Harzkinder. Roland Lange

Harzkinder - Roland Lange


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in die Regalgänge, bog in einen der Gänge ab, rempelte Kunden an, die ihr im Weg standen, drückte sich mit einer flüchtigen Entschuldigung an ihnen vorbei. Den Mann mit den blauen Augen konnte sie nirgends entdecken.

      Dann sah sie ihn doch. Vorn an einer der Kassen. Hinter ihm hatte sich eine beträchtliche Schlange gebildet, sodass sie ihn erst bemerkte, als er sich zur Kassiererin vorbeugte und mit ihr sprach. Er nahm etwas in Empfang, vermutlich Wechselgeld, und steuerte mit einem kleinen Stoffbeutel in der Hand auf den Ausgang zu.

      Hanka wollte ihm hinterherrufen, seinen Namen – Sascha, ihn zum Warten bewegen. Im letzten Moment begriff sie, wie aussichtslos das war. Stattdessen ließ sie ihren Einkaufswagen einfach stehen, hetzte zur Kasse und drängelte sich, ohne Rücksicht zu nehmen, an den Kunden in der Schlange vorbei. Die verärgerten Proteste überhörte sie. Es interessierte sie nicht, was die Leute ihr zuriefen. Sie musste dem Mann hinterher, ihn aufhalten, mit ihm sprechen!

      Vor dem Eingang stoppte sie ab, sah sich suchend um, ließ ihre Augen über den Parkplatz gleiten. Weg! Er war weg! Sie konnte ihn nirgends entdecken. Hinten links stieß ein klappriger silbergrauer Kastenwagen rückwärts aus der Reihe der parkenden Autos, der Vorwärtsgang wurde eingelegt und der Wagen rollte auf sie zu. Langsam fuhr er an ihr vorbei. Die tief stehende Sonne blendete sie und so erkannte sie die Person hinter dem Steuer erst im letzten Moment. Es war der Mann!

      „Halt! Stopp!“, rief sie dem Kastenwagen hinterher, hob die Arme, winkte verzweifelt. Zwecklos. Der Fahrer machte keine Anstalten zu bremsen oder gar zu halten. Vielleicht hatte er sie nicht gesehen oder er wollte sich nicht von ihr aufhalten lassen. Der Wagen verließ den Parkplatz, bog in die Straße ein, beschleunigte und war wenige Sekunden später aus ihrem Blickfeld verschwunden.

      Hanka senkte den Kopf, drehte sich um und schlich enttäuscht in den Markt zurück. Nein, es war vermutlich eines ihrer Hirngespinste gewesen, gestand sie sich ein. Wieder einmal. Und dennoch – bei allem, was dagegen sprach, so eine starke innere Gewissheit hatte sie noch nie gehabt, in all den Jahren nicht, in denen sie nach Sascha suchte. Oder hatten diejenigen doch recht, die ihr eine massive psychische Instabilität bescheinigten und sie am liebsten aus dem Verkehr ziehen würden? Diejenigen, die ihr klarzumachen versuchten, dass sie mit ihrer Pene­tranz und ihrem neurotischen Verhalten eine Zumutung für ihre Mitmenschen war? Wurde sie langsam tatsächlich verrückt?

      2. Kapitel

      Hanka erreichte unversehrt ihr Zuhause, was an ein kleines Wunder grenzte. Hätte sie an Gott geglaubt, wäre sie ihm ein Dankeschön schuldig gewesen dafür, dass seine Engel sie auf der Rückfahrt von Elbingerode bis vor ihre Haustür in Königslutter vor einem Unfall bewahrt hatten.

      Etwa anderthalb Stunden waren vergangen, seit sie in den Edeka-Markt zurückgelaufen war, zu ihrem Einkaufswagen, der immer noch dort stand, wo sie ihn hatte stehen lassen. Sie hatte den Wagen zur Kasse geschoben, sich in die Schlange der Kunden eingereiht und vom zähen Strom mitziehen lassen. Wie paralysiert war sie gewesen, der Kopf wie leer gefegt, zu keinem klaren Gedanken fähig. Sie hatte die Frau an der Kasse nach dem Mann mit dem fehlenden Finger gefragt, hatte wissen wollen, ob sie ihn kenne, ihr hastig zu erklären versucht, dass es sich möglicherweise um ihren vermissten Sohn handele. Doch die Kassiererin hatte nur mit halbem Ohr zugehört, dabei stoisch die Waren über den Scanner gezogen und ihr bei der Herausgabe des Wechselgeldes mit knappen Worten zu verstehen gegeben, dass sie keine Ahnung habe, wer der Mann gewesen sei. Dann hatte sie sich auch schon der nachfolgenden Kundin zugewandt gehabt.

      Hanka war in ihr Auto gestiegen und mit ihr der Mann aus dem Markt. Sein Bild war ihr einfach nicht aus dem Kopf gegangen, hatte Erinnerungen in ihr wachgerufen, sie in einen Strudel sich widersprechender Gefühle hineingezogen, gepaart mit unangenehmen körperlichen Missempfindungen. Sie hätte irgendwo anhalten und ihre Fahrt unterbrechen müssen, bis Herzrasen, Atemnot und das heftige Zittern abgeklungen gewesen wären. Stattdessen war sie weitergefahren. Streckenweise wie im Blindflug hatte sie einige brenzlige Situationen heraufbeschworen und war jedes Mal nur knapp einer Kollision entgangen.

