Harzkinder. Roland Lange
deine Psychomacke nicht mehr ertragen konnte!“ Rudolf schnappte nach Luft, ließ sich stöhnend in seinen Sessel zurücksinken.
Hanka stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Und du? Warum hast du mich überhaupt geheiratet?“ Ihre Stimme bebte. „Du wusstest von Sascha. Du wusstest, dass ich ihn nie aufgeben werde, solange mir keiner seine Leiche bringt. Wenn ich dir so zuwider bin, warum bist du dann immer noch bei mir?“
„Das frage ich mich auch“, brummte Rudolf erschöpft.
„Ich sage dir, warum“, ging Hanka zum Angriff über, „du bist ein Wrack, brauchst meine Fürsorge mit deinem scheiß Rheuma, kommst alleine nicht mehr klar. Du weißt, dass du langsam zum Krüppel wirst. Darum bist du noch bei mir!“ Sie wollte ihn verletzen, es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Das hatte er verdient.
„Halt den Mund, verdammt!“, fauchte er mit letzter Kraft. „Verschwinde! Ich kann dein blödes Geplärre nicht mehr hören!“
Hanka drehte sich um, stapfte wütend aus dem Wohnzimmer, knallte die Tür mit voller Wucht hinter sich zu. In der Küche blieb sie vor dem Tisch stehen, stützte sich auf der Lehne des Stuhls ab, der ihr am nächsten stand. Sie atmete tief durch, starrte auf die vollen Einkaufstüten. Rudolfs Abfuhr tat weh, bereitete ihr körperliche Schmerzen. Sie zog den Stuhl vom Tisch ab, setzte sich, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann kamen die Tränen. Sie ließ ihnen freien Lauf, wehrte sich nicht dagegen. Unter heftigen Zuckungen ihres gekrümmten Oberkörpers flossen ihr ganzes Leid, die Enttäuschungen, die erlittenen Beleidigungen und Demütigungen aus ihr heraus.
Zehn, fünfzehn Minuten mochten vergangen sein, als ihr Tränenstrom versiegte, sie sich aufrichtete, sich schnäuzte, dann aufstand und sich daran machte, ihre Einkäufe hinter Schranktüren und in Schubläden zu verstauen. Ohne nachzudenken, erledigte sie die gewohnten Handgriffe, ließ damit ein klein wenig Normalität zurückkehren. Sie spürte, wie sich ihr Inneres allmählich beruhigte. Die Wut auf Rudolf legte sich. Es waren die Schmerzen. Nur deshalb war er so ekelhaft zu ihr gewesen, rechtfertigte sie sein Verhalten vor sich selbst. Rudolf war kein Tyrann. Im Grunde seines Herzens war er ein gutmütiger, verständiger Mensch. Wäre es anders gewesen, sie hätte ihn nie geheiratet. Aber als irgendwann die Krankheit anfing, veränderte sich sein Wesen. Ganz allmählich. Dieses elende Rheuma!
Die Bilder aus dem Supermarkt verschafften sich wieder Raum und drängten die Auseinandersetzung mit ihrem Mann in den Hintergrund. Sie musste etwas unternehmen, konnte nicht tatenlos bleiben. Die Begegnung dort am Weinregal einfach vergessen? Unmöglich! Dieses Mal war es etwas anderes. Sie hatte Sascha gesehen! Leibhaftig hatte er vor ihr gestanden, war nicht mehr nur das Phantom gewesen, dem sie nachjagte.
Was immer sie bisher unternommen hatte, ihren Sohn wiederzufinden – und es gab kaum etwas, das sie unversucht gelassen hatte – es war ohne Erfolg geblieben. Nicht den geringsten konkreten Anhaltspunkt hatte es gegeben, dass er noch lebte. Die Zahl derer, die mit ihr geglaubt, geträumt und gebangt hatten, war stetig geschrumpft, bis ihr irgendwann niemand mehr hatte Beistand leisten und Mut machen wollen. Wie oft war sie nahe daran gewesen, aufzugeben, den Stimmen Glauben zu schenken, die ihr einflüstern wollten, dass es keinen Sinn habe, sich an ein Hirngespinst zu klammern. Doch sie war standhaft geblieben, aller Schwarzmalerei und Widerstände zum Trotz. Dafür war sie jetzt belohnt worden. Für ihr unbeirrtes Festhalten an einem Strohhalm.
Er war es gewesen! Sascha, ihr Sohn! Sie spürte eine Gewissheit in sich, die sich durch nichts würde ins Wanken bringen lassen. Himmel und Hölle würde sie in Bewegung setzen, den Mann aufzuspüren, den sie im Supermarkt noch hatte entwischen lassen. Weil die Überraschung zu groß gewesen war und sie gelähmt hatte.
Sie verließ die Küche, ging energischen Schrittes durch den Flur, verließ das Haus. Das Auto musste noch in die Garage gefahren, die leeren Kisten aus dem Laderaum in den Schuppen getragen werden.
