausschöpfung des Erfolgspotenzials geht, ist offensichtlich. In anderen Kontexten sprechen wir von Buchkultur und Lachkultur, von der Laufkultur bei Fahrzeugen und dem Verlust der Briefkultur im E-Mail-Zeitalter. Wir nennen Freizeitkultur ebenso wie Industriekultur, und der Begriff Kulturindustrie ist längst in der Alltagssprache angekommen.1 Von Schreibkultur, gar von Rechtschreibkultur wird meist nur noch im bedauernden Rückblick gesprochen. Internetkultur und Social Media-Kultur sind Bestandteil unserer digitalen Prägung geworden. Droht uns wirklich, wie ein Medienphilosoph meinte, der Befund, „Kultur ist ein Spiel auf der Tastatur des Gehirns“, und die Medientheorie sei die „Grundwissenschaft der zukünftigen Kultur“?2 Kultur scheint jedenfalls mehr zu sein als nur „das vermittelte Abbild dessen, der sie hervorbringt: des Menschen“3.
Ist Kultur ein Verhalten oder ein Handeln? Psychoanalytisch gesehen bedeutet die Aneignung von Kultur die Produktion von Subjektivität. FreudFreud, Sigmund stellte fest, „daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht“4, die KulturKultur müsse gegen den Einzelnen verteidigt werden. Wie ist die Entwicklung des Menschen zum Kulturträger zu verstehen? Welche Bedeutung haben LesenLesen und SchreibenSchreiben als kulturelle Praktikenkulturelle Praktik? Ist es legitim, GrimmelshausenGrimmelshausen, Hans Jakob Christoffel vons SimplicissimusSimplicissimus (1668) als Beispiel einer individuellen Enkulturation im 17. Jahrhundert zu begreifen? Schon OpitzOpitz, Martin hatte in seinem Buch von der Deutschen PoetereyBuch von der Deutschen Poeterey (1624) betont, dass die wahre Kultürlichkeit des Menschen, das, was ihn in Abhebung vom Tier zum Menschen mache, die Poesie sei. Die Anmut der schönen Gedichte leite die einfältigen Leute zu aller TugendTugend und gutem Wandel an, die „bäwrischen vnd fast viehischen Menschen [würden] zue einem höfflichern vnd bessern leben angewiesen“5. Damit stellt sich also die Frage, welche Rolle überhaupt Literatur bei der Enkulturation wie bei der Darstellung kulturgeschichtlicherKulturgeschichte Sachverhalte spielt? Wie weit muss der Theorierahmen gespannt werden, bevor die konkrete Textarbeit aufgenommen werden kann? Brauchen wir eine LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte in der Kulturgeschichte in der Zivilisationsgeschichte, um diese Fragen, wenn schon nicht beantworten, so doch wenigstens zuverlässig und seriös diskutieren zu können?6 Auch der Versuch, für die Ablösung des Kulturbegriffs durch den Plural Kulturen als Untersuchungseinheiten zu plädieren, statt von einer Kultur also eher von vielen Kulturen zu sprechen, löst das Problem mit der Kultur nicht, sondern verschiebt es lediglich auf die Ebene einer pluralen Semantik.7 Anders verhält es sich, wenn durch Erkenntnisverknüpfungen eine Erweiterung oder gar Veränderung des Frage- und des Gegenstandsbereichs gemeint ist. Andere Fragen und neue Perspektiven könnten nun eingebracht werden.
Die Debatte darüber, was Kultur ist und welche Wissenschaft ermächtigt ist, sich um das zu kümmern, was als Kultur verstanden wird, ist nicht neu. Geradezu zyklisch scheint sie mit den Jahrhundertenden zusammenzufallen. So können wir in den Jahrzehnten vor und nach 1900 eine intensive Diskussion über den Gegenstand KulturKultur im Rahmen der Konsolidierung von Volkskunde als einer wissenschaftlichen Disziplin verfolgen. Vor allem die Germanisten taten sich schwer, hier Kompetenzen abzutreten. 1890 gründete der Germanist und Volkskundler Karl WeinholdWeinhold, Karl den ersten Verein für Volkskunde in Berlin, 1891 erschien bereits dessen Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Die Gründung der Zeitschrift für österreichische Volkskunde folgte 1895, 1897 erschien das Schweizerische Archiv für Volkskunde. 1919 wurden die ersten Lehrstühle für Volkskunde an den Universitäten in Prag und Hamburg eingerichtet. Die wissenschaftshistorisch durchaus verständliche strikte Ablehnung und die stillen Vorbehalte der älteren Wissenschaftlergeneration gegen das Fach Volkskunde dürften heute die Ausnahme sein. Leo LöwenthalsLöwenthal, Leo (1900–1993) Entsetzen beispielsweise über den Versuch, einen Dialog zwischen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und Kulturwissenschaft bzw. Volkskunde wieder zu beginnen und ihn zur Mitarbeit an diesem Dialog zu bewegen, entlud sich in dem Ausruf: „Volkskunde, das ist ja schrecklich!“8 Immerhin war Löwenthal neben AdornoAdorno, Theodor W., HorkheimerHorkheimer, Max und BenjaminBenjamin, Walter ein Gründungsvater der Frankfurter Schule.
Wie selektiv, meist deutschnationalen Interessen unterworfen, Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried als Begründer einer Wissenschaft von der Kultur und den Kulturen in den vergangenen 200 Jahren in Anspruch genommen wurde, erhellt sich erst durch neuere Forschungen. Von germanistischer Seite ist dieses Kapitel inzwischen wissenschaftsgeschichtlich aufgearbeitet, doch bleibt HerderHerder, Johann Gottfried auch hier nach wie vor ein ominöser Referenzrahmen, dem jene Autorität zugesprochen wird, die man dem eigenen Forschungsgegenstand oder dem eigenen Wissenschaftsstandpunkt nicht zutraut. Auch vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, dass in den 1990er-Jahren zur „Revision und Konsolidierung“9 des Fachs Germanistik aufgerufen wurde, das eine Renaissance der Kulturdebatte erlebt hat. Man kann sowohl einen Kulturwandel in den vergangenen Jahrzehnten feststellen als auch den Wandel des Kulturbegriffs beobachten.10 Dabei geht es