      Umständlich fummelte Hanka den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. Je einen prallvollen Einkaufsbeutel in jeder Hand, trat sie in den düsteren Flur und schloss die Tür hinter sich, indem sie ihr mit dem Hacken des rechten Fußes einen Tritt versetzte.

      „Rudi ...! Hallo, bist du da?“, rief sie. Eine überflüssige Frage, reine Gewohnheit. Ihr Mann verließ seit einiger Zeit kaum mehr das Haus. Seine Knochenschmerzen ließen es nur noch selten zu, dass er sich allein für längere Zeit aus seinem häuslichen Umfeld entfernte.

      Sie stellte die Beutel in der Küche auf dem Tisch ab und ging ins Wohnzimmer. Die Stimmen, die sie bereits leise im Flur vernommen hatte, kamen aus dem Fernseher, gehörten zu den aufgeregt plappernden Personen einer Vorabend-Serie. Rudolf saß in seinem geliebten Fernsehsessel. Einige Haare seines grauen Schopfes ragten wirr über die Rückenlehne hinaus. Mehr war nicht von ihm

      zu sehen. Sie ging hinüber, stellte sich seitlich neben den Sessel.

      „Ich bin wieder zurück“, sagte sie.

      „Hmhm ...“, brummte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden.

      Hanka sah sofort, dass es ihm schlecht ging. Sein Gesicht war grau vor Schmerzen, seine ganze Haltung starr und verkrampft. Sein Blick ging ins Leere. Schwer zu sagen, ob er überhaupt wahrnahm, was sich vor seinen Augen abspielte.

      „Es hat sich gelohnt heute. Ich bin fast alle meine Gläser losgeworden“, versuchte sie, Rudolf für sich zu interessieren. Seine Antwort war ein mürrisches Grunzen, die Augen hielt er weiter geradeaus gerichtet, ohne jede Reaktion.

      „Ich habe Sascha gesehen!“, platzte es aus ihr heraus. Hanka hatte die Neuigkeit für sich behalten, Rudolf nicht damit überfallen wollen angesichts seines Zustandes. Es gelang ihr nicht. „Im Edeka-Markt in Elbingerode!“

      Ihr Mann verharrte in seiner starren Haltung. „Ach ...“, presste er nur hervor.

      Hanka erkannte das plötzliche nervöse Zucken in seinen Mundwinkeln. Es hätte ihr eine Warnung sein müssen. Doch sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie musste darüber reden, um den Druck loszuwerden, der sich in ihr aufgestaut hatte. „Diesmal war er es wirklich. Keine Einbildung. Seine Augen. Diese hellen blauen Augen. Und die Hand, weißt du. Der Finger! Der kleine Finger hat gefehlt! Ich habe das zu spät kapiert, habe ihn nicht aufgehalten! Ich ...“

      „Sei doch mal ruhig, verdammt!“, unterbrach Rudolf sie schroff. „Ich kann nicht verstehen, was die im Fernseher sagen, wenn du dazwischenquatschst.“

      „Hast du nicht verstanden? Ich habe Sascha gesehen! Meinen Sohn!“

      In den scheinbar leblosen Körper kam plötzlich Bewegung. Rudolf stemmte seine Hände auf die Sessellehnen, drückte sich hoch und wandte sich Hanka ächzend und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu. „Mal wieder, ja? Hast deinen Sascha mal wieder gesehen?“ Er legte eine verächtliche Betonung auf das Wort „deinen“ und schnaubte wütend. „Du bist ja verrückt! Wie lange willst du mich eigentlich noch mit deinen Halluzinationen nerven, hä? Das ist doch nicht mehr normal!“

      Hanka ignorierte seine Worte. Zu oft hatte sie schon hören müssen, dass sie verrückt sei und mit ihren Wahnvorstellungen in die Hände von Psychologen gehöre, nicht nur von Rudolf. In der Vergangenheit hatte sie sehr unter derartigen Bezichtigungen gelitten, hatte sich verkrochen und sich manche Nacht die Augen ausgeheult. Mittlerweile gelang es ihr immer besser, mit den Angriffen und Unterstellungen umzugehen, sie an sich abtropfen zu lassen.

      „Glaub es oder nicht! Dieses Mal habe ich mich nicht getäuscht“, beharrte sie. „Eine Mutter spürt es, wenn sie ihrem Sohn gegenübersteht!“

      „Ach? Tut sie das?“

      „Allerdings! Aber davon hast du natürlich keine Ahnung! Du weißt ja nicht, wie das ist, eigene Kinder zu haben! Sonst würdest du dich mit mir freuen, dass ich Sascha endlich wiedergefunden habe!“

      „Oh ja, natürlich! Und was ist mit deinem Ex? Dem Erzeuger deines Bengels? Warum hat der dich sitzenlassen? Der hätte dann ja auch überall nach seinem verschollenen Sohn Ausschau halten


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