Während sie mechanisch die gewohnten Arbeiten erledigte, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Diejenigen, denen sie schon in der Vergangenheit die Türen eingerannt hatte, brauchte sie nicht mehr um Hilfe bitten. Zu vielen war sie auf die Nerven gegangen, ohne dass etwas Zählbares dabei herausgekommen wäre.
Welche Mittel und Wege blieben ihr also? Wieder zur Polizei gehen, die missbilligenden Blicke der Beamten ignorieren, ihre ablehnende Haltung aufbrechen und sie dafür gewinnen, nach dem Mann aus dem Supermarkt zu suchen? Sinnlos! Niemand von denen würde noch einen Finger für sie krumm machen.
Die letzten Kisten waren verstaut, als sie sich plötzlich wieder an ein Gespräch erinnerte, das schon ein paar Jahre zurücklag. Kerstin, ihre Tochter, hatte damals ebenfalls noch daran geglaubt, ihren Bruder Sascha eines Tages lebend wiederzusehen. Sie hatte irgendeinen Privatdetektiv erwähnt, den man möglicherweise mit der Suche nach dem Vermissten beauftragen könne. Ein Vorschlag, den sie, Hanka, jedoch abgelehnt hatte. So ein Privatdetektiv kostete viel Geld – Geld, das sie damals nicht hatte ausgeben wollen.
Heute war es ihr egal. Und wenn sie den letzten Cent in die Suche nach Sascha investieren musste, sie würde es tun.
Es behagte ihr nicht, sich an Kerstin zu wenden. Ganz und gar nicht! Ihre Tochter hatte sich längst denen angeschlossen, die vom Tod ihres Bruders überzeugt waren. Darüber war es seinerzeit zwischen ihnen beiden zum Bruch gekommen und sie hatten nie wieder ein Wort über Sascha verloren. In letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis zum Glück ein wenig zu normalisieren begonnen. Da war es vielleicht nicht sonderlich klug, Kerstin wieder mit den alten Geschichten zu konfrontieren. Und doch sah sie keine andere Möglichkeit. Sie musste es wagen!
3. Kapitel
Knapp zehn Minuten mit der S-Bahn hatte Hanka vom Hauptbahnhof gebraucht, um zu der Adresse zu gelangen, die Kerstin ihr nach einer fruchtlosen und anfangs ziemlich lautstarken Diskussion schließlich gegeben hatte.
Hier, in diesem Haus in der Scheidestraße, sollte der Mann seine Detektei betreiben? Aber wo, bitteschön? Sie starrte auf das Schaufenster, das vollgestopft war mit gebrauchten elektrischen Apparaten aller Art, angefangen von Rasierern über diverse Haarföhne, Bügeleisen, Toaster und Handmixer bis hin zu Kofferradios, CD-Spielern und Uralt-PCs. Auch verschiedene Steinzeit-Handys lagen ganz vorn in der Auslage aufgereiht.
„Elektrogeräte aller Art“ stand in großen, geschwungenen Buchstaben auf dem Schild über dem Schaufenster, und etwas kleiner darunter „Reparaturen, An- und Verkauf“. Das Schild, dessen scharfer Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund sich über die Jahre unter einer schmierigen Schicht aus Straßenschmutz verkrochen hatte, sah ebenso heruntergekommen aus wie die gesamte Fassade in ihrem tristen Grau und mit den Graffiti-Kritzeleien. Links, direkt neben der Ladentür endete die Häuserfront. Eine schmale Hofeinfahrt schloss sich an, darauf folgte ein frei stehendes baufälliges Fachwerkhaus. Es war von Buschwerk überwuchert. Ein Bauzaun und Absperrplanken deuteten auf den baldigen Abriss des maroden Gebäudes hin.
Wo bin ich hier nur gelandet?, fragte sich Hanka. Die Gegend machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Irritiert suchend blickte sie den Straßenzug hinunter, an den wenig verlockenden Ladengeschäften entlang, fummelte den Zettel mit der Adresse aus ihrer Tasche, vergewisserte sich noch einmal. Kein Zweifel, die Straße stimmte und die Nummer des Hauses, vor dem sie stand, ebenso. Sie machte ein paar Schritte
zur Seite, sah die nackte Wand am Ende der Hofeinfahrt. Ein Steintritt an der Wand führte zu einer Tür hinauf. Vielleicht dort, dachte sie und ging hinüber. Die Tür war verschlossen. Weder gab es eine Klingel noch eine andere Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Ein Firmenschild, das ihr weiterhalf, war auch nirgends zu sehen.
Zurück an der Straße trat Hanka durch die schmale Glastür in das Elektrogeschäft. Warum noch lange herumsuchen? Sie konnte doch einfach den Ladeninhaber nach der Detektei fragen.
Im Verkaufsraum, einem schmalen Schlauch, roch es muffig. Ein schäbiger Teppichboden über knarrenden Dielen, links Regale bis zur Decke, vollgestopft mit Elektrogeräten der Art wie sie im Schaufenster standen. Rechts der Tresen, dessen abgegriffene Holzplatte schon bessere Tage gesehen hatte. Darauf eine vorsintflutliche Registrierkasse zwischen Elektro-Kleinkram. Die Schubläden an der Wand hinter dem Tresen waren vermutlich voll davon.
Hanka